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Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM und NBC (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.

Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel (auch wenn ich das große Finale noch gar nicht gesehen habe...).

Zur Handlung: Meine Vorstellung davon, wie es in der vierten Staffel weitergehen könnte, wenn ich irgendeinen Einfluß darauf hätte, *seufz*...




Kostbare Momente
von Miss Bit





Die langen Korridore des Centres wirkten verlassen, als Miss Parker ziellos durch das riesige Gebäude strich. Sie sollte eigentlich längst zu Hause sein, aber es gab nichts, was sie dorthin zurückzog.

Ohne Eile schritt sie von einem langen Flur zum nächsten, tief in Gedanken versunken. Hier unten, wo es keine Fenster gab, verlor die Zeit an Bedeutung. Es herrschte immer dasselbe, kalte Licht, so daß es weder Tag noch Nacht gab.

Miss Parker verzichtete darauf, den Lift zu benutzen, als sie ins Erdgeschoß zurückkehrte. Das Treppenhaus war so gut wie unbenutzt, wirkte genauso steril wie der Rest des Centres. Nur selten machte sich jemand die Mühe, die langen Treppenfluchten hinauf - oder hinabzusteigen.

Sie verließ das Treppenhaus und betrat die große Eingangshalle. Erst als sie draußen den Mond sah, warf Miss Parker einen Blick auf ihre Uhr. Fast Mitternacht. Zeit, nach Hause zu gehen.

aaaaaaaaaaaaaa

Bevor sie das Centre verlassen konnte, mußte sie allerdings noch etwas erledigen. Mit energischen Schritten ging sie in ihr Büro und nahm den Bericht, der dort auf ihrem Schreibtisch lag. Ihr Vater hatte sie darum gebeten, und sie wollte ihn in sein Büro bringen, damit er ihn gleich am Morgen lesen konnte.

Es dauerte nicht lange, bis sie sein Büro erreichte. Überrascht stellte sie fest, daß unter der geschlossenen Tür einen schmaler Lichtstreifen in den dunkleren Flur fiel. Miss Parker kniff die Augen zusammen. Wer konnte sich um diese Zeit im Büro ihres Vaters herumtreiben? Und wieso? Mit einer schnellen Bewegung vergewisserte sie sich, daß ihre Waffe an ihrem Platz war, dann nahm sie die Akte in ihre linke Hand und öffnete die schwere Doppeltür.

"Daddy!"

Erstaunt sah sie ihren Vater an, der im Licht der Schreibtischlampe in seinem Sessel saß. Er sah auf und lächelte kurz.

"Du siehst überrascht aus. Wen hast du denn erwartet?"

Sie schüttelte leicht den Kopf.

"Ich dachte, du wärst schon längst zu Hause", erwiderte sie ruhig. Dann ließ sie die Tür hinter sich zufallen und ging zu ihm.

"Hm, ich hatte noch zu arbeiten", erklärte er mit einem Blick auf mehrere Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Miss Parker musterte ihn besorgt. Er sah nicht besonders gut aus.

"Hier, ich wollte dir den Bericht geben, um den du mich gebeten hast", sagte sie. Ihr Vater nahm die Akte mit einem Nicken entgegen.

"So schnell hatte ich gar nicht damit gerechnet", erwiderte er in einem seltsamen Tonfall. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte leicht.

"Ich hatte ja sonst nichts zu tun", meinte sie leise. Es war nicht als Vorwurf gemeint, trotzdem sah ihr Vater auf, sein Blick schuldbewußt. Er streckte die Hand nach ihr aus. Miss Parker ging näher zu ihm und ergriff sie.

"Wie geht es deiner Schulter?" erkundigte sich ihr Vater. Sie glaubte beinahe, echte Sorge in seiner Stimme zu hören. Ihr Blick schweifte kurz zu der Schlinge, die sie noch immer tragen mußte, dann sah sie wieder ihren Vater an.

"Viel besser. Eigentlich merke ich kaum noch etwas davon."

Er nickte, aber es wirkte irgendwie abwesend. Sein Blick ruhte immer noch auf ihr, und er blinzelte heftig, bevor er weiter sprach.

"Du siehst müde aus, mein Liebes. Geht es dir gut?"

Miss Parker betrachtete ihren Vater mit einer Mischung aus Verwunderung und Wärme. Es war lange her, seit sie ungestört so einen vertrauten Moment geteilt hatten. Ihr Vater schien an diesem Abend in einer sehr merkwürdigen Stimmung zu sein, und trotz allem, was sie wegen ihm durchgemacht hatte, sorgte sie sich jetzt um ihn. Was auch immer passiert sein und er getan haben mochte - er blieb doch ihr Vater.

"Mit mir ist alles in Ordnung, Daddy. Mir fehlt nur etwas Schlaf." Sie musterte ihn genauer. Auch er sah müde aus; dadurch wirkte er auf einmal viel älter. Ihr fielen neue Falten in seinem Gesicht auf, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie dort lange nicht mehr gesehen hatte. Seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. "Und was ist mit dir?"

Ihre Stimme hatte einen warmen Klang angenommen. Er drückte ihre Hand, und Miss Parker spürte, daß sie einen jener seltenen Augenblicke erlebte, in denen sie sich mit ihrem Vater verbunden fühlte.

"Mir geht es gut", sagte er leise und schloß für einen Moment die Augen. In seinem Gesicht zuckte es kurz. Als er sie wieder ansah, lächelte er beruhigend. Sie wußte, daß es ein falsches Lächeln war, aber diesmal nahm sie es ihm nicht übel, weil er ihr damit ihre Sorge nehmen wollte.

"Wieso fährst du nicht nach Hause? Du siehst aus, als könntest du etwas Ruhe gebrauchen. Und ich bin sicher, Brigitte wüßte es auch zu schätzen, wenn sie etwas mehr von dir hätte, besonders im Moment."

Miss Parker war selbst erstaunt, wie aufrichtig ihre Worte klangen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten sie wie ein Witz geklungen und außerdem den Schmerz über die jüngsten Entwicklungen in ihrer Familie wieder aufflammen lassen, aber für den Augenblick waren sie nur ein Ausdruck ihrer Sorge.

Noch einmal zuckte es kurz im Gesicht ihres Vaters, als er ihren Blick erwiderte.

"Oh, ich weiß nicht. Ich glaube, Brigitte ist ganz froh, wenn ich nicht im Haus bin. Weißt du, schwangere Frauen sind manchmal nicht ganz einfach..."

Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. Miss Parker unterdrückte ein Seufzen.

"War es mit Mom auch so?" fragte sie, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Überrascht sah sie, wie ein ganz ungewöhnliches Leuchten seine Augen für ein paar Sekunden erhellte, während er sich an glücklichere Zeiten erinnerte.

"Oh nein", antwortete er mit Nachdruck und schüttelte den Kopf. "Catherine war so glücklich, und sie hat dieses Glück mit mir geteilt." Er schwieg, und sein Blick richtete sich für ein paar Augenblicke ins Leere. "Sie hat ihre Schwangerschaft nie als Belastung betrachtet."

Nicht zum ersten Mal hatte Miss Parker auf einmal das Gefühl, daß Brigitte nur als schlechter Ersatz für ihre Mutter diente. Sie verdrängte den Gedanken und beschloß, das Thema zu wechseln. Schon seit ein paar Tagen wollte sie mit ihrem Vater über etwas reden. Dieser Moment war dafür vermutlich günstiger als der nächste Morgen.

"Daddy?" Sanft entzog sie ihm ihre Hand und legte sie auf seine Schulter. "Kann ich mit dir über etwas reden?"

Er kehrte aus der Welt seiner Erinnerungen zurück, bedachte sie mit einem leichten Lächeln.

"Sicher, mein Engel. Worum geht es?"

Miss Parker zögerte kurz. Das würde ihm nicht gefallen.

"Wie geht es Jarod? Hat er sich etwas beruhigt?"

"Mhm. Raines hat ihn ruhig gestellt. Aber das ist nicht mehr deine Sorge." Ihr Vater bedachte sie mit einem forschenden Blick. "Jarod ist jetzt wieder in der sicheren Obhut des Centres. Dein Auftrag ist erledigt." Plötzliches Verstehen leuchtete in seinen Augen, und Miss Parker beeilte sich, seiner nächsten Frage zuvorzukommen.

"Nein, es geht mir nicht um unser Abkommen. Ich werde weiter für das Centre arbeiten - fürs erste." Noch einmal machte sie eine Pause, bevor sie fortfuhr. "Ich möchte ihn sehen."

Wie sie vermutet hatte, reagierte ihr Vater mit Ablehnung. Er runzelte die Stirn.

"Wieso denn? Du mußt dir seinetwegen keine Sorgen mehr machen. Raines ist jetzt für ihn verantwortlich."

Diesmal erlaubte sie sich einen kleinen Seufzer.

"In den letzten drei Jahren war ich ausschließlich damit beschäftigt, Jarod hinterher zu jagen. Er ist sozusagen ein Teil meines Lebens geworden. Um mit der Vergangenheit abzuschließen, muß ich ihn noch einmal sehen, verstehst du?"

"Nein, ich fürchte, das verstehe ich nicht", erwiderte ihr Vater nachdenklich, und sie wollte schon protestieren, als er ihr mit einer sanften Geste bedeutete ihm zuzuhören. "Wenn ich nur an all die Lügen denke, die er dir erzählt hat! Aber wenn es dir so wichtig ist..."

Er wandte sich von ihr ab und schaltete einen kleinen Monitor ein, der am Rand seines Schreibtisches stand. Es dauerte einen Moment, bis das Bild klar genug geworden war, um etwas zu sehen, doch dann erkannte Miss Parker, daß es sich um das Bild der Überwachungskamera in Jarods Raum handelte. Sie warf ihrem Vater einen erstaunten Blick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte.

Noch einmal sah sie zurück auf den Monitor. Das Zimmer, in dem sich Jarod befand, war halb dunkel. Er lag auf einem Bett, offenbar nicht bei Bewußtsein. Vermutlich schlief er, betäubt von was auch immer Raines ihm injiziert hatte. Von Sam wußte sie, daß Jarod sich nach seiner Gefangennahme wie ein wildes Tier gebärdet hatte. Erst drei von Raines' kräftigsten Sweepern hatten es geschafft, ihn so ruhig zu halten, daß einer der Ärzte ihm ein Beruhigungsmittel spritzen konnte.

Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Was wollt ihr jetzt mit ihm machen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß er je wieder mit dem Centre zusammenarbeiten wird", sprach sie den Gedanken aus, der sie seit ein paar Tagen beschäftigte.

Ihr Vater zuckte mit den Schultern.

"Jarod braucht etwas Zeit, um sich wieder einzugewöhnen. Und Raines wird schon eine Motivation für ihn finden."

Ihr gefiel die Richtung nicht, die das Gespräch nahm. Es erinnerte sie daran, daß Jarod hier ein Gefangener war, der ausgenutzt wurde. Und sie hatte geholfen, ihn in sein verhaßtes Gefängnis zurück zu schaffen.

"Ich möchte zu ihm", sagte sie sehr sanft.

Nun war es ihr Vater, der seufzte.

"Er ist gefährlich. Bis jetzt hat er jeden angegriffen, der ihm zu nahe gekommen ist. Ich möchte nicht, daß er dich verletzt."

"Glaub mir, Daddy, das möchte ich auch nicht. Aber ich bin sicher, daß er mir nichts tun wird." Sie war nicht wirklich sicher, aber das war ihr Problem, nicht das ihres Vaters.

Erst nach langem Zögern antwortete er ihr.

"Na schön, wenn du es unbedingt willst." Sein Blick glitt kurz zu ihrer verletzten Schulter, und wieder einmal hatte sie das Gefühl, daß er hauptsächlich aus Schuldgefühlen ihr gegenüber handelte - schließlich war sie von der Kugel verletzt worden, die für ihn bestimmt gewesen war. "Aber ich möchte, daß du jemanden zu deinem Schutz mitnimmst. Sam vielleicht und..."

"Das wird nicht nötig sein", wiegelte sie ab. "Sieh ihn dir doch an. Im Moment könnte er nicht einmal für Raines gefährlich werden."

Sie lächelte humorlos. Dann fiel ihr noch etwas ein.

"Es gibt noch etwas, um das ich dich bitten möchte, Daddy."

"Hm?"

"Sydney. Laß ihn wieder zu Jarod. Ich weiß, daß Raines ihn von Jarod ferngehalten hat. Aber Sydney ist wichtig für Jarod. Wenn ihn jemand dazu überreden kann, wieder für das Centre zu arbeiten, dann ist es Sydney. Und selbst wenn ihm das nicht gelingt, so kann er Jarod vielleicht wenigstens beruhigen. Ihr könnt ihn doch nicht ständig sedieren."

Miss Parker konnte sehen, wie ihr Vater über ihre Bitte nachdachte.

"Raines wird das nicht gefallen. Aber was kümmert uns das? Sag Sydney, daß er Jarod morgen früh sehen kann. Wenn das Treffen gut verläuft, kann ich vielleicht dafür sorgen, daß er ihn häufiger sehen kann."

"Danke, Daddy."

Ehrlich erleichtert küßte sie ihn auf die Stirn. In der letzten Zeit war es selten vorgekommen, daß sie spontane Zuneigung zu ihm empfunden, und noch seltener, daß sie sie gezeigt hatte.

"Schon gut, mein Schatz", erwiderte er sanft. Er stand auf und zog sie kurz an sich. "Und jetzt sollten wir uns beide auf den Weg nach Hause machen."

"Nein, ich möchte erst noch zu Jarod."

"Was, jetzt?"

"Mhm. Je schneller ich das hinter mich bringe, desto eher kann ich mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt."

Ihr Vater nickte. "Na gut, dann sorge ich dafür, daß du jetzt gleich zu ihm kannst."

"Gute Nacht, Dad."

"Schlaf gut, Liebes."

Zum Abschied bedachte er sie noch einmal mit einem Lächeln, und während sie sein Büro verließ, wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie so einen kostbaren Moment mit ihrem Vater wohl nicht noch einmal erleben würde.

Sie wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, bevor sie zu den Aufzügen ging. Bevor sie zu Jarod ging, wollte sie erst noch in Sydneys Büro eine Nachricht hinterlassen.

Zum zweiten Mal an diesem späten Abend erlebte sie eine Überraschung, als sie Sydneys Büro erreichte. Auch dort brannte noch Licht. Miss Parker klopfte leise an die angelehnte Tür.

"Syd?"

"Ah, Miss Parker. Kommen Sie rein."

Leicht beunruhigt folgte sie seiner Aufforderung. Wie ihr Vater saß er bei schwachem Licht hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm standen eine volle Flasche Whiskey und ein leeres Glas.

"Ist das Ihre erste Flasche?" erkundigte sie sich. Sydney sah sie mit einem schwachen Funkeln in den Augen an.

"Ja."

"Ich verstehe."

Er musterte sie, als wollte er ihre Äußerung in Frage stellen, doch dann nickte er leicht. Sydney wußte, wieviel sie in den letzten Wochen und Monaten durchgemacht hatte.

"Wieso sind Sie noch hier, Miss Parker?"

Sie zuckte ganz leicht mit den Schultern, sosehr es ihre Verletzung zuließ.

"Ich hatte noch das ein oder andere zu erledigen", erklärte sie. "Unter anderem wollte ich Ihnen eine Notiz schreiben."

Sydney hob die Brauen. "Diese Mühe können Sie sich ja jetzt sparen."

Miss Parker lehnte sich gegen den Türrahmen.

"Sie sollten nach Hause fahren und sich ausruhen. Schließlich wollen Sie morgen doch bestimmt ausgeruht sein."

Seine Brauen kletterten noch weiter in die Höhe.

"Wofür? Einen weiteren nutzlosen Tag hier im Centre?"

"Ah, Syd, seit wann sind Sie so zynisch? Außerdem sollten Sie nicht so egoistisch sein. Immerhin gibt es hier im Centre jemanden, der Sie braucht, schon vergessen?"

Er schnaubte abschätzig, und Miss Parker beschloß ihm endlich zu sagen, wieso sie gekommen war.

"Sie können morgen früh zu Jarod. Wenn Sie das wollen."

Sydney sah sie fassungslos an, dann verengten sich seine Augen.

"Darüber würde ich keine Scherze machen, Sydney. Ich hoffe, das wissen Sie", kam sie seinem unausgesprochenen Vorwurf zuvor. "Mein Vater ist der Meinung, daß Sie Jarod vielleicht zur Vernunft bringen können."

"Ihr Vater?"

Miss Parker lächelte.

"Allerdings, ja. Er mag stur sein, aber er ist nicht dumm. Kommen Sie schon, Syd. Glauben Sie's ruhig."

"Das tue ich, Miss Parker." Seine Lippen verzogen sich zu einem zögerlichen Lächeln. "Morgen früh?"

"Mhm. Gute Nacht, Sydney."

Sie drehte sich um, machte sich auf den Weg nach draußen. Ihr war nicht die Freude in seinen Augen entgangen, als sie ihm die gute Neuigkeit übermittelt hatte. Hoffentlich war die Freude groß genug, um die Angst zu überwinden, die Sydney offenbar ebenfalls empfand.

"Miss Parker?"

Noch einmal drehte sie sich zu ihm um, sah ihn nur fragend an.

"Ich danke Ihnen."

"Wofür denn, Sydney?"

Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich von ihm, dann verließ sie sein Büro. Blieb nur noch Jarod übrig. Nur noch.

Auf dem Weg nach unten warf sie erneut einen Blick auf die Uhr. Zwanzig Minuten nach Mitternacht. Ein neuer Tag hatte begonnen. Mit ein bißchen Glück würde er genauso gut beginnen wie der letzte aufgehört hatte.

Miss Parker brauchte fast zehn Minuten, um den Raum zu erreichen, wo Jarod untergebracht war. Raines war auf Nummer Sicher gegangen und hatte Jarod nicht nur ruhig stellen lassen, sondern ihn auch noch so weit wie möglich von der Erdoberfläche entfernt eingesperrt. Diesmal sollte es dem Pretender nicht so leichtfallen, aus dem Centre zu entkommen.

In Miss Parkers Augen war diese Maßnahme sinnlos. Wenn Jarod es wirklich darauf anlegte, noch einmal zu entwischen, würde er es auch schaffen.

Die letzten Meter legte sie eher widerstrebend zurück. Raines' Sweeper ließen sie kommentarlos passieren, so daß sie sich ganz auf ihre Überlegungen konzentrieren konnte.

Es war nicht so, daß sie sich auf diese Begegnung freute. Eigentlich sollte sie froh sein, daß Jarod wieder im Centre war. Nicht nur, daß sie jetzt von Jarods kleinen 'Präsenten' verschont bleiben würde - sie hatte außerdem ihren Teil des Handels erfüllt und konnte das Centre jederzeit verlassen. Zumindest theoretisch. Allerdings hatte sie nicht vor zu gehen, bevor sie Tommys Mörder gefunden hatte.

"Miss Parker."

Sie sah auf. Sam stand vor ihr und sah sie erwartungsvoll an.

"Hat mein Vater dich geschickt?"

Ihr Sweeper nickte nur.

"Dachte ich mir. Na gut, ich möchte, daß du hier draußen wartest und nur rein kommst, wenn ich dich rufe. Und so lange ich da drin bin, bleiben alle anderen hier draußen, klar?"

"Ja, Miss Parker."

Miss Parker holte tief Luft, dann ging sie durch die Tür, die Sam für sie geöffnet hatte. Sobald sie den Raum betreten hatte, schloß Sam die Tür wieder hinter ihr.

Es war dunkel, dunkler als es vor ein paar Minuten auf dem Monitor gewirkt hatte. Sie blieb noch eine Weile direkt vor der Tür stehen, bis sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten.

Jarod lag noch immer auf dem Bett, genauso, wie sie ihn vorhin gesehen hatte. Langsam ging sie auf ihn zu. Ein paar Schritte vor dem Bett blieb sie stehen.

'Er hat sich aufgeführt wie ein wildes Tier. Wenn wir nicht zu dritt gewesen wären, hätten wir ihn nicht festhalten können. Erst als Mr. Raines ihm die Spritze gegeben hat, hat er sich etwas beruhigt. Trotzdem hat er Willie drei Rippen gebrochen.'

Miss Parker verzog kurz das Gesicht, als sie sich an das erinnerte, was Sam ihr erzählt hatte. Nur auf ihren Befehl hin hatte er ihr erzählt, was er wußte - so, als sei es ihm unangenehm, überhaupt darüber zu reden.

Ihre Augen gewöhnten sich immer besser an die Dunkelheit. Sie sah Jarod an. Er wirkte erschöpft, ausgemergelt. Die wenigen Tage im Centre hatten genügt, ein körperliches Wrack aus ihm zu machen. Noch ein paar Tage mehr, und nur Gott mochte wissen, was aus seinem Verstand wurde...

Langsam ging sie noch näher zu ihm. 'Bis jetzt hat er jeden angegriffen, der ihm zu nahe gekommen ist.' Als sie jetzt noch einmal über die Worte ihres Vaters nachdachte, glaubte sie beinahe, so etwas wie widerwilligen Respekt in seiner Stimme gehört zu haben. Respekt, den sie nie bekommen hatte.

Gedankenverloren betrachtete sie den Mann, der sie drei Jahre lang verfolgt hatte. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Er würde das mit Sicherheit genau anders herum sehen. Aber während sie ihm dicht auf den Fersen gewesen war, war er immer tiefer in ihre Seele vorgedrungen, hatte gnadenlos alle dunklen Ecken ausgeleuchtet. Vermutlich hatte er das nur getan, um sich zu verteidigen - aber war das wirklich der einzige Grund gewesen? Jetzt war es zu spät, das herauszufinden. Ihr Vater hatte recht: Jarod war nicht mehr ihr Problem.

Miss Parker überlegte, ob sie ihn wecken sollte. Ein Gespräch mit ihr war sicherlich das letzte, was er im Moment wollte. Und was war, wenn er sie angriff? Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, daß er...

Sie bekam keine Chance, den Gedanken zu beenden. Mit einer unglaublich schnellen Bewegung schoß Jarod auf einmal nach oben, prallte gegen sie und stieß mit ihr an die nächste Wand.

Der Aufprall preßte ihr die Luft aus den Lungen, und nur deshalb schrie sie nicht vor Schmerz auf, als ihre verletzte Schulter hart mit der Wand kollidierte. Zu allem Überfluß hielt Jarod sie auch noch an beiden Armen fest.

So plötzlich, wie er sie angegriffen hatte, lockerte sich sein Griff an ihrer Schulter, sobald er die Schlinge fühlte. Er hielt sie noch immer so fest, daß sie sich nicht losreißen konnte, aber der Schmerz ließ etwas nach.

"Miss Parker, was für eine... Überraschung", sagte er, die Stimme rauh vor Erschöpfung und Anstrengung. "Wieso sind Sie hier?"

Sie stöhnte vor Schmerz auf, als er sie für einen Moment wieder härter gegen die Wand preßte.

"Ich... weiß nicht. Vielleicht... quäle ich... mich einfach nur gern... selbst", brachte sie hervor. Es war nicht nur Jarods fester Griff, der ihr die Kehle zuschnürte. Sie hatte Angst. Er stand so dicht vor ihr, daß sie nicht in seine Augen sehen konnte. Seine Stimme war ihr einziger Anhaltspunkt für seine Stimmung. Das hier war nicht der Jarod, der vor drei Jahren aus dem Centre entkommen war. Miss Parker hatte es mit dem dunklen Jarod zu tun - dem Mann, den sie nicht kannte. Mit ihm gab es keine Spielchen, keine Sticheleien. Hier ging es nur um Macht und Kontrolle.

Erleichtert registrierte sie, daß sich sein Griff weiter lockerte und er ein wenig von ihr zurücktrat. Aber sie war noch immer gefangen zwischen ihm und der Wand.

"Sie hätten nicht herkommen sollen, Miss Parker", erwiderte er, mit einem nachdenklichen Unterton in der Stimme. "Hat Ihr Vater Sie denn nicht vor mir gewarnt?"

Es tat ihr fast gut, den beißenden Spott zu hören, mit dem er sie jetzt bedachte.

"Das hat er. Aber ich lasse mir nichts vorschreiben - auch von ihm nicht."

Sie spürte mehr als daß sie sah, wie er sich anspannte. Noch einmal näherte er sich ihr, drängte sie wieder härter gegen die Wand.

"Wieso sind Sie hier, Miss Parker?"

Da war er wieder, dieser drängende Tonfall, den sie in den letzten Jahren so oft von ihm gehört hatte. Ungebetene Gedanken hinterließen breite Risse in ihrer eisernen Selbstbeherrschung, unterdrückte Gefühle bahnten sich unaufhaltsam einen Weg nach draußen.

"Sie haben mir weh getan, Jarod", keuchte sie, und ein leichtes Schwanken ihrer Stimme verriet ihren inneren Aufruhr. Beinahe augenblicklich ließ er sie los, benutzte statt dessen seine körperliche Überlegenheit, um sie unter Kontrolle zu halten.

Dankbar holte sie Luft, ignorierte den dumpf pochenden Schmerz, der noch immer in ihrer Schulter pulsierte.

"Das habe ich nicht gemeint", sagte sie dann. Jarod neigte den Kopf leicht zur Seite, musterte sie aus seinen dunklen Augen, dann zuckte er mit den Schultern. Dieses Mal kam er langsamer näher, so nah, daß sie seinen Herzschlag spüren konnte. Sein Blick bohrte sich in ihren, erschütterte die letzten Reste ihrer Kontrolle.

"Miss Parker, Miss Parker."

Sie spürte, wie sein Atem über ihre Wange strich, als er in ihr Ohr flüsterte. Etwas an seinem Tonfall kam ihr merkwürdig vor; so, als paßte es nicht zu dieser bizarren Situation.

"Sie verwirren mich", fuhr er leise fort. "Ich weiß nicht, ob ich sie erwürgen soll, oder..."

Obwohl ihre Lage nicht ungefährlich war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen.

"Oder was?" wisperte sie heiser.

Seine Hände schlossen sich um ihren Hals, ohne jeglichen Druck, machten aus einer bedrohlichen Geste eine Liebkosung. Nach endlos erscheinenden Sekunden glitten sie weiter, bis er ihr Gesicht in seinen Händen hielt.

Wieder bewegte Jarod sich fast unheimlich schnell. Er küßte sie, rauh und hart, preßte sie dabei noch stärker an die Wand.

Ein unfaßbar intensives Gefühl schoß wie ein Blitz durch ihren Körper, so daß sie glaubte, ihr Herz wäre für eine Sekunde stehengeblieben. Viel zu deutlich spürte sie seinen muskulösen, angespannten Körper, der sich so eng gegen ihren preßte, daß er ihr wie seine Lippen den Atem nahm.

Wieder regte sich der Eindruck in ihr, daß sich irgend etwas völlig falsch anfühlte. Wut flammte in ihr auf, vermischte sich mit der kühlen Stimme ihres Instinktes. Verärgert, und unter Aufbietung all ihrer Kräfte, stieß sie ihn von sich fort.

Die Lücke, die zwischen ihnen enstand, war nur wenige Zentimeter breit. Jarod lachte dunkel und sah sie beinahe amüsiert an.

"Schüchtern, Miss Parker?"

Sie wollte ihn schlagen, aber er sah ihre Absicht voraus und hielt sie mühelos fest.

"Mistkerl!" zischte sie wütend. In seinen Augen blitzte es, und plötzlich war ihr klar, daß er das alles mit Absicht machte - um sie wütend zu machen. Die Worte ihres verhaßten Bruders schossen ihr durch den Kopf. 'Sie sind wunderschön, wenn Sie wütend sind.'

"Lassen... Sie mich... los!"

Wieder verzogen sich seine Lippen zu einem humorlosen Lächeln.

Er beugte sich ganz nah zu ihr, seine Stimme nur ein kaum hörbares Flüstern.

"Jetzt, wo ich Sie habe", wisperte er, "werde ich Sie doch nicht wieder gehen lassen. Wie fühlt es sich an, gefangen zu sein?"

Miss Parker bekam keine Gelegenheit, seine Frage zu beantworten. Seine Lippen preßten sich hart auf ihre, so selbstbewußt und fordernd. Anstelle des Chaos, das sie halb erwartet hatte, herrschte plötzlich Leere in ihrem Kopf. Nur ein einzelner Gedanke formte sich quälend langsam. 'Etwas stimmt hier nicht.'

Sie gab dem Druck seiner Zunge auf ihren Lippen nach, öffnete den Mund. Was passierte hier nur?

Es war falsch, aber es fühlte sich gut an. Für einen Moment, nur für einen winzigen Augenblick, gab sie sich ihren Gefühlen hin, genoß dieses groteske Vergnügen. Erst viel später erkannte sie, daß es dieser Moment gewesen war, der alles verändert hatte. Nur dadurch hatte sie endlich die Wahrheit erkannt.

Ihre Wut kehrte zurück, um ein Vielfaches stärker. Jetzt wußte sie, was hier nicht stimmte. Jarod versuchte, die Kontrolle über sie zu erlangen, aber das konnte er nicht als er selbst. Sie hatte es mit Jarod, dem Pretender zu tun. Ihn kannte sie fast genauso gut wie den kleinen, naiven Jungen, von dem noch so viel in ihm steckte.

Miss Parker beschloß, die Sache zu beenden. Ihre Zunge glitt über seine Unterlippe, langsam, verheißungsvoll. Er ließ für einen Moment in seiner Wachsamkeit nach, und sie biß ihn, fest genug, um ihn zurückweichen zu lassen.

Diesmal gelang es ihr, ihn weiter von sich fort zu stoßen. Bevor er sich von ihrem überraschend kräftigen Stoß erholen konnte, hob sie die Hand und schlug ihn kräftig ins Gesicht. Noch einmal stieß sie ihn von sich weg, so daß er stolperte und rückwärts auf das Bett fiel.

"Du widerlicher Bastard!" fauchte sie. Jarod stand auf, kam aber nicht näher. Er schien zu spüren, daß sie wirklich zornig war.

"Was glaubst du, was du hier tust?" fuhr sie fort. Ihr fiel nicht einmal auf, daß sie die förmliche Anrede aufgegeben hatte. Ohne große Anstrengung fiel sie in ihre alte Rolle zurück. "Willst du vor laufender Kamera über mich herfallen? Und ich mache dabei mit, überwältigt von deinem gewaltigen Charme? Oder spielt es gar keine Rolle, was ich dazu sage? Wenn das da draußen aus dir geworden ist - dann ist es wirklich besser, daß Raines dich wieder hier unten eingesperrt hat!"

Sie konnte nicht sagen, ob ihre Worte irgend einen Einfluß auf ihn hatten. Der Pretender stand einfach nur da und starrte sie an, wischte sich mit einer Hand das Blut von der Lippe. Schließlich ließ er die Hand sinken.

"Sehr bewegend, wirklich." Er fuhr sich mit der Zunge über seine verletzte Lippe, machte daraus eine laszive Geste. "Deswegen bist du doch hergekommen. Das ist es, was du immer von mir gewollt hast."

"Vorsicht, Jarod", warnte sie ihn, aber er ignorierte sie, gefangen in seinem eigenen Spiel.

"Jetzt wo Tommy fort ist, brauchst du jemanden, um dich über ihn hinweg zu trösten."

Die Worte trafen sie härter als jeder Schlag es je gekonnt hätte. Ihre Wut verrauchte, machte erstickendem Schmerz Platz. Seine Miene veränderte sich, und sein Wunsch, die Worte zurückzunehmen, war fast greifbar für sie. Doch dafür war es unwiederbringlich zu spät. Er hatte sein besonders Talent mißbraucht, um ihr weh zu tun, so sehr wie niemand sonst es konnte. Nur einen Sekundenbruchteil später war die Maske wieder da, die er sich in dieser Nacht aufgesetzt hatte und von Bedauern war keine Spur mehr zu entdecken, nicht einmal in seinen Augen.

Miss Parker schloß den Mund, preßte ihre Lippen fest aufeinander. Sie fand nicht einmal die Kraft, ihm all die Dinge an den Kopf zu werfen, die ihr durch den Kopf schossen, und die ihn doch nie so verletzen konnten wie seine unbedachte Äußerung.

Ohne ein einziges Wort drehte sie sich um und ging zur Tür. Nach einem lauten Klopfen öffnete Sam ihr fast sofort die Tür. Miss Parker ging an ihm vorbei und verspürte nicht einmal den Wunsch, sich ein letztes Mal umzudrehen. Sollte er doch hier unten verrotten.

aaaaaaaaaaaaaa

Am nächsten Morgen fiel es Miss Parker schwerer als gewöhnlich, ins Centre zurückzukehren. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, gegen ihre Tränen angekämpft und erfolglos versucht, Jarods Worte aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

Und dann gab es da noch diesen kleinen, flüsternden Zweifel. Miss Parker gestattete sich nicht einmal, ihn wahrzunehmen, geschweige denn, darüber nachzudenken. Aber so sehr sie es auch versuchte - sie konnte ihn nicht verdrängen. 'Was, wenn er recht hat?'

"Guten Morgen, Miss Parker."

Es war Broots, der sie aus ihren Grübeleien riß. Einen Augenblick lang starrte sie ihn nur an.

"Ich dachte, Sie hätten zwei Wochen Urlaub genommen", sagte sie anstelle einer Begrüßung. Broots trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

"Man hat mir nur eine Woche bewilligt", erklärte er, aber es war deutlich, daß ihn etwas ganz anderes belastete. Miss Parker war sich sicher, daß sie überhaupt nicht hören wollte, was er zu sagen hatte, aber was sie in seinen Augen sah, zwang sie, danach zu fragen. Er verließ sich auf sie. Sein erleichterter Blick machte deutlich, daß er auf ihre Fähigkeit vertraute, das Problem zu lösen.

"Was ist los, Broots?"

Sie versetzte ihm einen leichten Schubs und gemeinsam verließen sie die Eingangshalle in Richtung ihres Büros.

"Es ist Sydney", flüsterte der Techniker und sah sich verstohlen um.

"Das hier ist kein schlechter Agentenfilm, Broots", erinnerte ihn Miss Parker. "Reißen Sie sich zusammen." Ihrer Stimme fehlte jegliche Schärfe, und Broots nickte nur geistesabwesend.

Als er nach einer Minute noch immer nichts gesagt hatte, seufzte Miss Parker lautlos.

"Was ist mit Syd?" drängte sie ihn.

"Ich weiß es nicht", stieß Broots hervor, nun deutlich besorgt. "Als ich heute morgen hergekommen bin, habe ich mich nur kurz mit ihm unterhalten, und alles schien in Ordnung zu sein. Vor einer halben Stunde ist er dann ohne ein Wort an mir vorbeigegangen und..."

Broots zögerte, doch dann gab er sich einen Ruck. "Er hat sich in seinem Büro eingeschlossen", beendete er seinen Satz.

Miss Parker blieb stehen und sah ihn lange an, dann setzte sie ihren Weg fort, schneller als zuvor. "Ich rede mit ihm."

Sie ließ Broots hinter sich zurück. Kurz darauf erreichte sie Sydneys Büro. Ihr Blick ruhte eine volle Minute auf der verschlossenen Tür, bevor sie leise anklopfte.

"Sydney? Ich bin's. Wenn Sie mir nicht die Tür aufmachen, zwingen Sie mich, das Schloß aufzuschießen - aber vielleicht hole ich auch nur jemanden, der einen Generalschlüssel hat. In jedem Fall wird's hier einen Riesenaufstand geben. Das wollen Sie doch nicht, oder?"

Es blieb eine ganze Weile still. Miss Parker übte sich in Geduld und wurde bald darauf mit dem Geräusch von Schritten belohnt, die sich der Tür näherten. Ein leises Klicken verriet ihr, daß Sydney die Tür aufgeschlossen hatte. Schließlich öffnete er sie und sah ihr erstaunlich ruhig entgegen.

"Miss Parker, das war armselige Psychologie", meinte er leise. "Aber kommen Sie trotzdem herein."

"Es hat funktioniert", erwiderte sie mit einem Schulterzucken, während sie eintrat. Sie ging bis zu seinem Schreibtisch, drehte sich dann zu ihm um.

"Was soll das, Syd? Das ist so gar nicht Ihre Art."

Er seufzte.

"Ich wollte nur einen Augenblick allein sein."

"Und das im Centre. Nicht sehr clever, Sydney. Auf diese Weise ziehen Sie erst recht Aufmerksamkeit auf sich."

Jarods ehemaliger Mentor musterte sie aufmerksam.

"Ich fürchte, Ihre Methode ist auch nicht viel besser", hielt er dagegen.

Ihr war sofort klar, worauf er hinauswollte. Sydney spielte auf ihr Treffen mit Jarod an. Vermutlich hatte mittlerweile jeder im Centre das Überwachungsband gesehen. Zum Teufel mit Jarod.

"Quid pro quo, Sydney. Zuerst sind Sie dran. Was ist passiert?"

Er ging zum Fenster und sah hinaus.

"Ich war heute morgen bei Jarod. Er wollte mich nicht sehen. So einfach ist das."

Das war noch nicht alles. Sowohl Sydneys Haltung, als auch sein Tonfall ließen das deutlich werden. Trotz dieser Erkenntnis nickte Miss Parker nur.

"Merkwürdig - wieso überrascht mich das gar nicht? Ich nehme an, Sie wissen schon, was mir mit ihm passiert ist?"

Auch Sydney nickte nur, drehte sich aber wieder zu ihr um.

"Ich bin mir nicht sicher, was mit ihm los ist. Das da unten ist nicht der Jarod, den Sie mal gekannt haben. Er zieht irgend eine verrückte Nummer ab. Warum, weiß ich nicht, und es kümmert mich auch nicht. Was mich betrifft, kann Raines mit ihm machen, was er will."

"Miss Parker!" Echtes Entsetzen ließ Sydneys Stimme vibrieren. "Das meinen Sie nicht ernst."

"So ernst wie das, was er zu mir gesagt hat", antwortete sie, ohne sich selbst damit zu überzeugen.

Sydney sah sie eindringlich an.

"Sie haben gesagt, daß Jarod uns etwas vorspielt?"

"Kommen Sie, Syd, das wissen Sie so gut wie ich. Ich..."

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.

"Ja?" fragte Sydney automatisch. Willie, Raines' persönlicher Sweeper, kam herein. Seine Verbände erinnerten Miss Parker unwillkürlich an Sams Schilderungen.

"Miss Parker, Mr. Raines möchte, daß Sie unverzüglich hinunter zu Jarod kommen", informierte er sie.

Sie starrte ihn an, für ein paar Sekunden sprachlos.

"Nein", stellte sie dann fest.

"Mr. Raines würde nur ungern Ihren Vater in die Sache hineinziehen."

Miss Parker holte tief Luft, besann sich aber eines besseren. Ihren Zorn an Willie zu verschwenden, war sinnlos; sie würde ihn sich lieber für Raines aufheben.

"Ich komme", sagte sie gepreßt. Was hatte Raines jetzt schon wieder vor? Und wieso wollte er, daß ausgerechnet sie zu Jarod kam?

Willie wandte sich zum Gehen, während Miss Parker mit einem trockenen Lächeln zu Sydney sah.

"Vielleicht ist Ihre Methode ja doch besser", sagte sie fast sanft. In Sydneys Blick lag eine Mischung aus Sorge und Mitgefühl. Er nickte beinahe unmerklich, und seine Lippen deuteten den Hauch eines Lächelns an.

"Vielleicht", hörte sie seine leise Antwort, als sie schon halb zur Tür hinaus war.

Der Weg zu Jarods Unterkunft kam ihr dieses Mal noch länger vor. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um die Frage, was Raines vorhatte. Aber fast noch mehr fragte sie sich, was Jarod damit zu tun haben mochte.

Es dauerte nicht lange, bis sie zum zweiten Mal vor der Tür stand, die zu Jarods Zimmer führte. Sam war nicht da; an seiner Stelle öffnete ihr einer von Raines' Sweepern die Tür.

Mit einiger Überwindung betrat sie den kleinen Raum. Hier unten war die Erinnerung an die schmerzhaften Worte viel deutlicher, der nagende Zweifel ungleich lauter. 'Was, wenn er recht hat?'

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich jetzt nicht von so etwas ablenken lassen.

"Hallo, Miss Parker."

Es war Jarod, der sie begrüßte, nicht Raines. Miss Parker durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Er saß an einem Tisch, einen selbstgerechten Ausdruck in den Augen. Jetzt, im Licht, sah er noch schlimmer aus als in der letzten Nacht.

"Wo ist Raines?" wollte sie wissen.

"Hm, nicht hier."

"Das sehe ich selbst", brachte sie mühsam beherrscht hervor. "Warum bin ich hier?"

Jarod stand auf.

"Ah, eine gute Frage. Weißt du, es ist einsam hier." Er machte eine Pause und musterte sie auf eine Weise, die sie viel zu sehr an ihr letztes Treffen erinnerte. Nach einer kleinen Ewigkeit fuhr er fort. "Raines war großzügig. Als Gegenleistung für meine Dienste als Pretender hat er mir ein paar... Vergünstigungen zugestanden."

"Und ich bin eine davon", schloß Miss Parker und lachte laut auf. "Du hast ja wohl den Verstand verloren, wenn du glaubst, daß ich mich darauf einlasse."

Der Pretender erwiderte ihren Blick mit einer Gelassenheit, die sie fast noch wütender machte als das, was er gerade gesagt hatte. Jarod neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Vielleicht interessiert es dich, daß dein Vater ein Teil meines Handels mit Raines ist."

Seine Worte reizten sie genug, um sie jegliche Vorsicht vergessen zu lassen. Voller Wut bewegte sie sich auf ihn zu. Ihre Geschwindigkeit war groß genug, um ihn von den Füßen zu reißen. Wie schon einmal prallten sie gegen die Wand gegenüber der Tür, doch diesmal war sie es, die ihn gegen den harten Stein drängte. Miss Parker preßte ihren rechten Arm gegen seine Kehle und starrte ihn zornig an.

"Nicht einmal für meinen Vater lasse ich mich auf diese Weise benutzen!" zischte sie.

"Deine Schulter", erinnerte er sie, sein Tonfall auf einmal weich. Verwirrt wich sie einen Schritt zurück, um in seine Augen zu sehen. Das seltsame Gefühl, das sie in der Nacht schon einmal gespürt hatte, kehrte zurück - und sie hatte genug davon.

"Was zum Teufel ist hier los?" fragte sie, und der eisige Unterton in ihrer Stimme machte deutlich, daß sie keine weiteren Ausflüchte akzeptieren würde. Sie sah in Jarods Augen, versuchte darin zu lesen, wie sie es als Kind so oft getan hatte.

Letzte Nacht war es dafür zu dunkel gewesen; deshalb hatte seine Scharade auch funktioniert. Denn genau das war es gewesen, das begriff Miss Parker jetzt, als sie das Mitgefühl und die stumme Bitte um Entschuldigung in seinem Blick sah.

"Jarod?"

Ihre Stimme war leise, spiegelte deutlich ihre Verwirrung wider. Nur am Rande war sie sich der Tatsache bewußt, daß sie knapp außerhalb des Erfassungsbereichs der beiden Kameras standen - anders als letzte Nacht.

Jarod sah sie noch immer an.

"Es tut mir leid", wisperte er, beinahe unhörbar leise. Dann beugte er sich vor, kam ihr dadurch wieder näher. Seine Haltung hatte nichts Drohendes, wirkte eher besänftigend. Mit der rechten Hand strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, ließ seine Fingerspitzen dann über ihre Stirn und ihre Wange gleiten. Die andere Hand legte er ganz leicht auf ihre verletzte Schulter.

Miss Parker konnte nur dastehen und ihn ansehen. Das Gefühl, daß etwas falsch lief, war verschwunden. Dieses Mal fühlte sich alles... richtig an. Sie betrachtete ihn eingehend, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, seine zerzausten Haare und den Ausdruck in seinen Augen. Etwas Verzweifeltes lag darin, so, als suche er etwas, das zwar in Sichtweite war, das er aber nicht erreichen konnte. Bevor sie sich näher mit dem Gedanken befassen konnte, spürte sie die Berührung seiner Lippen auf ihren.

Dieser Kuß diente nicht dazu, Macht oder Kontrolle zu erlangen. Jarod küßte sie sanft, zärtlich, voller Wärme. Seine Gefühle waren echt, soviel wußte Miss Parker mit Sicherheit. Trotzdem machte Jarods Verhalten für sie keinen Sinn.

Ihre Gedanken zerstoben, als Jarod den Kuß vertiefte. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten, verlor sich für einen kostbaren Moment in der wundervollen Wärme, die sie durchströmte. Dann löste sie sich von ihm, aus Angst, was sonst passieren mochte.

Miss Parker trat einen Schritt zurück und musterte den Pretender mit gefurchter Stirn. Mehrere Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber sie stellte keine davon. Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf, drehte sich dann um und ging zur Tür.

"Miss Parker."

Sie drehte sich nicht um, zögerte aber kurz, bevor sie die Hand hob und einmal kräftig an die Tür klopfte. Nur Sekunden später hatte sie den Raum verlassen. Auf ihrem Weg zurück ins Erdgeschoß des Centres hörte sie immer wieder das Geräusch, mit dem die schwere Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war.

aaaaaaaaaaaaaa

"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen etwas Gesellschaft leiste, Miss Parker?"

Es war fast Mittag, als Sydneys ruhige Stimme sie aufsehen ließ. Sie saß am Rand einer der Springbrunnen, von denen es im Eingangsbereich des Centres gleich mehrere gab. Das leise Plätschern hatte sie für eine Weile abgelenkt, und später hatte sie hin und wieder kleine Steine in das klare Wasser geworfen. Noch immer hielt sie einige in ihrer Hand.

"Sie haben ja Ihr Büro verlassen", stellte sie das Offensichtliche fest.

"Man kann sich nicht für immer einschließen. Nicht in seinem Büro, und auch nicht an dem Ort, an den Sie sich zurückgezogen haben."

Erst jetzt begegnete sie seinem Blick.

"Wie philosophisch", entgegnete sie mit einem feinen Lächeln. "Oder sollte ich sagen 'psychologisch'?"

Sie deutete auf den marmornen Rand des Springbrunnens, und Sydney folgte ihrer unausgesprochenen Einladung, ließ sich neben ihr nieder.

"Wo haben Sie Ihre Schlinge gelassen?" erkundigte er sich.

Miss Parker lächelte humorlos.

"Ich habe versucht, Jarod damit zu erwürgen", erklärte sie und wünschte sich beinahe, es wäre die Wahrheit.

Abwesend ließ sie einen weiteren Stein ins Wasser fallen. Nachdenklich betrachtete sie die winzigen Wellen, die sich auf der Oberfläche ausbreiteten. Ein weiterer Stein folgte dem ersten, erzeugte ebenfalls Wellen. Komplizierte Muster entstanden auf der Wasseroberfläche, als sich die Wellen gegenseitig verstärkten und auslöschten.

Genauso war es auch immer mit Jarod, überlegte Miss Parker. In ihrem Leben hatte sie immer die Auswirkungen seines Handelns zu spüren bekommen. Sein Tun hatte ihr Leben beeinflußt, mal stärker, mal schwächer, aber immer erkennbar.

"Was glauben Sie, was mit Jarod los ist?" erkundigte sie sich nach einer Weile bei Sydney. "Sie kennen ihn doch."

"Genau wie Sie. Vielleicht sogar nicht ganz so gut", erwiderte er nachdenklich.

Miss Parker ließ ihren Atem mit einem Seufzen entweichen.

"Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. Wenn Sie mich fragen, hat Raines ihm nicht nur Beruhigungsmittel verabreicht. So, wie er sich aufführt, würde ich viel eher auf LSD tippen."

Sydney verzog das Gesicht.

"Vielleicht haben Sie recht. Gott, wenn Raines irgend welche Experimente mit Jarod macht..."

"Beruhigen Sie sich, Syd", sagte Miss Parker. "Ich bezweifle, daß Raines ihm Schaden zufügen wird, schließlich braucht er ihn noch."

Sie schwieg, starrte nachdenklich ins Leere. Wieso verhielt sich Jarod so merkwürdig? Zuerst tat er alles, um sie zu verletzen, und beim nächsten Treffen verhielt er sich völlig gegensätzlich. Miss Parker fühlte Sydneys Blick auf sich ruhen.

"Sagen Sie mir, was er von mir will", bat sie ihn. "Ich werde nicht schlau aus ihm."

"Jarod sucht menschliche Zuwendung. Ich glaube, er vermißt Ihre Wärme."

Miss Parker lachte ungläubig.

"Ja, genau."

Sydney sah sie an, und in seinem Blick lag nichts als Ernsthaftigkeit.

"Denken Sie doch mal für einen Moment darüber nach, Miss Parker", forderte er sie auf. "Das Centre hat ihn von seiner Familie getrennt, an die er sich kaum erinnern kann. Er ist hier allein aufgewachsen - ohne Familie, und mit nur ganz wenigen Freunden. Die einzige Person, von der er jemals menschliche Wärme erfahren hat, sind Sie."

"Wenn es wirklich das ist, was er will", erwiderte sie nachdenklich, "dann kommt er ein paar Jahre zu spät. Damals waren wir doch noch Kinder. Was wußte ich schon von ihm oder dem Centre?"

'Genug', flüsterte ihre innere Stimme, als sie über Sydneys Worte nachdachte. Sie erinnerte sich an den merkwürdigen Ausdruck in Jarods Augen, kurz bevor er sie geküßt hatte. So, als würde er etwas suchen, das nah und gleichzeitig unerreichbar fern war. Konnte Sydney recht haben? Der Gedanke erschien ihr abwegig. Selbst wenn es stimmte, dann wünschte sich Jarod etwas, das nicht erfüllbar war. Er vermißte das Mädchen, das sie vor so vielen Jahren gewesen war. Aber die Zuwendung, die er von diesem Mädchen erfahren hatte, konnte er nicht von der erwachsenen Frau bekommen. Oder vielleicht doch?

"Sie haben mit mir nie darüber gesprochen, Miss Parker, deshalb kann ich nur vermuten, wie Sie Ihre Beziehung zu Jarod sehen. Aber was Jarod angeht... In den letzten drei Jahren hat er Kontakt zu Ihnen gehalten, und er hat Ihnen geholfen, mehr über sich selbst und über Ihre Vergangenheit herauszufinden. Halten Sie es nicht für möglich, daß eine Verbindung zwischen Ihnen existiert?"

Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite, betrachtete ihre Spiegelung in der Wasseroberfläche. Nach ein paar Sekunden tauchte sie ihre Hand ins Wasser, zerstörte das ruhige Bild. Angespannt sah sie auf die Wellen, während sie überlegte, was sie auf Sydneys Frage antworten sollte. Früher hatte sie hin und wieder darüber nachgedacht, aber seit Tommys Tod beschäftigten sie andere Dinge. Sie lächelte humorlos. Es war immer einfacher gewesen, nicht über Jarod nachzudenken.

"Miss Parker?"

Sydneys Tonfall veranlaßte sie, sich ihm wieder zuzuwenden. Er musterte sie kurz, dann lächelte er warm.

"Kommen Sie, ich lade Sie zum Mittagessen ein. Es wird uns beiden guttun, etwas Zeit außerhalb des Centres zu verbringen."

"Okay, warum nicht", stimmte sie zu und erwiderte das Lächeln, gerade lang genug, daß er es bemerken konnte.

aaaaaaaaaaaaaa

"...glaube ich nicht, daß Raines Jarod irgendwie dazu bewegen kann, wieder für das Centre zu arbeiten. Er wird sicher..."

Eine Weile hatte sich Miss Parker wirklich bemüht, Sydneys Ausführungen zu folgen, aber ihr gingen einfach zu viele Gedanken im Kopf herum. Zu viele Probleme verlangten ihre Aufmerksamkeit. Wieso verhielten sich plötzlich alle Leute so merkwürdig? Zuerst ihr Vater, dann Jarod, und auch Sydney schien nicht ganz er selbst zu sein. Oder lag es vielleicht an ihr? War sie diejenige, die sich anders benahm als sonst? Aber vielleicht nahm sie nur alles anders wahr als üblich.

Sie seufzte lautlos und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Syd hatte sie in eins der besseren Restaurants von Blue Cove eingeladen, und normalerweise fühlte sie sich hier sehr wohl. Im Moment allerdings hatte sie weder einen Blick für die geschmackvolle Einrichtung, noch für die eleganten Kunstwerke, die in dem großen Raum ausgestellt waren. Ihr Blick reichte ins Leere, während sie versuchte, ihre Gefühle zu analysieren oder wenigstens einige von ihnen zu benennen.

"Miss Parker?"

Überrascht sah sie auf. Erst jetzt fiel ihr auf, daß Sydney sie schon zweimal leise angesprochen hatte.

"Sie haben nicht ein Wort von dem gehört, was ich in den letzten fünf Minuten gesagt habe, habe ich recht?" erkundigte er sich, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Statt dessen klang er eher besorgt.

"Tut mir leid", antwortete Miss Parker mit gerunzelter Stirn. Es gefiel ihr selbst nicht, daß sie sich einfach nicht auf Sydney konzentrieren konnte. Normalerweise entschied sie sich aus freien Stücken dazu, jemandem nicht zuzuhören.

"Ich schätze, ich muß nur einfach mal wieder ausschlafen", erklärte sie mit einem leichten Schulterzucken. Jetzt legte auch Sydney die Stirn in Falten.

"Vermutlich wollen Sie das gar nicht hören, aber ich geben Ihnen trotzdem einen ärztlichen Rat. Ich kann sehen, wie erschöpft Sie sind. Mir ist das schon früher aufgefallen - seit Tommy gestorben ist."

"Ermordet wurde", berichtigte sie ihn scharf. Er neigte nur leicht den Kopf zur Seite.

"Wie auch immer. Bis jetzt habe ich nichts gesagt, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, selbst mit allem fertig zu werden. Schließlich weiß ich, was sie von Einmischungen halten. Aber jetzt bin ich der Meinung, daß Sie meine Hilfe annehmen sollten - oder wenigstens meinen Rat."

Miss Parker musterte ihn. Ihr war klar, daß er nur um sie besorgt war, und außerdem hatte er nicht unrecht. Sie wurde tatsächlich nur schwer mit allem fertig.

"Also, wie lautet Ihr Rat?" fragte sie sanft. Sydney erwiderte ihren Blick, wirkte gleichermaßen erstaunt und erleichtert.

"Urlaub. Machen Sie Urlaub. Lassen Sie das Centre hinter sich, wenigstens für eine Weile. Das wird besser für Sie sein, als Sie sich jetzt vielleicht vorstellen können. Wenn Sie etwas Abstand von allem gewinnen, werden Sie einiges klarer sehen."

Später fragte sie sich, ob es seine Worte oder einfach nur sein Tonfall gewesen waren, die sie überzeugt hatten. Wahrscheinlich die Kombination aus beidem. Die Idee war wirklich verlockend. Und sie wußte auch schon genau, wo sie ihren Urlaub verbringen wollte.

"Eigentlich klingt das gar nicht so übel. Mein letzter Urlaub ist schon lange her. Wenn mich mein Vater gehen läßt, dann werde ich mir ein paar Tage frei nehmen."

"Machen Sie eine ganze Woche daraus. Oder besser noch zwei", schlug Sydney enthusiastisch vor. Miss Parker hob amüsiert eine Braue.

"Wollen Sie mich loswerden?" Sie senkte die Stimme. "Lassen Sie mich raten, Sie wollen Jarod bei der Flucht aus dem Centre helfen, und dazu wollen Sie mich aus dem Weg schaffen."

Sydney lächelte schwach.

"Im Moment glaube ich nicht, daß er meine Hilfe annehmen würde", erwiderte er viel zu ernst. Miss Parker verspürte einen Stich der Mißbilligung. Das war noch etwas, das sie Jarod übelnahm. Syd hatte es von allen Menschen in Jarods Leben am wenigsten verdient, daß er ihn so behandelte. Schließlich hatte Sydney es immer nur gut gemeint.

Jetzt war es Sydney, der abwesend wirkte, aber schon nach ein paar Sekunden sah er wieder auf. Er nickte leicht in Richtung ihres Tellers, auf dem sich noch immer der größte Teil ihres Mittagessens befand.

"Mir ist aufgefallen, daß sie kaum noch etwas essen", sagte er ruhig. Mit einer sanften Bewegung legte er seine Hand auf ihre. "Sie müssen besser auf sich achten, besonders nach Ihrer Verletzung. Sonst werden Sie sich nie besser fühlen."

"In letzter Zeit glaube ich das auch häufig", erwiderte sie, und ihr Tonfall war nur halb so düster, wie sie sich fühlte.

aaaaaaaaaaaaaa

Ihr Büro wirkte merkwürdig leer, als Miss Parker am Nachmittag dorthin zurückkehrte. Sie hatte mit ihrem Vater gesprochen. Er hatte ihr gesagt, daß er sich ebenfalls Sorgen um sie machte, und daß er froh wäre, wenn sie sich etwas erholen würde. Sein Einverständnis hatte sie ein wenig überrascht, aber sie schob sein Verhalten auf die Schuldgefühle, die er offenbar noch immer hatte.

Mit einem gedankenverlorenen Lächeln schob sie die Gedanken an ihren Vater fort, wandte sich statt dessen endlich ihren Urlaubsplänen zu. Sie griff nach ihrem Handy und wählte eine Nummer, die sie zwar so gut wie nie benutzte, die ihr aber trotzdem vertraut war. Es dauerte fast eine Minute, bis sich am anderen Ende jemand meldete.

"Hallo?"

"Hallo, Ben", begrüßte sie ihn warm.

"Miss Parker! Wie schön, etwas von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen?"

Einen Moment lang war sie versucht, ihm von Tommy zu erzählen, von Major Charles, von ihrer Verletzung. Dann entschied sie sich dagegen, ihren ganzen Ballast einfach bei ihm abzuladen. Vielleicht konnte sie ihm alles persönlich erzählen.

"Es geht", erwiderte sie ausweichend. "Was ist mit Ihnen?"

"Oh, hier ist alles prächtig", antwortete Ben in seinem ruhigen Tonfall. Als er eine kurze Pause machte, versuchte sie, sich sein Gesicht vorzustellen, besonders die warmen Augen, die sie für all die Kälte entschädigten, die sie so oft bei ihrem Vater gesehen hatte. "Gibt es einen bestimmten Grund für Ihren Anruf? Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?"

Miss Parker lächelte. Bei ihm fiel es ihr leicht, ihn um etwas zu bitten.

"Das können Sie tatsächlich. Ich... würde Sie gerne für ein paar Tage besuchen, wenn Sie nichts dagegen haben. Meinen Urlaub bei Ihnen verbringen."

Gespannt wartete sie auf seine Antwort.

"Natürlich, Miss Parker, sehr gerne", sagte er sofort, und sie konnte hören, daß die Freude über ihre Bitte in seiner Stimme echt war. Doch kurz darauf schlich sich ein enttäuschter Tonfall ein. "Oh, aber das habe ich ganz vergessen. Ich muß für drei oder vier Tage wegfahren und kann das leider nicht verschieben. Können Sie nicht etwas später kommen? Es sind doch nur ein paar Tage."

Sie bemühte sich, nicht enttäuscht zu sein, aber es gelang ihr nicht.

"Das... ist schon in Ordnung", entgegnete sie, bemüht, sich nichts anhören zu lassen.

"Nein, das ist es nicht. Ich würde Sie gerne wiedersehen. Hören Sie, kommen Sie einfach her, wann immer Sie wollen. Ich werde Ihnen einen Schlüssel dalassen. Ehrlich gesagt wäre ich ganz froh, wenn jemand auf das Haus aufpassen würde, solange ich weg bin."

Miss Parker konnte beinahe sein verschmitztes Lächeln sehen.

"Okay, ich wollte ohnehin so bald wie möglich aufbrechen. Und Sie wollen mir wirklich Ihr Haus anvertrauen?"

Er lachte leise.

"Natürlich, Miss Parker. In gewisser Weise ist es ja auch Ihr Haus", erinnerte er sie sanft.

"Danke, Ben", erwiderte sie voller Wärme. "Ich freue mich schon sehr darauf, Sie wiederzusehen."

"Das tue ich auch. Fühlen Sie sich bitte ganz wie zu Hause. Bis in ein paar Tagen, Miss Parker."

"Auf Wiedersehen, Ben."

aaaaaaaaaaaaaa

Es begann schon dunkel zu werden, als Miss Parker ihren Wagen die Auffahrt zu Ben Millers Haus hinauf lenkte. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie so etwas wie Entspannung, und ihre Gedanken drehten sich ausnahmsweise nicht ums Centre.

Selbst im Zwielicht der Dämmerung sah das Haus gemütlich, fast heimisch aus. Sie parkte den Wagen, stellte den Motor aus und stieg aus dem Auto. Vom Rücksitz nahm sie ihre Reisetasche, bevor sie die Zentralverriegelung aktivierte und zum Haus ging.

Ben hatte versprochen, ihr einen Schlüssel dazulassen - leider hatte er nicht gesagt, wo er ihn versteckt hatte. Miss Parker lächelte. Sicher war er nicht zu gut versteckt, schließlich lebte Ben in einer sicheren Gegend. Eigentlich war es ja nicht einmal nötig, daß sie auf das Haus aufpaßte, aber sie freute sich über die Gelegenheit, etwas Zeit hier zu verbringen. Ihre Mutter hatte sich hier so wohl gefühlt. Möglicherweise gelang ihr das ja auch.

Nach einer kurzen Suche entdeckte sie den Schlüssel schließlich unter einem Blumentopf neben der Haustür. Mit einem Kopfschütteln nahm sie ihn an sich und schloß auf.

aaaaaaaaaaaaaa

Es war sehr viel später, als Miss Parker das nächste Mal auf die Uhr sah. Überrascht kniff sie die Augen zusammen. Schon fast halb vier Uhr morgens. Wo war die Zeit geblieben?

Trotz ihrer Müdigkeit hatte sie sich dagegen entschieden, ins Bett zu gehen und es sich statt dessen in Bens Wohnzimmer bequem gemacht. Dort saß sie jetzt auf dem Sofa, locker in eine Decke gehüllt, ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Wenn sie ehrlich war, dann konnte sie sich an kaum etwas von dem erinnern, was sie in den letzten Stunden gelesen hatte. Zu oft waren ihre Gedanken von der ohnehin nur dünnen Handlung abgeschweift.

Seufzend schloß sie das Buch und legte es vor sich auf den niedrigen Couchtisch. Das Feuer im Kamin mußte schon vor einer ganzen Weile ausgegangen sein; sie hatte es nicht einmal bemerkt. Beinahe verärgert runzelte sie die Stirn. Sie mußte endlich etwas gegen ihre Unaufmerksamkeit unternehmen. Früher oder später konnte Unachtsamkeit im Centre unangenehme Folgen haben, die meisten davon endgültiger Natur.

Miss Parker wehrte sich nicht, als ihr die Augen zufielen. Einschlafen würde sie sowieso nicht, dafür waren ihre Gedanken viel zu unruhig. Weitaus schwerer fiel es ihr, sich mit einigen dieser Gedanken auseinanderzusetzen. Besonders eine Frage beschäftigte sie, und das schon seit ihrem Gespräch mit Sydney.

Die Situation zwischen ihr und Jarod war bei ihrem ersten Treffen mehr als gespannt gewesen, und viel zu deutlich erinnerte sie sich noch an die Angst, die sie für eine Weile in ihrem lähmenden Griff gehalten hatte. Es war nicht Jarod gewesen, der ihr angst gemacht hatte, sonder vielmehr ihr eigenes Verhalten. Im Nachhinein gesehen, hatte sie sich mehr als unklug verhalten. Nicht nur, daß sie unvorsichtig gewesen war - sie hatte Jarod außerdem erlaubt, die Kontrolle zu erlangen.

Wieso hatte sie Sam nicht hereingerufen?

Diese Frage stellte sie sich immer wieder, aber bis jetzt hatte sie sich geweigert, die einzige Antwort zu akzeptieren, die ihr plausibel erschien. 'Weil du weißt, daß Jarod dir nie wehtun würde', flüsterte die leise Stimme in ihrem Hinterkopf, die sich nie völlig unterdrücken ließ.

Genau das war der springende Punkt. Bis gestern war sich Miss Parker völlig sicher gewesen, daß Jarod sie nicht absichtlich verletzen würde. Doch er hatte es getan, nicht physisch, aber emotional. Ein Teil des Schmerzes, den sie noch immer deswegen empfand, war aus ihrem verletzten Vertrauen zu Jarod entstanden. Er hatte eine Grenze überschritten und mit diesem Schritt etwas tief in ihr erschüttert.

Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihm noch immer vertraute. Was er bei ihrem nächsten Treffen gesagt und getan hatte, hatte ihre Zweifel nur verstärkt, den Schmerz nur noch weiter vertieft. Wenn doch nur...

"Ich weiß, daß du nicht schläfst."

Miss Parker riß die Augen auf, als sie die dunkle, ruhige Stimme hörte. Er konnte unmöglich hier sein. Raines hatte ihn tief unter dem Centre eingesperrt; er war absolut sicher verwahrt. Die Erleichterung, die sie erfüllte, als sie niemanden sah, war schon fast hysterisch. Natürlich war er nicht hier. Sie entspannte sich wieder. Nur einen Augenblick später spannte sie sich jedoch wieder an. Ein Geräusch ließ sie herumfahren.

Dort stand er, direkt hinter der Couch. Jarod sah noch verwahrloster aus als bei ihrer letzten Begegnung. Allein seine Augen wirkten wach und aufmerksam wie immer, musterten sie angespannt, abwartend.

"Du bist entkommen", wisperte sie, als sie sich endlich von ihrer Überraschung erholt hatte. Eine merkwürdige Mischung aus Bewunderung, Wut und Resignation breitete sich in ihr aus, machte es ihr noch schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Er zuckte mit den Schultern.

"Nichts könnte mich dazu bringen, je wieder im Centre zu leben. Ich würde alles riskieren, um das zu verhindern."

Seine Stimme hatte einen spröden Klang, der seine tiefe Erschöpfung und auch seine emotionale Anspannung verriet. Miss Parker fühlte Mitleid in sich aufsteigen und tat alles, um die ungebetene Emotion im Keim zu ersticken. Jarod hatte ihr Mitleid nicht verdient, nicht nachdem er Sydney und auch sie selbst so sehr verletzt hatte. Vorsichtig straffte sie ihre Schultern, erwiderte seinen Blick so unbewegt wie möglich.

"Dann geh. Verschwinde von hier und lauf. Ich habe dich hier nie gesehen. Du hast einen Vorsprung, bis mich das Centre offiziell über deine Flucht informiert", sagte sie entschieden.

Sein Blick ruhte noch immer auf ihr, als er den Kopf zur Seite neigte. Er schien ihr Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

"Deswegen bin ich nicht hergekommen", erwiderte er schließlich.

"Das ist mir egal", fuhr sie auf. "Ich habe es satt. Drei Jahre habe ich damit verschwendet, dich zu jagen. Jetzt ist Schluß damit! Ich will, daß du gehst. Ich will, daß du mich in Ruhe läßt. Und ich will dich nie wiedersehen."

Die Härte in ihrer Stimme erstaunte sie fast selbst. Sie benutzte ihre Worte, um ihm damit so weh zu tun, wie er es mit der einen Äußerung getan hatte, die noch immer zwischen ihnen stand.

"Das meinst du nicht ernst", sagte Jarod sehr sanft. Der verletzliche Ausdruck in seinen Augen verlieh seinen Worten eine unerwartete Tiefe.

Miss Parker lachte leise auf, aber es klang nicht im mindesten amüsiert.

"Komisch, plötzlich scheint jeder außer mir selbst besser zu wissen, was ich empfinde und denke." Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, sich mit ihm auf eine Unterhaltung einzulassen, aber sie hatte Angst vor dem Schmerz, den Jarod in ihr zu erwecken vermochte.

"Geh jetzt", sagte sie einfach.

"Ich kann nicht", entgegnete er. "Noch nicht."

Sie spürte, daß ihre Geduld bald zur Neige gehen würde - und dann war da noch der Schmerz, der irgendwo in ihr lauerte, stark genug, um sie zu zerstören. Ihr fiel nur eine wirksame Waffe dagegen ein; dieselbe, die sie seit Jarods erster Flucht vor drei Jahren immer wieder benutzt hatte.

"Verschwinde", zischte sie verärgert, verwendete ihre Wut als Schutz gegen ihn.

Überrascht registrierte sie, wie auch Jarods Gesicht für einen Moment einen wütenden Ausdruck annahm.

"Verdammt! Ich bin nur hier, um mich bei dir zu entschuldigen! Wieso kannst du mir nicht einfach für einen Augenblick zuhören?" fuhr er auf. Nur Sekunden später schien er seinen Ausbruch bereits wieder zu bereuen.

Miss Parker musterte ihn lange, während sie überlegte, was sie tun sollte. Der Gedanke, von ihm eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten zu bekommen, war durchaus verlockend. Aber das hier war Jarod; sie konnte also nicht sicher sein, was er wirklich vorhatte. Schließlich gab sie ihre Vorsicht auf und entschied, ihm wenigstens zuzuhören. Nur ein winziger Teil von ihr war erstaunt darüber, daß sie ihm noch immer vertraute.

"Okay, ich werde dir zuhören", sagte sie mit einem Seufzen. "Wenn du mir schwörst, daß du mich dann endlich in Ruhe lassen wirst."

Er sah sie mit einem undeutbaren Ausdruck in den Augen an.

"Wenn du darauf bestehst", meinte er dann mit einem Schulterzucken. Jarod ging zu einem der Sessel, die zu beiden Seiten des Kamins standen, und setzte sich auf die Lehne. Nur für einen Sekundenbruchteil glitt sein Blick von ihr fort, ruhte kurz auf seinen Händen. Dann sah er ihr wieder in die Augen.

Miss Parker hielt unwillkürlich den Atem an. Mehr denn je wirkte er plötzlich wieder wie ein kleiner Junge, sah verloren, beinahe hilflos aus.

"Es tut mir wirklich leid", begann er leise, und in seiner Stimme vibrierte echter Schmerz. "Was in den letzten Tagen passiert ist... Ich hätte das nie tun dürfen - aber ich habe keinen anderen Weg mehr gesehen."

"Verrätst du mir vielleicht auch, was du meinst?" erkundigte sich Miss Parker und stellte leicht verblüfft fest, daß ihre Stimme sanft, fast weich klang. Eigentlich hatte sie ihre Frage in einem schneidenden Tonfall stellen wollen.

Jarod schloß ganz kurz die Augen, bevor er weiter sprach.

"Ich... hätte das nie sagen dürfen. Vor allem, weil ich es nicht so gemeint habe, aber auch, weil ich wußte, wie weh ich dir damit tun würde."

"Du kannst mir nicht weh tun. Niemand kann das, weil ich es nicht zulasse", stellte sie fest, aber sie wußten beide, daß es nicht stimmte. Einen Herzschlag lang lächelte er traurig.

"Es tut mir leid", wiederholte er. "Leider kann ich nicht ungeschehen machen, was ich gesagt habe, aber vielleicht läßt du es mich wiedergutmachen."

Noch einmal schweifte sein Blick fort von ihr, länger diesmal. Er schluckte schwer und schien mit sich zu ringen. Schließlich sah er sie doch wieder an.

"Ich möchte mich auch für das entschuldigen, was ich getan habe", erklärte er sehr sanft.

Miss Parker sah ihn nur fragend an, auch wenn sie ahnte, worauf er hinauswollte.

"Thomas ist erst seit kurzem tot. Ich hätte nicht... hätte mich dir nicht auf diese Weise nähern dürfen", brachte er hervor. Es klang fast so, als wäre er erleichtert, daß er es endlich ausgesprochen hatte. Die ganze Sache mußte ihn also ebenfalls belastet haben. Diese Erkenntnis erleichterte Miss Parker mehr, als sie erwartet hätte.

"Du sprichst von deinem Angriff auf mich?" hakte sie nach.

"Nein! Ja..." Verwirrung zeichnete sich für einen Moment in seinen Zügen ab, vermischt mit Verlegenheit. "Du weißt, was ich meine. Der Kuß..."

"Ja", erwiderte Miss Parker leise, nachdenklich. Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, und sie sprach ihn aus, ohne lange darüber nachzudenken. "Welcher Kuß tut dir leid?" fragte sie ihn, hauptsächlich aus Neugier.

Er zögerte recht lange, bevor er ihre Frage beantwortete.

"Beide", sagte er dann. "Aber nicht beide auf dieselbe Weise."

Erst jetzt bemerkte Miss Parker, daß sie sich angespannt nach vorne gebeugt hatte. Ihre verletzte Schulter brachte sich schmerzhaft in Erinnerung, deshalb lehnte sie sich wieder zurück, versuchte bewußt, sich zu entspannen.

"Nicht auf dieselbe Weise?"

Jarod nickte langsam, wirkte jetzt nicht mehr verlegen, sondern eher erleichtert darüber, daß sie versuchte, ihn zu verstehen. Er atmete tief ein und wieder aus, schien ebenfalls zu versuchen, sich zu entspannen.

"Als du gestern nacht zu mir gekommen bist... Ich wußte, daß du es bist, von der Sekunde an, als du den Raum betreten hast."

"Der Angriff war also geplant", folgerte sie. "Soweit verstehe ich dich ja noch. Aber was ist mit dem Rest? Warum der Kuß?"

"Ich... bin nicht sicher", erwiderte er ausweichend.

"Jarod."

Angespannt ließ er seinen Atem entweichen.

"Kontrolle", sagte er. "Ich wollte die Kontrolle, wenigstens über diese eine Situation. Aber... ich war nicht ich selbst."

"Ich weiß."

Miss Parker gab sich für den Moment mit seiner Erklärung zufrieden, aber sie war sich fast sicher, daß noch mehr dahintersteckte. Die Tatsache, daß seine Erklärung sich weitgehend mit ihren Vermutungen deckte, ließ sie glauben, daß er ihr nur das erzählte, was sie hören wollte. Aus irgend einem Grund verschwieg er ihr seine wahren Beweggründe.

Und was das zweite Treffen anging... Da war Jarod er selbst gewesen, hatte nicht seine besonderen Talente benutzt. Was das anging, war sie absolut sicher. Bevor sie ihm eine entsprechende Frage stellen konnte, fuhr er von sich aus fort.

"Ich habe die ganze Nacht über das nachgedacht, was ich gesagt und getan hatte. Ein Teil von mir war noch immer überzeugt davon, daß ich dich auf diese Weise beeinflussen könnte, deshalb habe ich mit Raines einen Handel abgeschlossen. Ich wollte, daß er dich zu mir schickt. Aber als ich dich dann gesehen habe..." Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. "Mir ist klar geworden, daß ich einen Fehler gemacht habe", schloß er dann.

Miss Parker schwieg, dachte über seine Worte nach. Trotz der ehrlichen Absicht, die hinter seinen Worten steckte, fühlte sie plötzlich Wut in sich aufwallen. Was er über Tommy - und damit auch über sie - gesagt hatte, hatte sie sehr verletzt. Außerdem hatte er ihr Vertrauen in ihn schwer erschüttert, und diese Tatsache schmerzte sie fast noch mehr.

"Verdammt, Jarod!" platzte es aus ihr heraus. "Denkst du vielleicht, mein Schmerz wäre nicht groß genug? Denkst du, ich brauche dich, um alles noch schlimmer zu machen? Um mir wehzutun?"

Sie hatte nichts davon sagen wollen, aber der Druck ihrer Gefühle war einfach zu groß. Ihr war egal, daß sie sich gerade selbst widersprochen hatte, daß sie zugegeben hatte, wie sehr er sie verletzt hatte. Auch wenn sie in den letzten Jahren auf zwei verschiedenen Seiten gestanden hatte, so hatte sie doch immer gewußt, daß sie ihm vertrauen konnte. In der letzten Nacht hatte er ihr diese einzige Gewißheit in ihrem Leben weggenommen, und plötzlich fühlte sie sich so hilflos und verraten wie zuletzt nach dem Tod ihrer Mutter.

Jarod sah sie betroffen an.

"Bitte entschuldige, Parker", wisperte er und stand auf, um zu ihr zu kommen. Aber Miss Parker hielt ihn auf Distanz, sowohl mit einer abwehrenden Geste, als auch mit ihrem Blick. Sie schüttelte den Kopf, versuchte auf diese Weise, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Es gelang ihr nicht annähernd so gut, wie sie gehofft hatte, aber es mußte genügen.

Miss Parker beschloß, das Thema zu wechseln, um sich damit etwas Zeit zu verschaffen.

"Was sollte die Sache mit Sydney?" wollte sie wissen. Ihr Blick ging ins Leere, doch ihre Aufmerksamkeit ruhte trotzdem auf Jarod. Der Pretender seufzte leise.

"Ich wollte nicht mit ihm reden", entgegnete er schlicht.

"Das hat er mir auch erzählt. Die Frage ist nur: warum nicht?"

"Weil..." Er zögerte nur kurz, aber sein Tonfall veranlaßte sie, ihn wieder anzusehen. "Weil ich Angst hatte, daß ich ihn vielleicht auch verletzen könnte. Unsere Beziehung hat sich verändert, seit..."

"Seit du deinen Vater getroffen hast", beendete sie den Satz für ihn. Es fiel ihr nicht schwer, Jarod in dieser Beziehung zu verstehen. Sein ganzes Leben lang war Sydney eine Art Ersatzvater für ihn gewesen, der ihm allerdings so gut wie nie irgend welche Gefühle gezeigt hatte. Jetzt, wo er seinem richtigen Vater begegnet war, hatte sich Jarods Beziehung zu Sydney verändert. Er brauchte Sydney nun nicht mehr auf dieselbe Weise wie früher. Auch wenn sich diese Veränderung schon länger abgezeichnet hatte, war die aktuelle Situation für keinen von ihnen leicht.

Jarod nickte und ein zögerliches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.

"Es ist schon erstaunlich", sagte er, und Miss Parker glaubte, einen Hauch von Belustigung in seiner Stimme zu hören. "Wenn du dir nur etwas Mühe gibst, kannst du mich besser verstehen als jeder andere Mensch. Trotzdem hast du es nicht geschafft, mich ins Centre zurückzubringen."

Miss Parker konnte nicht anders - sie lächelte leicht, wußte sie doch, wieviel Wahrheit Jarods scherzhafte Worte enthielten.

"Wer sagt denn, daß ich versucht habe, dich zu verstehen?" erwiderte sie und stand auf, um ans Fenster zu gehen. Von dort konnte man fast den ganzen See überblicken. Als sie hinaussah, stellte sie erstaunt fest, daß auf der anderen Seite des Sees bereits die Sonne aufging. Für einen Moment vergaß sie Jarod und die widerstreitenden Gefühle, die er in ihr weckte, ließ sich einfach von der Schönheit des Augenblicks gefangennehmen.

Sie verließ das Wohnzimmer und trat hinaus auf die Veranda, wo sie sich leicht gegen das Geländer lehnte. Die ersten Strahlen der Sonne tauchten die Landschaft in goldenes Licht, tasteten sanft über ihr Gesicht und wärmten ihre Haut. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie, wusch für einen kostbaren Augenblick alles andere fort. Nur die Erinnerung an ihre Mutter begleitete dieses Gefühl, doch damit kehrten auch die Zweifel wieder zurück.

"Deine Mutter muß hier sehr glücklich gewesen sein", sagte Jarod plötzlich neben ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

"Ich hoffe es", erwiderte sie beinahe unhörbar leise. Sein wortloses Verständnis tat ihr gut, auch wenn sie sich das lange nicht eingestanden hatte. Nur einen Herzschlag später spürte sie, wie er seine Hand leicht auf ihre unverletzte Schulter legte.

"Ich bin nicht nur hergekommen, um mich zu entschuldigen."

"Ach nein?"

Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Nein. Ich wollte mich auch davon überzeugen, daß es dir besser geht. Von Angelo habe ich nicht allzu viel erfahren."

"Angelo?"

Sie drehte sich überrascht zu ihm um und verspürte kurzes Bedauern, als er seine Hand wieder von ihr zurückzog. Er hatte sie immer auf eine besondere Weise berührt, respektvoll, sanft und... Nein, sie war noch nicht bereit, die Emotion zu benennen, die sie mit seiner Berührung verband.

"Nicht lange, nachdem Raines mich ins Centre zurückgebracht hatte, hat Angelo mich besucht. Er hat mich mit Informationen versorgt. Wenn ich ihn nach dir gefragt habe, hat er immer nur gesagt 'Miss Parker hat Schmerzen'. Ich war nicht ganz sicher, wie er das gemeint hat."

"Du hast ihn nach mir gefragt?"

Jarod lachte leise auf.

"Komm schon, Parker. Hast du nicht auch langsam genug von diesem Versteckspiel? Wieso sind wir zur Abwechslung nicht einfach mal ehrlich zueinander?"

Miss Parker sah ihn kurz an, versuchte, in seinen dunklen Augen zu lesen.

"Du fängst an", meinte sie, gespannt, was er ihr zu sagen hatte. Sie wandte sich ihm ganz zu und musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht.

"Ich weiß nicht, wie es in Zukunft weitergehen wird", begann Jarod. "Aber du sollst wissen, daß du in mir immer einen Freund haben wirst. In der Vergangenheit habe ich versucht, dir so gut zu helfen, wie ich es konnte, und das werde ich auch weiterhin tun. Wenn du mich brauchst, werde ich immer für dich da sein."

"Jarod, ich..."

Er schüttelte den Kopf.

"Daraus ergeben sich keine Verpflichtungen für dich. Ich erwarte keine Gegenleistung von dir. Mir ist klar, daß du für das Centre arbeitest, aber..."

Jarod streckte ihr seine Hand entgegen.

"Freunde?" fragte er in einem Tonfall, der jede Ablehnung in ihr im Keim erstickte. Warum eigentlich nicht? Sie ergriff seine Hand und drückte sie, fühlte die angenehm sanfte Berührung seiner warmen Finger.

"In Ordnung. Ich bin allerdings nicht überzeugt davon, daß das funktionieren wird. Wir sind einfach zu verschieden."

"Abwarten, Miss Parker. Abwarten", erwiderte mit einer Zuversicht, die sie gerne geteilt hätte. Beinahe widerwillig lies sie seine Hand wieder los und drehte sich wieder so, daß sie den See und die aufgehende Sonne im Blick hatte. Mit Jarod an ihrer Seite betrachtete sie den Sonnenaufgang über dem Lake Catherine, erfüllt von einer Wärme, die nichts mit der Sonne auf ihrer Haut zu tun hatte.


Ende?



Ich möchte mich an dieser Stelle bei Nicolette bedanken und hoffe, daß sich ihre Idee von einer Sammlung mit deutschen Pretender-Fanfics verwirklichen läßt!









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