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Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.



Kostbare Momente
Teil 7

von Miss Bit




Das kleine Hotelzimmer war spartanisch eingerichtet. Außer dem Bett gab es nur noch einen Tisch, einen Stuhl und einen Fernseher. Aber viel mehr brauchte Jarod auch nicht.

Er saß auf dem Bett und starrte unverwandt aus dem Fenster. In einer Stunde würde er endlich seinen Vater wiedersehen. Sie hatten sich als Treffpunkt einen kleinen Ort in Maine ausgesucht, den sie alle bequem erreichen konnte.

Jarod stand auf und schaltete den Fernseher ein, dann machte er sich daran, sein Notebook auszupacken. Im Hintergrund lief eine Nachrichtensendung des lokalen Senders. Er sah auf, als er hörte, wie die Reporterin den Lake Catherine erwähnte. Mit ein paar Schritten war er zurück am Fernseher und machte ihn lauter, den Blick gebannt auf den Bildschirm gerichtet.

Besorgt registrierte er, daß die Reporterin vor dem Ufer des Sees stand, genau an der Stelle, von der ein kleiner Weg zu Bens Haus führte. Eine dunkle Vorahnung erfüllte Jarod, als er der Reporterin zuhörte, während sie langsam zum Haus heraufging. Mehrere Polizeiautos kamen in Sicht, geparkt innerhalb eines großen Bereichs, der mit gelbem Absperrband abgeriegelt worden war.

"Angesichts der unglaublichen Brutalität dieses Verbrechens sehen wir uns leider außerstande, Ihnen Bilder aus dem Inneren des Hauses zu zeigen", erklärte die Reporterin mit ernster Miene. Jarod schluckte.

"Wir haben allerdings einen Augenzeugen, der bereit ist, mit uns zu sprechen", fuhr sie fort. Neben ihr kam jetzt ein Mann ins Bild, der etwa mittleren Alters war und eine Postuniform trug. Er machte ein verschrecktes Gesicht, aber Jarod schätzte, daß das eher an den Kameras lag als an dem, was er gesehen hatte.

"Das hier ist Bill Thomson, seit fünfzehn Jahren Postbeamter in dieser Gegend. Mr. Thomson, Sie sind der Täterin bei ihrer Flucht aus dem Haus begegnet, ist das richtig?"

Jarod runzelte die Stirn. Täterin? Und wann würden sie endlich sagen, was überhaupt passiert war?

"J-ja, das stimmt. Sie hätte mich beinahe über den Haufen gerannt. Irgendwie schien sie total verstört zu sein..."

"Wie hat die Frau ausgesehen, Mr. Thomson?" erkundigte sich die Reporterin hastig, und Jarod hatte das Gefühl, daß ihr die Richtung nicht gefiel, in die Thomsons Beschreibung ging.

"Uhm, sie war ziemlich groß, jung, dunkle Haare, sehr attraktiv. Und sie war ganz blutverschmiert. Sie ist an mir vorbei zu ihrem Auto gerannt, und dann ist sie weggefahren."

"Die Polizei hat bereits ein Phantombild von der betreffenden Person angefertigt. Wenn Sie die Person wiedererkennen, melden Sie sich bitte sofort unter der unten eingeblendeten Nummer."

Jarods Augen weiteten sich, als er das Bild sah. An der Identität dieser Frau konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Miss Parker.

Er atmete tief durch. Was war in Bens Haus passiert?

Die Reporterin kam zurück ins Bild. Bill Thomson stand mit weißem Gesicht neben ihr und zuckte sichtlich zusammen, als sie ihre nächste Frage an ihn stellte.

"Was ist passiert, nachdem die Frau weggefahren war?"

"Ich... ich habe mir Sorgen um Ben... um Mr. Miller gemacht, also bin ich ins Haus gegangen. Dort habe ich... ihn dann gefunden. Großer Gott, es war schrecklich, der arme alte Ben!"

Der Mann bekreuzigte sich. In seinen Augen stand deutliches Entsetzen. Nach ein paar Sekunden zog ihn eine mitleidige Seele endlich aus dem Erfassungsbereich der Kameras. Jarod schloß kurz die Augen. Ben war also tot, ermordet. Trauer und Entsetzen erstickten für einen Moment jede andere Empfindung, doch dann bahnte sich eine Erkenntnis einen Weg in sein Bewußtsein. 'Miss Parker muß ihn gefunden haben...'

"Vielen Dank, Mr. Thomson", sagte die Reporterin. "Die Polizei hat eine Waffe nicht weit entfernt von der Leiche gefunden. Bisher konnte sie noch nicht einwandfrei identifiziert werden, aber unbestätigten Berichten zufolge soll es sich dabei nicht um die Tatwaffe handeln. Die örtlichen Behörden haben bereits eine Großfahndung nach der mutmaßlichen Mörderin eingeleitet. Hinweise aus der Bevölkerung sind an diesem Punkt eine wertvolle Hilfe."

Jemand drückte der Frau einen Zettel in die Hand, den sie kurz überflog, bevor sie wieder aufsah.

"Gerade erreicht mich die Information, daß die Polizei ein Bild vom Tatort veröffentlichen will, um dadurch vielleicht weiteren Aufschluß über den Täter zu gewinnen."

Der Bildschirm wurde kurz dunkel, dann war ein vergrößertes Foto zu sehen.

Jarod keuchte entsetzt. Fassungslos starrte er auf das Foto, auf dem Bens Kamin und die Wand darüber zu erkennen waren. Was er dort sah, ließ seinen Atem stocken. Sein Blut schien auf einmal mehrere Grad kälter durch seine Adern zu fließen. Wie hypnotisiert starrte er auf das Wort, das jemand mit Blut auf die Wand geschrieben hatte.

'Vater?' stand dort in hohen, unregelmäßigen Buchstaben.

*****

"Miss Parker!"

Sie ignorierte Sydneys Ruf, als sie langsam durch den langen Korridor schritt. Das Geräusch ihrer Schritte klang seltsam hohl in ihren Ohren. Es schien leer zu sein - genau wie alles andere. Genau wie sie selbst. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts anderes als Leere in sich entdecken, selbst dann, wenn sie hinter den Zorn und die Wut sah, die sie von ihrem Schmerz abschirmten.

Ihr war klar, daß ihr die Dinge langsam entglitten. Zunächst einmal hatte sie keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Sie wußte nur noch, daß sie in ihrem Auto gesessen hatte, das vor dem Centre geparkt gewesen war, und sich gefühlt hatte, als wäre sie gerade aus einem Traum aufgewacht. Aber was dazwischen und ihrer schrecklichen Entdeckung in Maine passiert war, lag völlig im Dunkeln. Maine...

Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf.

Blut. An ihren Händen. Auf dem Boden. An der Wand vor ihr... direkt vor ihr. Ein einzelnes Wort, das sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Ein Wort, das den Täter verriet...

Mit einem entsetzten Schrei kehrte Miss Parker in die Gegenwart zurück. Sie zitterte am ganzen Körper. Erschöpft lehnte sie sich an eine Wand des Korridors. Ganz egal, wie sehr sie es auch versuchte, sie konnte die Bilder einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen. Wieder und wieder tauchten sie aus den dunklen Tiefen ihrer Erinnerung auf, ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

Wütend stieß sie sich von der Wand ab. Sie hätte niemals hierher kommen sollen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Aber das sie nun ohnehin schon hier war, konnte sie diese Gelegenheit auch nutzen.

Miss Parker lief durch die Korridore, ignorierte die verwunderten Blicke, die sie immer wieder auf sich zog. Sie fühlte nichts, solange es ihr gelang, ihre Erinnerung zu unterdrücken.

Ganz automatisch wählte sie den kürzesten Weg zum Büro ihres Vaters. Hier und jetzt würde sie beenden, was niemals hätte beginnen dürfen.

Die große Doppeltür schwang nach ihrem kräftigen Stoß heftig nach innen. Ihr Vater, der mit dem Rücken zu ihr gestanden hatte, um aus dem Fenster zu sehen, drehte sich zu ihr um, ein mißbilligendes Stirnrunzeln auf dem Gesicht. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, sobald er sie näher ansah. Sie folgte seinem Blick, sah nun zum ersten Mal das Blut auf ihrer Bluse, auf ihren Händen. Bens Blut...

Ein Wort nur, ein einzelnes Wort, für immer mit Schmerz verbunden...

Miss Parker weigerte sich, ihrem Schmerz nachzugeben. Sie schloß die Augen, zwang ihre Erinnerungen zurück. Als sie die Augen wieder öffnete, stand ihr Vater direkt vor ihr. Ihr Vater. Sie zuckte zusammen. Er streckte die Hände nach ihr aus, aber sie schrak vor ihm zurück.

"Faß mich nicht an!"

Ihre Stimme hatte einen ungewohnten, schrillen Klang. Wieder runzelte ihr Vater die Stirn.

"Was ist los, mein Engel? Was sollte dieser Aufruhr in Jarods Zimmer?"

Seine Worte erreichten sie nicht.

"Ich werde gehen", brachte sie mühsam hervor. "Meine Seite unserer Abmachung ist erfüllt. Es war nicht meine Schuld, daß Jarod erneut entkommen konnte. Es war nicht meine Schuld..."

Miss Parkers Stimme zitterte. Sie konnte es nicht. Was sie auch tat, die Erinnerungen kehrten unbarmherzig wieder. Es war, als würde sie versuchen, einen Scherbenhaufen mit bloßen Händen von sich fortzuschieben. Ein unmögliches Unterfangen, das zu nur noch mehr Schmerzen führte.

"Was ist passiert?" fragte Mr. Parker mit einer Schärfe, die mühelos den Nebel aus Schmerz um ihr Bewußtsein durchdrang. Offenbar hatte er erst jetzt erkannt, daß seine Tochter sich in einem schweren Schockzustand befand.

"Er ist tot", erklärte Miss Parker müde. Wieso fragte er sie überhaupt?

Er würde es ja doch nicht verstehen.

Anders als Sydney stellte ihr Vater ihr keine weiteren Fragen. Statt dessen zog er Schlüsse aus dem, was er vor sich sah. Mr. Parker nickte langsam.

"Na schön. Mach dir keine Sorgen. Ich werde das wieder in Ordnung bringen", sagte er ruhig. Miss Parker starrte ihn fassungslos an.

"Was? Es gibt hier nichts wieder in Ordnung zu bringen! Er ist tot, und niemand kann daran etwas ändern! Wie kannst du..." Sie verstummte, als sie begriff, worauf er hinauswollte.

"Du glaubst, daß ich ihn getötet habe! Ich..."

Miss Parker vergrub ihr Gesicht für einen Augenblick in ihren Händen. Dann ließ sie ihre Hände wieder sinken, starrte auf das Blut, das noch immer daran klebte.

"Vielleicht stimmt es ja", wisperte sie fast unhörbar.

Ihr Vater machte noch einen Schritt auf sie zu.

"Du mußt dich jetzt zusammenreißen", sagte er. Sie sah zu ihm auf.

"Das werde ich", erwiderte sie, und selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme merkwürdig ruhig. 'Du mußt sie auch loslassen', flüsterte auf einmal die Stimme ihrer Mutter in ihr.

Miss Parker nickte. Ja, das stimmte. Sie erinnerte sich genau daran, daß ihre Mutter das irgendwann zu ihr gesagt hatte.

"Ich gehe jetzt", erklärte sie und drehte sich um.

"Und wohin, wenn ich fragen darf?" erkundigte sich ihr Vater, seine Stimme schon wieder schneidend. Miss Parker zuckte mit den Schultern.

"Fort", sagte sie. "Leb wohl, Daddy."

Mit langen Schritten verließ sie sein Büro, ohne die leeren Worte zu hören, mit denen er ihr befahl, sofort zurückzukehren.

*****

Eine Stunde später

Ungeduldig ging Jarod in dem kleinen Zimmer auf und ab, konnte nichts anderes tun als warten. In der Hand hielt er sein Handy, das für einen großen Teil seiner Unruhe verantwortlich war.

Jarod wartete fast zwei Minuten, dann gestand er sich ein, daß es einfach keinen Zweck hatte. Im Grunde hatte er das ja auch nicht anders erwartet. Miss Parker hatte im Moment vermutlich ganz andere Dinge im Kopf als einen Anruf zu beantworten.

Mit einem leisen Fluch unterbrach Jarod die Verbindung und wählte eine andere Nummer. Bereits nach wenigen Sekunden hörte er Sydneys Stimme.

"Sydney hier."

"Ich bin's, Syd. Wo ist Miss Parker?"

"Ich weiß es nicht, Jarod", antwortete der Psychiater nach einer kurzen Pause. "Das letzte, was ich von ihr gehört habe, war ehrlich gesagt nicht besonders ermutigend. Gerüchten zufolge war sie im Büro ihres Vaters und hat danach das Gebäude auf dem schnellsten Weg verlassen. Seit einer Stunde versuche ich nun schon ununterbrochen, sie anzurufen, aber weder bei ihr zu Hause meldet sich jemand, noch geht sie an ihr Handy. Jarod, die Situation ist ernst. Auch wenn ich die Zusammenhänge noch nicht ganz verstehe, weiß ich doch, daß das vielleicht der letzte Stoß gewesen ist, den Miss Parker noch gebraucht hat."

Sydney mußte überhaupt nicht weiter ins Detail gehen - Jarod wußte auch so genau, worauf sein ehemaliger Mentor hinauswollte. Miss Parkers emotionales Gleichgewicht, das in letzter Zeit bestenfalls labil gewesen war, würde vermutlich bald total zusammenbrechen. Und Jarod verspürte nicht den geringsten Wunsch, herauszufinden, was passieren würde, wenn dann niemand für sie da war, der sie auffangen konnte.

'Ich werde fallen. Und du kannst mich nicht fangen.'

Jarod schüttelte den Kopf. Er würde auf keinen Fall zulassen, daß die Worte aus seinem Traum einen Weg in die Realität fanden.

"Wir müssen sie finden, Sydney. Sie darf jetzt auf keinen Fall allein sein. Ich weiß nicht, ob sie noch genug Stärke hat, um allein damit fertigzuwerden."

"Was hat diese Sache mit Ben Miller zu bedeuten, Jarod?" erkundigte sich Sydney, und Jarod spürte, wie erneut Trauer um Ben in ihm aufstieg. Bens Tod sorgte dafür, daß er sich miserabel fühlte - wie mochte es erst Miss Parker ergehen?

"Es besteht die Möglichkeit, daß er der leibliche Vater von Catherine Parkers Kindern ist... war", erklärte Jarod bereitwillig. Er sah keinen Sinn darin, dieses Geheimnis noch weiter zu wahren. "Miss Parker hat ihn sehr gemocht. Unglücklicherweise ist sie es gewesen, die ihn nach seiner Ermordung entdeckt hat."

"Da ist aber noch etwas", sagte Sydney, dem es noch nie Schwierigkeiten bereitet hatte, Jarods Stimmung anhand seines Tonfalls zu deuten.

"Die Polizei verdächtigt Miss Parker."

Entsetztes Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet Jarod, daß Sydney die volle Auswirkung dieser Aussage bereits erfaßt hatte.

"Wir müssen eine Möglichkeit finden, um das richtigzustellen, und zwar so schnell wie möglich", sagte Sydney mit bleierner Stimme.

"Erst einmal sollten wir sie finden, und dann können wir...", begann Jarod, aber Sydney fiel ihm ins Wort.

"Du verstehst nicht, Jarod", sagte er düster. "Miss Parker beginnt bereits zu glauben, daß sie für Ben Millers Tod verantwortlich ist. Zusammen mit dieser Anschuldigung könnte sich daraus ein überaus gefährlicher emotionaler Schockzustand ergeben. Noch hält sie Lyle für den Täter, aber das könnte sich schon bald ändern."

"Wir sprechen hier also von ihrer geistigen Gesundheit", zog Jarod den logischen Schluß. Er seufzte schwer und versuchte gleichzeitig, seinen Zorn auf Lyle wieder unter Kontrolle zu bringen. Es gelang ihm nicht vollständig.

"Im schlimmsten Fall, ja", bestätigte Sydney. "Aber ich hoffe, daß wir diesen Fall verhindern können. Miss Parker braucht dich jetzt. Sie würde es nie zugeben; sie hat es ja nicht einmal sich selbst eingestanden. Das war aber der Grund, warum sie ins Centre gekommen ist. Ich habe sie in deinem alten Raum gefunden, Jarod."

"Wir müssen uns treffen, Syd", entgegnete Jarod.

"Was ist mit deinem Vater?" fragte Sydney, nur einen Hauch von Überraschung in der Stimme.

Jarod zögerte nur für einen Sekundenbruchteil. Miss Parker hatte vor gar nicht so langer Zeit eine ganz ähnliche Entscheidung getroffen. Sie hatte beschlossen, seinem Vater zu helfen, anstatt die einzige Spur von Tommys Mörder zu verfolgen, die sie vielleicht jemals finden würde. Und selbst wenn Miss Parker sich anders entschieden hätte - Jarod hätte trotzdem ganz genauso gehandelt.

"Ich werde ihn anrufen und ihm alles erklären. Miss Parker ist im Moment einfach wichtiger."

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr fuhr Jarod fort.

"Wir können uns in drei Stunden treffen. An unserem üblichen Treffpunkt."

"In Ordnung. Sei bitte vorsichtig, Jarod."

"Das werde ich, Syd. Bis dann."

Er legte auf und überlegte bereits, was er seinem Vater sagen sollte, während er seine Nummer wählte. Der Major würde ihn mit Sicherheit verstehen, schließlich wußte Jarod, daß Miss Parker ihm nicht gleichgültig war. Und vielleicht konnte ihm sein Vater dabei helfen, einen Weg zu finden, wie er Miss Parker helfen konnte.

*****

In seinem Büro im Centre lehnte sich Mr. Lyle in seinem Sessel zurück, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Wie berechenbar sich die meisten Leute doch verhielten!

Sein Lächeln verbreiterte sich, als er auf die kleine Kassette blickte, auf der er das Gespräch zwischen Sydney und Jarod aufgezeichnet hatte. Die beiden hatten es ihm wirklich einfach gemacht. Der übliche Treffpunkt, also wirklich. Als wüßte er nicht genau, wo die seltenen, aber gar nicht so geheimen Treffen immer stattfanden.

Lyle schloß die Augen. Sie glaubten also, daß er dieses kleine Blutbad in Maine angerichtet hatte? Wie überaus schmeichelhaft. Er grinste, dann öffnete er die Augen wieder und nahm den Hörer seines Telefons ab.

"Lyle hier. Ich will ein, nein, besser zwei Sweeperteams zu meiner sofortigen Verfügung."

Nachdem er wieder aufgelegt hatte, erhob er sich aus seinem Sessel und ging hinüber zum Fenster, ließ seinen Blick über das Gelände des Centres schweifen. Nicht mehr lange, und all das würde ihm gehören. Niemand konnte jetzt noch verhindern, daß sein Plan funktionierte.

*****

Mit schweren Schritten verließ sie ihr Schlafzimmer, ging ein letztes Mal durch ihr Haus. Sie hatte nicht vor, noch einmal hierher zurückzukehren.

Wieder klingelte das Telefon, wie schon ein dutzendmal zuvor in der letzten halben Stunde. Und wieder ignorierte sie es. Es gab niemanden, mit dem sie sprechen wollte.

Sie ging ins Wohnzimmer und nahm zwei der gerahmten Bilder vom Kaminsims. Für eine Weile ruhte ihr Blick liebevoll auf den einzigen Personen, die jemals so etwas für eine Familie für sie gewesen waren. Dann steckte sie die Bilder in ihre Tasche, verstaute sie zwischen den Sachen, die sich bereits darin befanden. Dunkle Sachen, natürlich. Sie bezweifelte, daß sie jemals wieder etwas anderes tragen würde. Trauer sollte eigentlich nur ein Gefühl sein, aber sie spürte, wie sie für sie langsam zu einem Zustand wurde. Ein Zustand, mit dem sie sich abfinden mußte.

Abwesend schloß sie den Reißverschluß ihrer Tasche, dann ging sie hinüber zur Garderobe und zog ihren Mantel an. Ihre Finger berührten kurz das beruhigend kühle Metall in der Manteltasche. Wieder blitzte ein Bild vor ihrem inneren Augen auf. Mit einem Stöhnen sank sie auf die Knie.

Blut. Blut, das in dünnen Rinnsalen langsam die Wand herunterfloß. Blut, das Buchstaben formte. Vater?

Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, erstickte den Schrei, mit dem sie sich zu befreien versuchte. Ihre Finger schlossen sich fester um die vertraute Form in der Tasche. Unendlich langsam verblaßte das Bild, ließ sie wieder zu Atem kommen.

Sie stand auf, schwankte für einen Moment und hob dann ihre Reisetasche auf. Ohne einen Blick zurück verließ sie das Haus ihrer Mutter zum letzten Mal.

*****

Dunkelheit senkte sich über die Stadt, als Sydney seinen Wagen verließ und die letzten Meter zu Fuß zurücklegte. Ihm war nicht wohl bei der ganzen Sache. Vielleicht hätte er doch lieber versuchen sollen, Miss Parker allein zu helfen. Andererseits war ihm aber auch klar, daß er nicht wirklich die Person war, von der sie Hilfe annehmen würde.

Sydney erreichte den kleinen Park im Ortszentrum von Blue Cove. Ein Jogger rannte an ihm vorbei, doch außer ihm war niemand zu sehen. Es dauerte nur eine Minute, bis Sydney den künstlichen Fluß erreichte hatte, der den Park in zwei Hälften teilte. Eine kleine Brücke führte darüber, und auf der anderen Seite stand eine Pagode im japanischen Stil.

Ein Schemen löste sich aus den Schatten um den kleinen Turmtempel. Eine Mischung aus Erleichterung und Sorge erfüllte Sydney. Natürlich freute er sich darüber, Jarod wiederzusehen, aber er war sich auch der Tatsache bewußt wie gefährlich es war, sich ausgerechnet hier in Blue Cove zu treffen.

Sydney ging Jarod entgegen. Der Pretender sah deutlich besorgt aus, außerdem wirkte er sehr erschöpft. Vermutlich war ihm der Tod von Ben Miller ebenfalls nahegegangen.

"Hallo, Jarod", sagte Sydney leise und musterte ihn aus der Nähe. Jarods Augen offenbarten seine Sorge und seine Müdigkeit noch viel drastischer als sein Gesicht und seine Haltung. "Ich bin...", fuhr er dann fort, doch eine andere Stimme unterbrach ihn. Jarod wirbelte herum, und auch Sydney drehte sich um. Ein gutes Dutzend Sweeper trat aus verschiedenen Verstecken hervor, und dann tauchte Lyle von der anderen Seite der Brücke auf. Sydney sah zurück zu Jarod, der Lyle mit versteinerter Miene entgegensah.

"...sehr erfreut, daß dieses kleine Treffen uns alle wieder zusammengeführt hat", beendete Lyle den Satz, den Sydney vor wenigen Augenblicken begonnen hatte. Er lächelte, und selbst in der Dunkelheit konnte Sydney das triumphierende Aufblitzen in Lyles Augen erkennen.

"Das habe ich nicht gewußt", wandte sich Sydney an Jarod. Jarod warf ihm nur einen kurzen Blick zu und nickte knapp.

"Oh, aber ich wollte Sie nicht unterbrechen", sagte Lyle mit falscher Freundlichkeit. "Machen Sie ruhig weiter. Ich bin sicher, dieses Treffen findet im besten Interesse des Centres statt, nicht wahr, Sydney?"

"Warum bin ich über das hier nicht informiert worden?" fragte Sydney mit erzwungener Ruhe.

"Weil wir alle wissen, daß diese Familienzusammenführung dann nicht stattgefunden hätte", gab Lyle in einem Tonfall zurück, für dessen Fröhlichkeit Sydney ihm am liebsten seine Faust ins Gesicht gerammt hätte. Ein Blick zu Jarod verriet ihm, daß der Pretender offenbar ganz ähnlich empfand. Jarod spannte sich an und sah sich nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit um, die Sydney ihm nur zu gerne geboten hätte. Aber es gab keine. Die meisten der Sweeper hatten ihre Waffen auf Jarod gerichtet; zwei von ihnen kamen auf ihn zu, um ihm Handschellen anzulegen und ihn festzuhalten.

"Und jetzt werden wir alle zusammen ins Centre zurückkehren", kündigte Lyle mit einem feinen Lächeln an.
Sydney fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Er wollte etwas tun, irgend etwas, um Jarod zu helfen, aber er konnte nur dastehen und hilflos zusehen, wie Lyles Sweeper den Pretender abführten.









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