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Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.
Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel.

Zur Handlung: Miss Parker sucht einen Weg, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen...



Kostbare Momente
Teil 5

von Miss Bit





Broots ging leise die Treppe hinunter. Es war mitten in der Nacht, aber er konnte einfach nicht schlafen. Vielleicht würde ihm ein kleiner Snack dabei helfen, seine Schlaflosigkeit zu überwinden.

Im Halbdunkel tappte er Richtung Küche, schüttelte dabei leicht den Kopf, als er an die Aufregung zurückdachte, die es am Abend gegeben hatte. Debbie war zum Abendessen erschienen und hatte verkündet, daß Miss Parker Kopfschmerzen hatte und deshalb ihr Zimmer heute nicht mehr verlassen würde. Die Stimmung beim Essen war daraufhin entsprechend gedrückt gewesen.

Nach dem Essen hatte Broots eine lange Diskussion mit seiner Tochter geführt, die damit geendet hatte, daß Debbie jetzt ein Zimmer für sich allein hatte, ebenso wie Angelo und Miss Parker. Broots teilte sein Zimmer mit Sydney. Noch einmal schüttelte Broots den Kopf. Irgendwie endete es immer auf diese Weise.

Im Gegensatz zu ihm hatte der Psychiater offenbar überhaupt keine Probleme mit dem Schlafen, auch wenn er sichtlich besorgt um Miss Parker war. Broots hatte lange wachgelegen und nachgedacht. Etwas stimmte nicht mit Miss Parker. Nach außen mochte sie wie immer wirken, vielleicht sogar noch aggressiver als sonst, aber Broots kannte sie besser.

In Gedanken versunken betrat er die Küche.

"Ist es nicht ein bißchen spät für einen Spaziergang, Broots?" fragte eine leise, amüsiert klingende Stimme aus der dunklen Küche. Zutiefst erschrocken stolperte Broots einen Schritt nach hinten, unterdrückte nur mit Mühe einen überraschten Aufschrei. Hastig schaltete er das Licht ein.

"Miss Parker?"

Sie saß am Küchentisch, trug einen dunkelblauen Morgenmantel über ihrem hellblauen Pyjama. Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

"Gut erkannt, Broots", stellte sie fest. Er runzelte die Stirn.

"Uh, ich wollte Sie nicht stören. Ich gehe einfach wieder nach oben..."

"Broots."

Es war ihr Tonfall, der ihn zurückhielt. Miss Parker klang nicht wie sonst. Da war eine Sanftheit in ihrem Tonfall, der sie unendlich verletzlich erschienen ließ.

"Leisten Sie mir ein bißchen Gesellschaft."

Anders als sonst stellten ihre Worte keinen Befehl dar; sie waren eine Einladung. Trotzdem hatte er keine andere Wahl, als ihre Bitte zu erfüllen. Etwas in ihrem Blick zwang ihn geradezu, sich zu ihr zu setzen.

Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er sich eine Tasse Tee machte. Sie sah müde aus. Ihre blauen Augen spiegelten nur einen Bruchteil der Vitalität wider, die sie normalerweise ausstrahlten. Die Aura der Unnahbarkeit, die Miss Parker fast immer umgab, fehlte völlig. Statt dessen wirkte sie verloren, verletzbar. 'Nein', korrigierte sich Broots in Gedanken, 'nicht verletzbar. Verletzt.'

Eine völlig irrationale Wut begann, sich in ihm auszubreiten. Er empfand Wut auf denjenigen, der sie verletzt hatte.

Wie hypnotisiert sah er sie an. Miss Parkers Blick reichte ins Leere; ihre Hände umschlossen die Kaffeetasse vor ihr auf dem Tisch so fest, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Broots fühlte eine Welle der Sympathie und der Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Selbst hier, mitten in der Nacht in einer Hütte mitten im Nirgendwo, fand er sie wunderschön.

"Möchten Sie mir erzählen, was mit Ihrem Arm passiert ist?"

Es dauerte einen Augenblick, bis ihre Worte einen Weg durch seine Gedanken fanden. Noch einen Moment später hatte er auch ihren Sinn erfaßt. Die ungewohnte Art der Formulierung überraschte ihn ein wenig. Normalerweise hätte sie wohl einfach eine Erklärung verlangt. Doch jetzt ließ sie ihm die Wahl. Broots hätte ihr in diesem Moment alles erzählt, wenn es ihm dadurch nur gelang, den tieftraurigen Ausdruck aus ihren Augen zu vertreiben.

Er nahm seinen Tee und setzte sich ebenfalls an den Tisch, direkt gegenüber von Miss Parker. Ihr Blick kehrte aus der Ferne zurück, ruhte nun auf ihm. Ohne daß er es verhindern konnte, spürte er, wie eine leichte Röte in seine Wangen stieg. Es war nicht so sehr ihr wohlwollendes Interesse, das ihn verlegen machte - viel mehr war es sein Wunsch, sie zu beschützen.

"Oh, das ist keine besonders interessante Geschichte", sagte er langsam. Fasziniert sah er, wie der Hauch eines Lächelns an ihren Mundwinkeln zupfte.

"Wieso lassen Sie mich das nicht selbst entscheiden?"

Broots schluckte. Dann räusperte er sich. Ihre Stimme klang weich wie Samt, kein Spott und keine Herablassung schwangen darin mit. Ob Catherine Parker genauso gewesen war? So sehr er es auch versuchte, er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß Miss Parkers Mutter auch nur zu einem Hauch mehr Wärme fähig gewesen war als ihre Tochter in diesem Moment ausstrahlte.

"Na gut", brachte er irgendwie hervor. "Es ist vor dem Flughafen passiert. Wir waren spät dran, und Debbie wollte sich unbedingt alles ansehen - sie hatte ja keine Ahnung, wo wir hinwollten. Nun, jedenfalls war da diese religiöse Gruppe, die direkt vor dem Gebäude eine Art Stück aufgeführt hat. Ich hatte eine... Diskussion mit Debbie, deshalb habe ich nicht auf den Weg geachtet. Zuerst bin ich mit einem der Kerle zusammengestoßen, und keine zwei Sekunden später stand ich plötzlich auf einem Stück Schnee, das durch das ganze Herumgetanze spiegelglatt geworden war. Den Rest können Sie sich sicher denken", meinte er mit einem Schulterzucken und sah hinunter auf seinen Gipsarm.

"Und warum wollten Sie das Sydney nicht erzählen?" erkundigte sich Miss Parker mit einem Lächeln, das in Broots jegliche Erinnerung an verletzende oder beleidigende Bemerkungen von ihr verblassen ließ.

"Uh, nun ja... Das war noch nicht ganz alles. Einige der Leute, die zugesehen haben, dachten, das gehörte zur Vorstellung. Sie... haben mir ein paar Münzen gegeben", murmelte er verlegen. Zu seiner Überraschung lachte Miss Parker leise. Broots lächelte, zufrieden, daß es ihm wenigstens für ein paar Sekunden gelungen war, sie von ihrer Traurigkeit abzulenken. Wärme erfüllte ihn, und es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß diese Wärme von Miss Parker kam. Er sah sie an, überlegte, wie er ihr etwas davon zurückgeben konnte. Sydney fiel ihm wieder ein.

"Miss Parker, ich... Es gibt etwas, das Sie wissen sollten", sagte er ernst. Sie erwiderte seinen Blick, runzelte ganz leicht die Stirn. Da war ein merkwürdiger Ausdruck in ihren Augen, ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte.

"Ich höre", sagte sie leise.

"Es ist Sydney", sprudelte Broots hervor. "Er hat es nicht böse gemeint, wissen Sie. Sie machen nie Urlaub, und er hat sich solche Sorgen um Sie gemacht. Sydney dachte, das hier wäre die einzige Möglichkeit, Sie mal für eine Weile vom Centre fortzubringen. Er wollte einfach nur, daß Sie sich wohlfühlen."

Ihr Blick ruhte auf ihm. Die Tiefe der Emotionen, die sich in ihren Augen widerspiegelten, überraschte ihn. Gleichzeitig fühlte er sich fast überwältigt von dem Vertrauen, das sie ihm in diesem Augenblick entgegenbrachte. Nie zuvor hatte sie ihn so offen sehen lassen, was sie empfand.

Miss Parker erhob sich langsam. Ihre Finger lösten sich von der Tasse, beinahe widerstrebend, wie es schien.

"Ich weiß, daß Syd es nur gut gemeint hat. Es war einfach nur kein guter Zeitpunkt; das ist alles."

Sie machte zwei Schritte, blieb dann neben ihm stehen und legte ihm eine Hand ganz leicht auf die Schulter.

"Sie sind ein wundervoller Vater. Debbie kann sich glücklich schätzen. Und Sie sind ein genauso guter Freund, Mr. Broots."

Er hielt den Atem an, als er hörte, wie sie ihn mit 'Mr. Broots' anredete. Hatte sie irgendeine Ahnung, wieviel ihm das bedeutete? Bevor er irgend etwas sagen konnte, hatte sie ihre Hand von ihm zurückgezogen, nur um sie einen Herzschlag lang auf seine zu legen.

"Schlafen Sie gut", wisperte sie. Dann verließ sie die Küche, ließ Broots völlig verwirrt hinter sich zurück.

Nach ein paar Minuten löste er sich aus seiner Starre. Er stand auf, machte das Licht aus und ging zurück in sein Zimmer.

"Sydney?" fragte er, dort angekommen.

Der Psychiater bewegte sich unwillig in seinem Bett.

"Mhm... was?" murmelte er schläfrig.

"Ist es möglich, daß man von Schmerztabletten schwere Halluzinationen bekommt?"

Erst jetzt richtete sich Sydney auf, blinzelte erstaunt in die Dunkelheit.

"Nicht, daß ich wüßte. Wieso?"

"Oh, nur so. Schlafen Sie ruhig weiter", erwiderte Broots mit einem verträumten Lächeln. Hoffentlich wachte er nicht zu bald aus diesem Traum auf.

*******

Debbie wanderte lustlos durch den frischgefallenen Schnee. Was für ein eigenartiger Urlaub!

Nicht nur, daß ihr Vater sie völlig ohne Vorwarnung mit hierher genommen hat, nein, er hatte ihr noch nicht einmal erzählt, daß sie Miss Parker treffen würden. Dabei mußte er doch gewußt haben, wie sehr sie sich gefreut hätte, wenn er es ihr gleich gesagt hätte.

Es war noch ganz früh am Morgen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen; alle anderen in der Hütte schliefen noch. Also hatte Debbie beschlossen, die Gegend auf eigene Faust zu erkunden. Das Problem war nur, daß es nicht viel zu erkunden gab. Außer der Hütte gab es hier nur Bäume und Schnee. Wenn doch nur...

Sie sah auf, als sie das Motorengeräusch hörte. Ein dunkler Wagen kam die Auffahrt herauf. Einen Moment lang überlegte sie erschrocken, ob sie sich verstecken sollte. War es einer der Wagen, vor denen ihr Vater sie gewarnt hatte? Nach ein paar Sekunden stellte sie erleichtert fest, daß es nicht so war. Ihre Neugier gewann die Oberhand. Sie ging zum Haus zurück, um sich ihre Besucher aus der Nähe anzusehen.

Gerade, als sie in Sichtweite kam, sah sie, wie jemand aus dem Wagen ausstieg. Überrascht blinzelte sie. Das war doch ein Junge! Und noch dazu sah er so aus, als wäre er in ihrem Alter...

"Hey!" rief er, sobald er sie entdeckt hatte. Debbie neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Hey", erwiderte sie dann und ging auf ihn zu. "Wer bist du?"

"Ich bin Jay", erklärte der Junge und lächelte. "Und wie ist dein Name?"

"Debbie", stellte sie sich vor und erwiderte das Lächeln. Sie entschied, daß sie Jay mochte. Da war etwas an ihm, das ihn von allen anderen Jungen in ihrem Alter unterschied.

"Ich unterbreche euch ja nur ungern", ließ sich auf einmal eine andere Stimme vernehmen, und Debbie sah, wie auf der anderen Seite des Wagens ein Mann ausstieg, "aber wir haben eine lange Fahrt hinter uns, und ich wüßte wirklich gern, ob wir hier richtig sind."

"Wir müssen richtig sein, Dad", sagte Jay. "Das hier ist die einzige Hütte im Umkreis von vier Kilometern."

Der Mann lächelte, dann wandte er sich an Debbie.

"Du bist Debbie, habe ich das richtig verstanden?" erkundigte er sich. Sie nickte nur.

"Gut, Debbie. Ich bin Major Charles, und meinen Sohn Jay hast du ja wohl schon kennengelernt. Wir sind auf der Suche nach einer Frau. Ihr Name ist Miss Parker."

Debbie sah zu Jay und dann wieder zurück zu seinem Vater, während sie überlegte, was sie den beiden sagen sollte. Schließlich traf sie eine Entscheidung.

"Miss Parker macht hier Urlaub", erklärte sie dann fest. "Arbeiten Sie mit ihr zusammen?"

Zu ihrer Überraschung lachte der Major leise.

"Oh nein, ganz bestimmt nicht! Ich bin ein alter Freund ihrer Mutter und möchte privat mit ihr sprechen. Jay und ich wollen keineswegs ihren Urlaub ruinieren."

Debbie lächelte erleichtert.

"Miss Parker schläft noch. Aber ich kann sie wecken gehen", bot Debbie an und machte sich bereits auf den Weg zurück zum Haus.

"Hm, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist", brummte Jays Vater nachdenklich, doch dann zuckte er mit den Schultern. "Na ja, warum eigentlich nicht? Schließlich sind wir ja hier, um sie zu sehen. Aber vielleicht solltest du ihr nicht gleich verraten, wer sie besucht, okay? Das würde die ganze Überraschung verderben", fügte er mit einem Grinsen hinzu. Jay erwiderte sein Grinsen, dann zwinkerte er Debbie verschwörerisch zu. Debbie kicherte leise, als sie zurück ins Haus rannte. Mann, sie konnte es kaum erwarten, Miss Parkers überraschtes Gesicht zu sehen!

*******

"Aufwachen, Miss Parker. Unten ist Besuch für Sie", wisperte eine Stimme dicht neben ihrem Ohr. Die Stimme kam ihr vage bekannt vor...

Widerwillig öffnete Miss Parker die Augen, blinzelte im angenehmen Halbdunkel ihres Zimmers. Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie, daß Debbie auf dem Rand ihres Bettes saß, ein vergnügtes Funkeln in den Augen. Miss Parker fragte sich einen flüchtigen Moment lang, ob sich Broots' Tochter absichtlich so plaziert hatte, daß sie die Uhrzeit nicht erkennen konnte. Dann fielen ihr Debbies Worte wieder ein.

"Besuch?" murmelte sie schläfrig.

Debbie nickte, und Miss Parker begriff, daß sie nicht von sich aus sagen würde, wer es war. Sie hob fragend eine Braue.

"Wer..."

"Verrate ich nicht", unterbrach Debbie ihre Frage mit einem strahlenden Lächeln. Miss Parker sah sie ein paar Sekunden lang an, dann drehte sie sich um, ließ ihr Gesicht in das weiche Kissen sinken und murmelte: "Ich brauche einen Kaffee."

Debbie ließ sich von ihrer Reaktion nicht beeindrucken, sondern zog ihr ungerührt die Decke weg.

"Kommen Sie schon, Miss Parker! Sie können die beiden nicht ewig warten lassen."

"Mhm, schon gut", brummte Miss Parker und gab sich geschlagen. Sobald Debbie sicher war, daß sie auch wirklich aufstehen würde, machte sie sich auf den Weg zur Tür.

"Ich gehe Dad wecken", erklärte sie. "Und dann mache ich Frühstück für alle."

Miss Parker setzte sich im Bett auf. Als Debbie die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich schloß, fiel Miss Parker plötzlich wieder ein, was sie gerade gesagt hatte. Debbie hatte von zwei Leuten gesprochen. Eine Mischung aus Wut und Angst breitete sich langsam in Miss Parker aus. War es möglich, daß ihr Vater und Lyle...

Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Sie stand auf und ging in ihr kleines Badezimmer.

Zehn Minuten später verließ sie ihr Zimmer, um hinunter in die Küche zu gehen. Aus dem Erdgeschoß flutete ihr ein Stimmengewirr entgegen. Offenbar fand in der Küche eine Art Diskussion statt. Miss Parker verzog das Gesicht. Wenigstens schien keine der Stimmen ihrem Vater zu gehören.

Bevor sie die Küche betreten konnte, kam ihr Sydney entgegen. Er sah ein wenig blaß aus, als hätte ihn irgend etwas erschrocken.

"Miss Parker, wir haben Besuch", erklärte er, sein Tonfall vorsichtig. "Nun, genaugenommen ist der Besuch für Sie."

"Ist es mein Vater?" wollte sie von ihm wissen. "Falls ja, dann können Sie ihm sagen, daß ich nicht..."

"Nein, es ist nicht Ihr Vater."

Sydney sah sie unschlüssig an. Überrascht bemerkte sie, wie sein Blick zu der Stelle glitt, an der sie normalerweise ihre Waffe trug. Ihr Blick bohrte sich in seinen, und als er nach einer Minute noch immer keine Anstalten machte, etwas zu sagen, schob sie ihn ungeduldig zur Seite. Sie atmete tief ein und betrat die Küche.

Als erstes sah sie den Jungen, der am Küchentisch saß. Ungläubig starrte sie ihn an. Es war absolut unmöglich, daß er hier war.

"Ah, Miss Parker! Wie schön, Sie endlich einmal wiederzusehen."

Die Stimme ließ sie herumfahren. Jetzt war ihr klar, warum Sydney sich überzeugt hatte, daß sie ihre Waffe nicht bei sich trug.

"Major Charles."

Ihr Tonfall verriet nichts von den Emotionen, die in diesem Moment in ihr tobten.

"Ich hoffe, Sie können uns verzeihen, daß wir Sie hier so überfallen", fuhr Jarods Vater fort. Sein Blick enthielt eine stumme Bitte, die Miss Parker ignorierte. Statt dessen sah sie zurück zu dem Jungen. Jarods Klon, der genauso aussah wie Jarod es in dem Alter getan hatte. Ihr Blick glitt weiter zu Debbie, die neben dem Jungen am Tisch sah, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Die Spannung zwischen den Erwachsenen schien sie gar nicht zu bemerken.

Miss Parker verspürte auf einmal nur noch den Wunsch, die Küche so schnell wie möglich zu verlassen. Sie wollte weg von hier. Unbewußt machte sie einen Schritt nach hinten. Major Charles berührte sie am Arm, und sie sah hinunter auf seine Hand. Er verstand ihre stumme Andeutung und ließ sie wieder los, doch sein Blick hielt ihren fest.

"Ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Miss Parker", bat er sie leise. Sie nickte nur, da sie ihrer Stimme nicht länger traute. Mit einem letzten Blick zu dem Jungen verließ sie die Küche, griff nach ihrer Jacke, die neben der Tür hing, und ging nach draußen. Major Charles war dicht hinter ihr.

Nachdem sie sich ein paar Meter vom Haus entfernt hatten, blieb Miss Parker schließlich stehen. Sie schloß ihre Jacke und drehte sich zu Major Charles um.

"Wieso sind Sie hier?" fragte sie ruhig. 'Und wieso haben Sie den Jungen mitgebracht?', wisperte die leise Stimme in ihr. Es schmerzte sie, den Jungen wiederzusehen. Er weckte Erinnerungen in ihr, die sie lieber vergessen hätte.

"Claremont", erwiderte er. "Ich weiß, was Sie dort getan haben. Und deswegen bin ich hier - um Ihnen zu danken."

Miss Parker lachte leise, aber es war kein amüsiertes Lachen.

"Sie waren nicht einmal dort", sagte sie leise. "Weil Sie von vorneherein wußten, daß es eine Falle von Raines war. Ich habe mich wie eine Idiotin benommen."

Der Major runzelte die Stirn und machte einen Schritt auf sie zu.

"Ich sehe nicht, was daran idiotisch sein soll, jemandem helfen zu wollen. Sie haben Ihr Leben für mich riskiert."

Ein Schulterzucken war Miss Parkers Antwort darauf.

"Genau das habe ich gemeint."

Major Charles sah sie mit großen Augen an, dann lachte er amüsiert.

"Ich bin sehr froh zu sehen, daß es Ihnen wieder besser geht. Nach dieser Sache auf dem Flugplatz habe ich mir einige Sorgen gemacht."

"Um Jarod?"

Er schnaubte.

"Sie machen es einem nie leicht, oder, Miss Parker? Aber Jay hat schon recht. Sie sind wirklich in Ordnung. Wissen Sie, in den ersten Tagen hat er fast ständig von Ihnen geredet."

Miss Parker kniff ganz leicht die Augen zusammen.

"Jay?"

"Der Junge", erklärte der Major und seufzte. "Ich habe zwei Tage gebraucht, bis ich mich endlich entschieden hatte, was ich ihm sagen soll. Dann habe ich ihm einfach die Wahrheit gesagt - darüber, wo er herkommt und darüber, wer ich bin."

Sein Blick ruhte auf ihr. Miss Parker fühlte sich ein wenig unwohl. Ihre letzte Begegnung war ganz anders verlaufen, als sie es sich immer vorgestellt hatte. Und jetzt stand er wieder vor ihr, ein alter Freund ihrer Mutter, der Mann, den sie lange für ihren Mörder gehalten hatte. Der Vater des Mannes, der so sehr ein Teil ihres Lebens war, daß sie ihn daraus ausgeschlossen hatte, um nicht an seinem Verlust zu zerbrechen.

"Warum sind Sie hier?" fragte sie ihn noch einmal. "Warum sind Sie nicht bei Jarod?"

"Weil ich bis vor kurzem noch dachte, daß Jarod sich im Centre befindet. Und solange ich keinen sicheren Platz für Jay gefunden habe, kann ich nicht ins Centre zurückkehren. Nicht einmal um Jarods Willen."

"Jarod ist wieder entkommen", informierte sie ihn. Er lächelte.

"Mhm, ich weiß. Nachdem mir klar geworden war, was Raines in Claremont plante, habe ich den Ort ganz genau im Auge behalten. Auf diese Weise bin ich dann sowohl über Sie als auch über meinen Sohn gestolpert. Allerdings sieht es so aus, als wäre Jarod schon wieder untergetaucht."

Miss Parker verzog das Gesicht.

"Das wird nicht lange so bleiben, verlassen Sie sich drauf", sagte sie düster, obwohl Unsicherheit in ihr vibrierte. Unter anderen Umständen wäre sie sicher gewesen, daß Jarod sich früher oder später bei ihr melden würde, aber nachdem, was in der Hütte zwischen ihnen passiert war, rechnete sie nicht mehr damit.

Der Major erwiderte ihren Blick. Irgendwie schien er ihre Gedanken zu erahnen.

"Wenn es Ihnen nicht zu viel ausmacht, wüßte ich gerne, was nach der Explosion passiert ist", sagte er.

"Es macht mir etwas aus", antwortete Miss Parker mit einer Schärfe, die ihr schon einen Augenblick später wieder leid tat. "Ich sehe keinen Grund, mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich weiß nicht, wo Jarod ist, und damit hat sich die Sache für mich erledigt."

Major Charles öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann überlegte er es sich anders. Das Mitgefühl in seinem Blick war mehr, als Miss Parker ertragen konnte. Ohne ein Wort drehte sie sich um und ging zurück zum Haus.

*******

Sydney stand am Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Im Haus herrschte eine angespannte Stimmung. Die beiden Kinder waren draußen, ebenso wie Angelo. Die drei tobten durch den Schnee und genossen ganz offenbar ihre Freiheit.

Broots saß auf der Couch; er war eingenickt und murmelte hin und wieder etwas Unverständliches im Schlaf. Major Charles saß in der Küche, und Miss Parker war vor mehr als einer Stunde zu einem Spaziergang aufgebrochen.

Seit sie von ihrem Gespräch mit Major Charles zurückgekehrt war, hatte sie mit niemandem mehr ein Wort gesprochen. Sydney seufzte schwer. Im Augenblick erschien ihm dieses Verhalten geradezu verlockend. Eigentlich sollte er in die Küche gehen und mit Jarods Vater sprechen, aber etwas hielt ihn zurück. Er war sich nicht ganz sicher, was - er wußte nur, daß er sich völlig irrational verhielt.

Nachdem er noch ein paar Sekunden lang ins Leere gestarrt hatte, beschloß er, daß er auch ein wenig frische Luft gebrauchen konnte. Leise öffnete er die Tür, griff nach seiner Jacke und trat nach draußen.

*******

Fünf Tage. Es war fünf Tage her, seit Miss Parker die Hütte verlassen hatte. Und zwei Tage später war er ebenfalls gegangen, weil er es einfach nicht länger ausgehalten hatte.

Jarod wippte langsam mit seinem Stuhl vor und zurück. Noch immer zerbrach er sich den Kopf darüber, was mit Miss Parker los war. Wieso hatte sie sich in der Hütte so... verletzend verhalten?

In den letzten Tagen hatte er kaum etwas anderes getan, als über sie nachzudenken. Wieder und wieder hatte er versucht, eine Erklärung zu finden, irgendeinen Hinweis, der ihm sagen würde, was zwischen ihnen stand.

Zunächst hatte er geglaubt, daß sie sich an ihm für seine Bemerkung über Tommy rächen wollte, aber das war einfach nicht Miss Parkers Art. Bisher hatte sie es ihn immer deutlich wissen lassen, wenn sie sich über ihn geärgert oder sich von ihm verletzt gefühlt hatte.

Was ihn am meisten belastete, war die Tatsache, daß er deutlich spüren konnte, daß sie sich durch ihr Verhalten selbst unglücklich machte. Aber wie schon so oft zuvor ließ sie nicht zu, daß er ihr half. Diesmal hatte sie ihn so heftig von sich fortgestoßen, daß er sich nicht einmal traute, bei ihr anzurufen.

Jarod griff nach seinem Handy, wie schon tausendmal zuvor an diesem Tag. Er konnte es einfach nicht. Mehrere Minuten lang starrte er auf das Telefon in seiner Hand, rang sich dann endlich zu einer Entscheidung durch.

Wenn er schon nicht mit ihr sprechen konnte, blieb ihm wenigstens noch Sydney.

Es dauerte nicht lange, bis sich der Psychiater am anderen Ende der Leitung meldete.

"Sydney hier", sagte er. Jarod fand, daß er ein wenig atemlos klang.

"Hi, Syd. Ich bin's, Jarod."

Für einen Moment herrschte überraschtes Schweigen.

"Jarod, na endlich! Wie geht es Dir?" antwortete Sydney dann. Ein eigenartiger Unterton schwang in seiner Stimme mit. Sydney verbarg etwas vor ihm, etwas, über das er nicht sprechen wollte.

"Ganz gut", erwiderte Jarod einsilbig. Sollte er nach ihr fragen?

"Bist du sicher?" Wie immer gelang es Sydney mühelos, Jarods Stimmung zu durchschauen.

"Ja, ich..."

Ein überraschter Ausruf von Sydney unterbrach ihn. Dann folgte ein dumpfes Pochen, und schließlich hörte Jarod etwas, das Kinderlachen sein mußte.

"Also gut, junge Dame", rief Sydney gedämpft, "ich habe ganz genau gesehen, daß du diesen Schneeball geworfen hast, und ich werde... Oh nein, Miss Parker, das werden Sie nicht..." Ein zweites Pochen war zu hören, dann folgte Stille.

"Jarod? Bist du noch da?" erkundigte sich Sydney nach einer kurzen Weile. Jarod runzelte die Stirn.

"Syd? Ist alles in Ordnung?"

Der ältere Mann machte ein abschätziges Geräusch, doch dann lachte er leise.

"Bitte entschuldige die Unterbrechung, Jarod. Es scheint, daß ich mitten in eine Schneeballschlacht geraten bin. Liebe Güte, du solltest Miss Parker sehen! Angelo und die Kinder haben nicht die geringste Chance gegen sie."

Völlig machtlos dagegen, spürte Jarod, wie heftige Eifersucht in ihm aufwallte.

"Broots und mir ist es gelungen, Miss Parker zu ein paar Tagen Urlaub zu überreden. Obwohl überreden vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Wir sind zusammen mit Debbie und Angelo zu einer Hütte rausgefahren, und es sieht so aus, als würde Miss Parker endlich in die richtige Stimmung kommen", fuhr Sydney erklärend fort. In seiner Stimme schwangen Wärme und Erleichterung mit.

Jarod schloß die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie Miss Parker gemeinsam mit Angelo und Debbie durch den Schnee tollte, endlich einmal unbeschwert und befreit von den Fesseln des Centres. Eine zweite, noch heftigere Welle von Eifersucht durchfuhr ihn. Was hätte er dafür gegeben, jetzt dort zu sein...

Erst jetzt fiel ihm auf, was an Sydneys Worten nicht stimmte. Hatte er nicht die Kinder gesagt?

"Wer ist noch mit euch dort?" wollte er wissen. Sydney seufzte.

"Ich hätte es dir vielleicht gleich sagen sollen. Jarod, dein Vater ist auch hier. Zusammen mit dem Klon."

Es dauerte eine volle Minute, bis Jarod sich soweit von seiner Überraschung erholt hatte, daß er wieder sprechen konnte.

"Du hast recht, Syd. Du hättest es mir gleich sagen sollen. Ich würde gerne mit ihm sprechen."

*******

In dieser Nacht war es Sydney, der nicht schlafen konnte. Er saß in der Küche, die ganze Nacht hindurch, bis der Morgen anbrach.

Ihr Urlaub war vorbei, das war unwiderruflich klar. Miss Parker hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, daß sie am Morgen zurück nach Blue Cove fahren würde. Major Charles hatte ein langes Gespräch mit Jarod geführt; die beiden hatten für den nächsten Tag einen Treffpunkt ausgemacht.

Sydney fühlte sich angesichts der letzten Ereignisse zunehmend hilflos. Seine Beziehung zu Jarod schien sich mit jedem Tag mehr aufzulösen, und nun verlor er auch noch Miss Parker. Er konnte deutlich spüren, wie sie sich immer mehr von ihm zurückzog.

"Syd?"

Es war Miss Parkers leise Stimme, die ihn aufsehen ließ. Sie stand in der Küchentür, offenbar bereit für ihren Aufbruch.

"Ja, Miss Parker?"

Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

"Haben Sie die ganze Nacht hier unten gesessen?"

Er nickte. Sie stellte ihre Reisetasche auf den Boden und kam zu ihm herüber.

"Dann hat Jarod diese schlechte Angewohnheit wohl von Ihnen. Das Grübeln, meine ich", erklärte sie, noch immer lächelnd. Dann wurde sie ernst, und ein eigenartiger Ausdruck ließ ihre Augen leuchten.

"Haben wir eigentlich jemals ein ehrliches Gespräch miteinander geführt, Sydney?"

Erstaunt sah er sie an, aber dann begriff er, was sie meinte.

"Ich glaube nicht, Miss Parker", erwiderte er sanft. Es gab etwas, das sie ihm sagen wollte.

"Dachte ich mir."

Ein trauriges Lächeln glitt wie ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. Sie ging neben ihm in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

"Mein Vater ist nie für mich dagewesen. Trotzdem bin ich nie allein gewesen, wenn ich im Centre war. Nach dem Tod meiner Mutter hat sich vieles verändert; die Leute haben sich verändert. Aber egal, was passiert ist, ich hatte immer Sie. Dank Ihnen weiß ich heute, was ein guter Vater ist."

Sydney wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte nie mit ihr über seine Gefühle für sie gesprochen, und noch viel weniger hatte er je zu hoffen gewagt, daß sie vielleicht ähnlich über ihre Beziehung zueinander denken mochte.

"Miss Parker, ich..."

"Nicht, Sydney."

Sie schüttelte den Kopf, und er hatte den Eindruck, daß sich die Traurigkeit um sie herum verdichtet hatte.

"Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Ich werde jetzt gehen. Es gibt da jemanden, den ich besuchen möchte. Jemanden, mit dem ich reden kann. Bevor ich gehe, wollte ich Ihnen nur für das danken, was sie hier für mich tun wollten."

"Aber es hat nicht funktioniert."

"Nein, ich fürchte nicht. Bis bald, Sydney."

Er ließ sie gehen. Es gab tausend Sachen, die er ihr sagen wollte, und vielleicht hätte sie eine davon zurückhalten können. Aber Sydney begriff, daß er sie jetzt gehenlassen mußte, wenn er wollte, daß sie je wieder zu ihm zurückfand.









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