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Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Der Countdown läuft - die Geschichte nähert sich unaufhaltsam ihrem Ende. Noch 2 Teile (exklusive diesem)!

In diesem Teil wird es - ganz ungewohnt, aber zur Abwechslung doch eigentlich ganz nett - mal etwas actionlastiger zugehen. Am Ende wird es zwei Tote zu beklagen geben; ein Mörder wird enthüllt und eine langvermißte Person gefunden. Kurzum: Wenn Ihr beim Lesen auch nur halb soviel Spaß habt wie ich beim Schreiben, dann werdet Ihr Euch prächtig amüsieren. :)

Ich möchte mich natürlich - wie immer - ganz herzlich bei meinen Betafeen bedanken. You rock!
Außerdem danke ich Nic, die nicht nur die Zeitung beigesteuert, sondern auch meine Ideen unterstützt hat. :)

***

And I have the sense to recognize that
I don't know how to let you go
Every moment marked
With apparitions of your soul
I'm ever swiftly moving
Trying to escape this desire
The yearning to be near you
I do what I have to do
The yearning to be near you
I do what I have to do
But I have the sense to recognize
That I don't know how
To let you go

-- Sarah McLachlan, 'Do What You Have To Do'




Kostbare Momente
Teil 19

von Miss Bit





Wäre die Welt auf der anderen Seite seines Bürofensters untergegangen, es hätte nicht schlimmer aussehen können als das Unwetter, das sich gerade über Blue Cove austobte. Lyle schaute mißmutig hinaus in die grauen Regenschleier. Er mußte an Brigitte denken, die während eines ganz ähnlichen Sturms ermordet worden war.

Es überraschte ihn selbst ein wenig, daß er sie vermißte. Für gewöhnlich fand er sich schnell damit ab, wenn Personen, aus welchen Gründen auch immer, aus seinem Leben verschwanden - ganz egal, ob sie ihm nun nahegestanden hatten oder nicht. Aber Brigittes Ableben beschäftigte ihn schon seit Tagen. Nicht nur, daß er sich fragte, wer sie ermordet haben und was aus dem Kind geworden sein könnte, er befürchtete auch, daß der Mörder seine eigenen Pläne durchkreuzen würde. Abgesehen davon war Brigitte im Besitz von Informationen gewesen, die ihm durchaus gefährlich werden konnten.

Versunken in seine Gedanken, erhob sich Lyle von seinem Sessel und durchmaß sein Büro mit langen Schritten. Vor der Tür machte er abrupt halt, drehte sich um und marschierte zurück zu seinem Schreibtisch. Fühlten sich so vielleicht Raubtiere, die ohne jede Hoffnung auf Flucht in einem Zoo oder Zirkus vor sich hinvegetierten, nicht einmal wußten, daß ihnen ein freies, ungezähmtes Leben in der Savanne entging? Lyle schnitt eine Grimasse. Wenn ihm schon solche Vergleiche durch den Kopf gingen, dann hatte er wohl den Einfluß unterschätzt, den die Ereignisse der letzten Wochen auf ihn gehabt hatten.

Mit einem leisen Grollen sank Lyle wieder in seinen Ledersessel. Wenigstens war er nicht noch einmal verhaftet worden; die Anklage gegen ihn war im Sande verlaufen, doch das ungute Gefühl, daß ihn jemand durch dieses Spielchen in seine Schranken hatte weisen wollen, blieb. Sein Hauptverdacht richtete sich mittlerweile gegen die japanischen Yakuza, obwohl er sich keiner Tat bewußt war, die die plötzlich wiederaufflammende Aufmerksamkeit seiner ehemaligen Geschäftspartner erklären würde.

Er schüttelte den Kopf und wandte seine Gedanken wieder drängenderen Problemen zu. Sein Vater hatte von ihm verlangt, Brigittes Kind ausfindig zu machen. Lyle hatte durchaus nichts gegen diese Aufgabe einzuwenden, die auf alle Fälle weniger schwierig zu werden versprach als die Jagd nach Jarod. Natürlich war ihm schon kurz durch den Kopf gegangen, daß Jarod vielleicht derjenige war, der das Kind entführt hatte - aber irgendwie wollte das nicht zu dem Bild passen, das Lyle von Jarod hatte. Dazu kam noch, daß der edle Helfer der Unterdrückten zur Zeit mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein schien. Mehrere Einbrüche in das lokale Netzwerk des Centres ließen darauf schließen, daß Jarod wieder verstärkt nach seiner Familie suchte; ganz besonders nach seiner Mutter und seiner Schwester.

Und dann war da noch seine eigene Schwester, Miss Parker. Lyle runzelte die Stirn, ohne sich dieser Geste bewußt zu sein. Es hatte ihn zutiefst überrascht, daß sie Blue Cove so überstürzt verlassen hatte, und es verwirrte ihn, daß niemand in der Chefetage des Centres dies als Verlust zu betrachten schien. Ganz egal, was er sonst über sie denken mochte, er hielt sie für eine fähige Frau, die es im Machtgefüge des Centres durchaus weit hätte bringen können, wenn sie nur ihre moralischen Bedenken über Bord geworfen hätte. Nun, ihr Versäumnis war mit Sicherheit sein Vorteil. Ihr Verschwinden bedeutete für ihn einen Gegner weniger, den es im Auge zu behalten galt.

Die Fingerspitzen nachdenklich aneinander gepreßt, lehnte Lyle sich in seinem Sessel zurück, die Augen halb geschlossen. Auch wenn sein Vater darauf verzichtete, nach seiner Schwester suchen zu lassen und ihr Fortgehen offenbar als unumstößliche Tatsache akzeptierte, verbesserte sich seine eigene Position dadurch wirklich nur minimal. Was ihm fehlte, war ein wirksames Druckmittel. Es war etwas eingetreten, das er immer zu vermeiden gehofft hatte: Er war zum Spielball der Mächtigen im Centre geworden. Sein Vater hielt ihn mit kryptischen Drohungen eisern unter seiner Kontrolle und verhinderte, daß Lyle die Karriereleiter auch nur einen Millimeter weit erklomm.

Das Geräusch sich rasch nähernder Schritte riß Lyle aus seinen Gedanken. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das dumpfe Pochen sein Büro erreichte; die Tür flog ohne irgendeine Ankündigung auf und sein Vater betrat wutschnaubend das Zimmer.

Lyle erhob sich halb aus seinem Sessel und öffnete den Mund, um seinen Vater zu fragen, was ihn hierher verschlagen hatte, doch er beschloß zu schweigen, als er den zornigen und aufgebrachten Ausdruck in den kalten Augen des älteren Mannes sah.

Mit drei langen Schritten erreichte Mr. Parker den Schreibtisch seines Sohnes. Es schien, als bedürfe es dieser physischen Barriere, um ihn zu stoppen. Ein lautes Klatschen hallte durch das Büro, als Parker eine dicke Zeitung auf Lyles Schreibtisch warf.

"Sieh dir das an!" wies er seinen Sohn an, sein Tonfall erbost.

Den Blick auf seinen Vater gerichtet, griff Lyle mit seiner gesunden Hand nach der Zeitung und drehte sie so um, daß er das Titelblatt lesen konnte. Zunächst fiel sein Blick auf den Namen der Zeitung. Asahi Shimbun, ein durchaus renommiertes japanisches Tagesblatt. Lyles Herz sank. Bedeutete das etwa, daß ihn die Yakuza in weit schlimmere Schwierigkeiten gebracht hatte, als ihm bisher bewußt geworden war?

"Seite 17", knurrte der alte Parker, und Lyle vermied es geflissentlich, ihm ins Gesicht zu sehen. Während er mit leicht zitternden Fingern die richtige Seite aufschlug, überlegte er, wie er sich am besten aus der Affäre würde ziehen können. Am besten würde er einfach alles leugnen; das hatte auch früher schon funktioniert. Lyle legte sich bereits einige Worte zurecht, als er endlich auf Seite 17 ankam und sofort erkannte, was seinen Vater so in Rage versetzt hatte. Fassungslos starrte er auf das viertelseitige Schwarzweißfoto, das seine Schwester an der Seite des Yakuza-Kronprinzen Tommy Tanaka zeigte. Hastig überflog er die Schlagzeile und die Bildunterschrift.

"Sie will ihn heiraten?" fragte er erstaunt, mehr an sich selbst denn an seinen Vater gerichtet. "Bist du dir auch ganz sicher, daß das keine Ente..."

Ein Blick in Parkers Gesicht ließ ihn verstummen, noch bevor er das Ende seines Satzes erreicht hatte. Oberhalb seiner rechten Schläfe pulsierte eine Ader, verriet Lyle, daß sein alter Herr kurz vor der Explosion stand.

Parker richtete einen zitternden Zeigefinger auf Lyle. Wie hypnotisiert starrte Lyle darauf, bis Parker den Finger auf das Bild niedersausen ließ, wo er wie zufällig direkt auf Tanakas Kopf landete.

"Du wirst nach Japan fliegen", befahl er seinem Sohn, der ob dieser Worte einen eisigen Schock verspürte. Wie konnte sein Vater das von ihm verlangen, nach allem, was er dort durchgemacht hatte? "Du wirst sie zurückholen. Ihre Rückkehr aus diesem lächerlichen Urlaub ist schon längst überfällig. Meine Tochter wird auf keinen Fall einen solchen... einen solchen Verbrecher heiraten!"

Lyle neigte den Kopf leicht zur Seite und sah seinen Vater von unten herauf an. Der alte Mann lebte offenbar doch schon etwas weiter von der Realität entfernt, als er bisher angenommen hatte. Urlaub? Er hielt die so offensichtliche Flucht seiner Tochter aus dem Centre für einen Urlaub? Und was machte Tanaka zu einem schlechteren Menschen als, beispielsweise, Parker selbst?

"Sie wird vielleicht nicht zurückkehren wollen", gab Lyle vorsichtig zu bedenken. Er schürzte nervös die Lippen und wartete ab, ob seine Worte einen erneuten Ausbruch des Mount Parker heraufbeschwören würden. Zu Lyles großer Überraschung schien der alte Mann seine Worte wirklich zu überdenken; ja, er nickte sogar.

"Das ist natürlich alles die Schuld dieses japanischen Halsabschneiders", grollte er, und Lyle sah seine letzte Hoffnung schwinden. "Mein kleiner Engel würde seinem Vater so etwas niemals antun."

"Dad, ich...", begann er, aber Parker winkte bloß ab.

"Pack deine Sachen. Der Jet startet um 21 Uhr, und du wirst drinsitzen."

Während ihm alle Felle davonschwammen, suchte Lyle panisch nach irgend etwas, das ihm diese Reise ersparen würde.

"Was ist mit dem Kind?" stieß er hervor. Die kleine Ader über Parkers Schläfe pulsierte plötzlich schneller. Er glaubte doch nicht etwa, daß seine Schwester schwanger war und deshalb heiratete? Lyle beschloß, sobald wie möglich den Artikel zu lesen, der das Foto umgab. "Du wolltest doch, daß ich nach Brigittes Kind suche."

Verstehen blitzte in Parkers Augen auf. Er nickte kurz, und Lyle begann, wieder neuen Mut zu schöpfen. Zwei Sekunden später erkannte er, daß er sich umsonst Hoffnungen gemacht hatte. Parker nahm die Zeitung wieder an sich und wandte sich zum Gehen.

"Darum werde ich mich kümmern", sagte er im Hinausgehen. "Sieh du nur zu, daß du deine Schwester zurück in den Schoß der Familie bringst."

Damit verließ er das Büro. Das Geräusch seiner sich entfernenden Schritte wurde überdeckt von dem lauten Schlag, mit dem die Tür hinter ihm zufiel. Lyle sprang auf und trat um seinen Schreibtisch herum. Er spielte mit dem Gedanken, seinem Vater nachzugehen, doch er wußte, daß das keinen Sinn haben würde. Wütend trat er gegen den Schreibtisch.

"Verdammt!" fluchte er. "Warum mußte es ausgerechnet Japan sein?!"

Ein weiterer Tritt gegen das schwere Möbelstück half ihm dabei, zumindest einen kleinen Teil seiner Wut abzubauen. Seine Gedanken überschlugen sich, aber eins erkannte er mit unverkennbarer Deutlichkeit: Er würde Hilfe brauchen, wenn er in Zukunft vermeiden wollte, wieder in so eine Situation zu geraten. Sich aus dieser neuen Verpflichtung herauszuwinden, war unmöglich, soviel wußte er. Falls... nein, wenn er das aber hinter sich gebracht hatte, mußte er unbedingt dafür sorgen, daß nicht mehr sein Vater ihn, sondern er seinen Vater in der Hand hatte.

Während er blicklos auf seinen Schreibtisch herunterstarrte, fiel ihm nur eine Person ein, an die er sich wenden konnte: Raines. Der ehrgeizige Wissenschaftler war einer der wenigen im Centre, die sich nicht scheuten, die Klingen mit dem alten Parker zu kreuzen. Außerdem würde Raines zweifelsohne erkennen, daß es ihm einige Vorteile bringen würde, Parker aus dem Weg zu haben.

Die daumenlose, behandschuhte Hand zur Faust geballt, verließ Lyle sein Büro. Mit langen Schritten stürmte er den Korridor entlang, hieb auf den Rufknopf des Fahrstuhls am Ende des Flurs und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Kabine. Die Fahrt ins Erdgeschoß schien eine Ewigkeit zu dauern; endlose Minuten, in denen er sich sein Empfangskomitee in Japan vorstellte.

Mit knirschenden Zähnen verließ er den Fahrstuhl, als der endlich zum Halt gekommen war, und ging so schnell weiter, daß er fast schon rannte. Er durchquerte die Eingangshalle, nahm aus dem Augenwinkel war, daß das Unwetter vorüber und der Abend angebrochen war und bog dann in den Korridor ein, der ihn direkt zum neuen Flügel des Centres führen würde.

Er erreichte Raines' neues Labor in Rekordzeit. Schwungvoll stieß er die Tür des Labors auf und sah sich suchend nach Raines um. Der Wissenschaftler stand in einer Ecke des quadratischen Raumes, beugte sich dort über eine Ansammlung von merkwürdig geformten Glasgefäßen. Als er Lyle auf sich zukommen hörte, richtete er sich auf und drehte sich um. Er sah dem jüngeren Mann entgegen, die Stirn unwillig gerunzelt.

"Mr. Lyle, ich habe nur wenig Zeit", sagte er anstelle einer Begrüßung.

"Ist mir durchaus klar", gab Lyle unbeeindruckt zurück. "Wir müssen reden, Raines. Über meinen Vater."

Bei den letzten Worten senkte er die Stimme zu einem Flüstern und sah Raines eindringlich an.

"Ah, er hat Sie gerade gebeten, sich um diese leidige Angelegenheit mit Ihrer Schwester zu kümmern, habe ich recht?" erkundigte sich Raines, ein schadenfrohes Lächeln auf den Lippen.

"Gebeten, ha!" schnaubte Lyle wütend. "In weniger als zwei Stunden startet der Jet nach Japan, und mir bleibt keine andere Wahl, als dem Wunsch" - er spie dieses Wort praktisch aus - "meines Vaters Folge zu leisten. Aber vorher möchte ich noch etwas mit Ihnen besprechen."

In Raines' Augen glomm Interesse auf. Lange maß er Lyle mit einem abwägenden Blick.

"Sie sind es müde geworden, im Schatten Ihres Vaters zu stehen", vermutete der Wissenschaftler mit einem wissenden Lächeln. Es schien ihm sehr zu gefallen, Lyle in dieser Situation zu sehen.

"Wenn Sie es so ausdrücken wollen", erwiderte Lyle mürrisch und biß die Zähne aufeinander. Wann immer möglich, zog er es vor, allein zu arbeiten, doch eine Allianz mit Raines erschien ihm im Moment als einziger Ausweg aus seiner mißlichen Lage. "Mein Vater hat mich in letzter Zeit sehr unter Druck gesetzt. Ich will, daß das ein Ende hat."

"Ein Ende", wiederholte Raines nachdenklich; in seinen Augen lag ein abschätzender Ausdruck. "Reden wir hier über ein vorübergehendes Ende oder...?"

"Über etwas Endgültiges", sagte Lyle mit Nachdruck. Nur mühsam gelang es ihm, ein Schaudern zu unterdrücken, als er daran dachte, wie unangenehm die letzten Wochen für ihn gewesen waren. Ganz abgesehen von seinen Schwierigkeiten mit der lokalen Polizei hatte er außerdem mit dem einen Gefühl zu kämpfen gehabt, daß er am meisten von allen haßte: Angst. Und es war sein Vater gewesen, der diese Furcht in ihm ausgelöst hatte.

"Es gibt da vielleicht einen Weg, wie wir beide bekommen könnten, was wir wollen", keuchte Raines. Seine Aufregung über Lyles Besuch schien ihm das Atmen zu erschweren. Nach ein paar tiefen Zügen Sauerstoff aus seinem Nasenschlauch atmete er jedoch wieder ruhiger. Lyle musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Es stimmte; er brauchte Raines' Hilfe, um sein Ziel zu erreichen. Das einzige, was ihn dabei beunruhigte, war, daß er Raines' eigene Ziele nicht kannte. Raines schien seine Gedanken zu erahnen.

"Ich schätze, wir haben hier ein kleines Vertrauensproblem", meinte er leise.

"Nein", widersprach Lyle, "ich... vertraue Ihnen."

"Oh ja, sicher, in gewissen Grenzen", spottete Raines, aber sie beide wußten, daß es dumm von Lyle gewesen wäre, Raines vollends zu vertrauen. Der Wissenschaftler unterzog Lyle erneut einer stummen Musterung, bevor er weitersprach. "Nun, Sie haben mir Ihr Vertrauen bereits bewiesen, indem Sie zu mir gekommen sind. Ich schätze, Ihr Vater wäre nicht sehr begeistert, von Ihrem kleinen Besuch hier zu erfahren."

Lyle spürte, wie er blaß wurde.

"Hören Sie, mein Vater weiß bereits, daß er auch aus den Reihen seiner eigenen Familie mit Verrat rechnen muß", erklärte er sehr viel ruhiger, als er sich fühlte. "Wie sonst hätte er es hier so weit bringen können?"

Raines sah ihn ungeduldig, fast schon zornig an.

"Wenn Sie wieder gehen wollen, dann machen Sie das gleich. Ich sagte Ihnen schon, daß ich wenig Zeit habe."

Damit drehte er sich wieder halb seinem Experiment zu, aber Lyle legte ihm hastig die Hand auf die Schulter.

"Warten Sie, Raines", zischte er. "In dieser Sache bleibt keinem von uns eine Wahl, das wissen Sie ebensogut wie ich. Beweisen Sie, daß ich Ihnen ebenfalls vertrauen kann, und wir kommen ins Geschäft."

Raines starrte auf Lyles Hand, bis dieser den älteren Mann losließ. Die beiden maßen einander mit Blicken voller unterdrücktem Mißtrauen und Wut. Schließlich nickte Raines knapp.

"Folgen Sie mir, Mr. Lyle", sagte er sehr leise. "Ich werde Ihnen den ultimativen Beweis liefern, daß Sie mir vertrauen können. Aber ich warne Sie: Wenn Sie mir in den Rücken fallen, wenn Sie irgend jemandem verraten, was Sie gleich sehen werden, dann werden Sie keine Zeit mehr haben, Ihren Fehler zu bereuen."

"Schluß mit der heißen Luft, Raines", knurrte Mr. Lyle ungehalten. "Zeigen Sie mir, was Sie mir zu zeigen haben, dann sehen wir weiter."

Raines sagte nichts mehr, sondern drehte sich wortlos um und schlurfte hinüber zur Tür, die Sauerstoffflasche an seiner Seite. Nicht so ganz überzeugt, daß er wirklich das richtige tat, indem er sich auf ein Bündnis mit Raines einließ, folgte Lyle ihm. Ein dunkler Schemen huschte hinter ihm quer über den Korridor, doch weder Raines noch Lyle bemerkten ihn.

Während des ganzen Wegs schwieg der Wissenschaftler. Lyle ging neben ihm her und wunderte sich ein wenig über das zufriedene Lächeln auf Raines' Lippen. Ein Gefühl sagte ihm, daß Raines noch einen Trumpf im Ärmel hatte, aber es war nicht unbedingt ein ungutes Gefühl. Ein starker Verbündeter war schließlich genau das, was er im Moment brauchte.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie ihr Ziel erreichten. Das lag zum einen daran, daß Raines nur sehr langsam vorankam, zum anderen war es ein langer Weg. Raines machte mehrere Umwege, schien sich ganz sicher sein zu wollen, eventuelle Verfolger abgeschüttelt zu haben. Schließlich standen sie vor einer schweren Eisentür am Ende eines langen Korridors auf Sub-Level 14, tief in den Eingeweiden des Centres. Die Tür war mit einem Zahlenschloß gesichert. Raines stellte sich so davor, daß Lyle nicht sehen konnte, welchen Code er eintippte. Entnervt rollte Lyle mit den Augen. Glaubte Raines wirklich, daß er diesen Code nicht würde herausfinden können, wenn er es wirklich wollte?

Ein lautes Poltern auf der anderen Seite der Tür deutete an, daß schwere Riegel zur Seite gewuchtet wurde. Erstaunt hob Lyle die Brauen.

"Was verstecken Sie hier unten, Raines? Das Bernsteinzimmer vielleicht?" Doch noch während er spottete, ahnte er auf einmal, was er gleich hinter dieser Tür sehen würde.

"Nein, Mr. Lyle", gab Raines ernst zurück. "Nur die Erfüllung Ihrer und meiner Wünsche."

Damit schwang die Tür nach außen auf und gab den Blick frei auf ein hochmodern eingerichtetes Labor. Lyle staunte nicht schlecht, als er erkannte, daß mindestens eine halbe Million Dollar in die Einrichtung dieser unterirdischen Schatzkammer geflossen sein mußte. Aufmerksam sah Lyle sich vom Eingang des großen Raumes her um, ließ seinen Blick über ihm unbekannte, teuer aussehende Geräte und eine Gruppe von vier Leuten schweifen. Im rückwärtigen Bereich des Raumes sah er dann, was er seit der Öffnung der Tür erwartet hatte.

"Raines, Sie Mistkerl!" zischte er, erfüllt von einer Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn. "Mein Vater macht mir die Hölle heiß, weil ich das Kind nicht finden kann - und sie verstecken es die ganze Zeit hier unten!"

Mit ein paar langen Schritten erreichte er den Brutkasten, der etwas abgeschieden am anderen Ende des Raumes stand. Fassungslos starrte er hinunter auf das winzige Bündel darin, von dem nur ein blasses Gesichtchen zu erkennen war. Eine blaßrosa Narbe zog sich von der Stirn über die rechte Schläfe bis hinunter zur Wange des Kindes; ein untrüglicher Beweis dafür, daß es sich um Brigittes Kind handeln mußte.

"Es sah lange Zeit nicht sehr gut für sie aus", sagte Raines auf einmal hinter Lyle, und der zuckte vor Schreck leicht zusammen.

"Ein Mädchen?"

"Mr. Lyle, darf ich Ihnen Ihre Schwester vorstellen?" schnaufte Raines spöttisch. "Ihre Geburt verdient zweifelsohne die Beschreibung 'ungewöhnlich'."

"Geburt?" fragte Lyle mit hochgezogenen Brauen. Neben ihm zuckte Raines mit den Schultern.

"Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es war kein Kaiserschnitt mehr nötig", sagte Raines. Aus den Augenwinkeln glaubte Lyle zu sehen, daß der ältere Mann bei dieser Aussage grinste, aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Ein anderer Gedanke beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit.

"Sie waren es, der das Kind aus Brigitte herausgeschnitten hat."

"In der Tat. Ich hatte Glück, ebenso wie dieses Kind. Ich war rechtzeitig dort, um diesem Mädchen das Leben zu retten. Wie gesagt, es sah lange Zeit nicht gut für sie aus, aber mein Ärzteteam" - er nickte herüber zu den drei Männern und der Frau, die in der Mitte des Raumes um einen Tisch herum standen - "konnte ihr Leben retten."

"Sie waren rechtzeitig da", wiederholte Lyle flüsternd, völlig gefangengenommen von dem einen Gedanken, der ihn beschäftigte. Er löste seinen Blick von seiner gerade erst einen Monat alten Schwester und sah Raines mit einem glühenden Ausdruck in den Augen an. "Sie haben alles gesehen. Sie wissen, wer Brigitte ermordet hat!"

"Mein lieber Mr. Lyle", gab Raines mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen zurück, "ich weiß noch viel mehr als das."

"Jetzt rücken Sie schon raus damit, Sie alter Narr", verlangte Lyle und griff nach Raines Schultern; er schüttelte den alten Mann leicht. Raines erwiderte Lyles brennenden Blick voller Gelassenheit. Spott und Herablassung verzerrten seine Lippen zu einem Lächeln.

"Brigittes Mörder ist derselbe Mann, der auch Thomas Gates und Ben Miller auf dem Gewissen hat", verriet er Lyle, dann machte er eine dramatische Pause, die Lyle dazu veranlaßte, ihn erneut zu schütteln. "Ihr Vater."

Lyle konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Fassungslos ließ er Raines los; seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sicher, er hatte durchaus seine Vermutungen gehabt, aber das übertraf alles bei weitem. Für eine Sekunde schoß es ihm durch den Kopf, daß er wohl derjenige gewesen war, der Bens Ermordung ausgelöst hatte - denn er war es gewesen, der dem alten Parker erzählt hatte, wo seine Tochter ihren Urlaub verbringen wollte. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Diese Information, zusammen mit der Entdeckung seiner jüngsten Schwester, offenbarte ihm völlig neue Möglichkeiten. Der Flug nach Japan erschien ihm mit einemmal gar nicht mehr so schlimm. Was war das schon gegen die Veränderungen, die es hier im Centre geben würde, sobald er zurückkehrte?

***

Hoch über Lyle und den anderen kauerte sich eine verstörte Gestalt eng an die beruhigend kühle Wand des Luftschachts, während die Digitalkamera in ihren Händen fast lautlos summte.

***

Den Rücken leicht an die Trennwand aus Papier gelehnt, die Beine unter sich gefaltet, versuchte Miss Parker, sich zu entspannen. Sie saß am Kopfende des Futonbettes im Schlafzimmer des Pavillons, den sie gemeinsam mit Tanaka bewohnte. In ihrem Schoß lag eines der beiden Bilder, die sie mit nach Japan gebracht hatte. Es zeigte sie selbst als junges Mädchen. Neben ihr stand ein etwa gleichaltriger Jarod, und hinter ihnen beiden stand ihre Mutter. Das Bild war während des einzigen gemeinsamen Treffens zwischen Catherine, Jarod und ihr entstanden; Sydney hatte das Foto geschossen.

Sie konnte sich noch an jede Einzelheit dieses Tages erinnern; das sanfte Lächeln ihrer Mutter; den Ausdruck von Sehnsucht und zögerlicher Freude in Jarods Augen; Sydneys gerunzelte Stirn; ihr eigenes Gefühl der Unbeschwertheit. Am Ende des Tages hatte Jarod ihr gestanden, daß er sie um ihre Mutter ein wenig beneidete; daraufhin hatte sie ihm gesagt:

>Sei nicht dumm, Jarod. Du hast doch auch eine Mutter. Jeder hat eine! Außerdem kannst du ein Teil meiner Familie sein.<

Miss Parker runzelte die Stirn, als sie sich an diese Worte erinnerte. Damals hatte sie sie so gemeint, aber galt das heute auch noch?

Sie schloß die Augen und versuchte, an nichts Bestimmtes zu denken. Tanaka war zu einer zweitägigen Geschäftsreise nach Tokio aufgebrochen; seine Schwester und ihre Familie machten einen Ausflug in den Süden von Hokkaido. Dadurch hatte Miss Parker die Gelegenheit, allein und ungestört mit ihren Gedanken zu sein.

Das Bild schien schwer in ihren Händen zu lasten, die entspannt in ihrem Schoß lagen. Viele Erinnerungen hingen daran; gute und schlechte. Anders als in den letzten Wochen zwang sich Miss Parker, nicht länger vor den Erinnerungen zurückzuschrecken. Etwas in ihr drängte sie dazu, sich endlich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Während sie noch überlegte, wie genau sie mit der Bewältigung ihrer Erfahrungen und Erlebnisse beginnen sollte, geschah etwas Unerwartetes.

Miss Parker schnappte überrascht nach Luft, als sie sich auf einmal an einem Ort wiederfand, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Konnte das wirklich möglich sein...?

Vor ihrem inneren Auge erstreckte sich eine bewaldete Landschaft, durchsetzt mit flachen Hügeln und in goldenes Sonnenlicht getaucht. Die Strahlen der Sonne fühlten sich angenehm warm an auf ihrer Haut, und doch waren sie so irreal und substanzlos wie eine Erinnerung.

Sie stand auf einer kleinen Anhöhe, die mit hohem Gras bewachsen war. Nur ein einzelner Baum stand hier; eine Weide, deren Äste bis auf den Boden herunterhingen. Wann immer sie von dem leichten Wind gestreift wurde, der in kaum spürbaren Böen über den Hügel strich, regnete ein hauchdünner Schleier aus goldenem Blütenstaub auf die Erde herab. Zu ihrer Rechten, am Fuße der Anhöhe, lag ein Teich, der die Form eines Ahornblattes hatte. Sein tiefblaues Wasser glitzerte einladend.

Wie viele Jahre war es jetzt her, seit sie zum letzten Mal hiergewesen war? Es mußten über zwanzig sein; wahrscheinlich aber sogar noch mehr.

...Zuflucht...

Dieser Ort, dieser eine Platz auf der Welt, der ihr ganz allein gehörte, war ihre innere Zuflucht, ihr Hafen. Er war ein Geschenk ihrer Mutter an sie. Ihre Mutter hatte diese innere Welt für sie erschaffen, hatte ihr durch Geschichten und Erzählungen geholfen, sie immer weiter auszuschmücken und am Ende so plastisch und real werden zu lassen, daß Miss Parker sich tatsächlich dorthin hatte zurückziehen können, wenn sie die Augen geschlossen hatte. Ihre Zuflucht - so hatte ihre Mutter diesen Ort genannt. Und oft war es eine Zuflucht für sie gewesen. Besonders in den letzten Jahren vor dem Tod ihrer Mutter hatte Miss Parker lange Stunden damit verbracht, durch ihre innere Welt zu streifen und so der wirklichen Welt zu entfliehen.

Ein paar Wochen nach dem Tod ihrer Mutter war sie dann zum letzten Mal in diese Welt eingetaucht, die damals nichts anderes als die Traumwelt eines jungen, verängstigten Mädchens gewesen war. Dann hatte sie den Fehler gemacht und ihrem Vater davon erzählt. Er war sehr wütend geworden und hatte ihr eine lange Predigt gehalten, die ihr doch nur das eine hatte vermitteln sollen: eine Parker versteckte sich nicht vor der Realität. Sie lernte, sie zu akzeptieren oder sie zu ändern, wenn sie ihr nicht paßte, aber niemals, niemals ergriff sie die Flucht vor ihr.

Natürlich hatte sie versucht, ihre innere Zuflucht auch danach wieder zu erreichen, aber es war ihr nie wieder gelungen. Über die Jahre hatte sie dann das Geschenk ihrer Mutter als Traum abgetan, hatte vergessen, daß sie sich an einen Ort zurückziehen konnte, der ihr innere Ruhe und Frieden schenkte.

Erstaunt, aber glücklich sah Miss Parker sich jetzt um in ihrer Zuflucht, fühlte sich ein bißchen wie der erwachsene Peter Pan, der nach Nimmerland zurückkehrte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Das hier war ganz anders.

Langsam schlenderte sie herüber zu der Weide, deren Äste kaum merklich im Wind schaukelten. Stimmen wehten zu ihr herüber, und durch den Vorhang aus goldgelben Blättern sah sie zwei Gestalten, die nebeneinander auf dem Boden saßen, offenbar in ein Gespräch vertieft. Miss Parker strich ein paar der Äste zur Seite und ließ sich neben den beiden Menschen nieder, die nichts weiter waren als ein Teil ihrer Erinnerungen.

>Was ist das hier für ein Ort, Mama?< fragte die junge Miss Parker. >Träume ich?<

>Nein, du träumst nicht. Du bist wach, auch wenn deine Augen vielleicht geschlossen sindAber nichts hier ist wirklich, oder?<

>Wie wirklich ist eine Erinnerung?< fragte Catherine zurück, einen wissenden Ausdruck in den Augen. >Für dich ist diese Welt real, denn du bist es, die sie jedesmal wieder aufs neue erschafft.<

Die junge Miss Parker runzelte die Stirn.

>Aber was ist diese Welt denn nun, Mama?< wollte sie wissen. Catherine lachte leise über die Hartnäckigkeit ihrer kleinen Tochter.

>Manche würden ihn vielleicht deine Seele nennen; andere dein Herz. Einige würden sagen, daß es dein Unterbewußtsein ist; wieder andere hielten es vielleicht für dein Gedächtnis. Später wirst du vielleicht einen eigenen Namen dafür finden, aber bis dahin kann es deine Zuflucht sein.<

...Zuflucht...

Die erwachsene Miss Parker erhob sich, und die Gestalten aus ihrer Erinnerung verblaßten langsam, bis sie völlig verschwunden waren. Sie wußte jetzt, warum sie hier war. Wie sie den Zugang zu ihrer Zuflucht wiedergefunden hatte, würde sie erst noch herausfinden müssen, aber im Moment spielte das keine Rolle. Wichtig war nur, daß sie hier war. Sie und ihre Erinnerungen.

Nachdenklich schlenderte sie von der Weide fort und hinunter ans Ufer des Teiches. In einiger Entfernung erkannte sie einen dunklen Schemen, der gemächlich auf den sanften Wellen schaukelte. Miss Parker schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. Es war eine kleine Segeljolle, die dort tief im Wasser lag. Zwei Männer, deren Gesichter sie nicht erkennen konnte, saßen darin und angelten. Wer sie wohl waren?

>Du weißt es dochBen und TommyDu kannst mich nicht fangen!<

Eine weitere Gestalt huschte an ihr vorbei. Es war Jarod, in etwa so alt wie ihr jüngeres Ich. Er lachte und sah sich im Laufen kurz um.

>Und ob ich das kann!< rief ihm die junge Miss Parker nach und sprintete hinter ihm her. Miss Parker lächelte und sah den beiden nach, beschloß dann, ihnen zu folgen. Die beiden Kinder rannten über einen bemoosten Weg, der direkt auf den Waldrand zuführte. Mächtige Eichen und Buchen streckten ihre Wipfel hoch in den Himmel, warfen lange Schatten auf das Gras vor ihnen.

>Es ist schön, daß du dich endlich entschlossen hast, diesen Weg zu gehenIch habe AngstDas weiß ich, mein Herz. Aber es ist Zeit für dich, dich der Realität zu stellen.<

Miss Parker lachte leise auf.

>Ausgerechnet hier?<

>Hier beginnt esKommst du nicht mit?< wollte Miss Parker wissen und blieb ebenfalls stehen.

>Du brauchst meine Hilfe nicht, mein Liebes. Folge deinem Herzen, und du wirst deinen Weg erkennen.<

Catherine lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu, dann drehte sie sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.

... Du mußt sie loslassen...

Die Worte, die ihre Mutter in ihrem Traum an sie gerichtet hatte, fielen ihr wieder ein, als Miss Parker dabei zusah, wie Catherines Gestalt vor ihren Augen verblaßte. Gehörte ihre Mutter auch zu den Dingen, die sie loslassen sollte? Sie hoffte es nicht.

Miss Parker ging weiter, folgte dem Weg, der direkt in den Wald hineinführte. Als sie den Wald erreichte, erwartete sie eine Überraschung. Irgendwie hatte sie erwartet, daß es im Inneren des Waldes dunkel, vielleicht auch bedrohlich sein würde, doch das traf nicht zu. Ganz im Gegenteil; der Weg verbreiterte sich sogar noch und führte schnurgerade in den Wald hinein. Hoch über dem Weg bildeten die Wipfel der Bäume ein grünes Dach, so daß Miss Parker das Gefühl hatte, durch einen Säulengang zu wandern. Licht filterte durch die Baumkronen, zauberte immer neue Muster auf den Weg und erfüllte sie mit einem Gefühl der Geborgenheit.

>Du gehörst zu mir. Das weißt du doch, nicht wahr, mein Engel?< erklang die Stimme ihres Vaters neben ihr. >Wir sind eine Familie.<

>FamilieDas Centre ist deine FamilieIch wollte nie im Centre leben. Ich wollte nie für das Centre leben. Doch ich habe für dich gelebt, für deine Anerkennung, deine Liebe.<

Ihr Vater ging etwas schneller und griff nach ihrem Arm, um sie mit sich zu ziehen. Wütend schüttelte Miss Parker seine Hand ab und blieb stehen.

>Bist du hier, um mir zuzuhören?< fragte sie ihn. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um.

>Natürlich, mein Engel.<

>GutDu hast das Centre zu meinem Zuhause gemacht, obwohl ich es nicht wollte; du hast gewußt, was das für mich bedeuten würdeIch verlor meine Mutter, als ich noch ein Kind war. Was ich damals brauchte, waren deine Liebe und deine Aufmerksamkeit. Was ich bekam, war der Aufenthalt in einem Internat und der noch stärkere Wunsch nach deiner Aufmerksamkeit, deiner Anerkennung.<

Traurig über sich selbst, schüttelte sie den Kopf. Natürlich hatte sie immer gewußt, daß sie hauptsächlich von ihrem Wunsch nach Anerkennung - nach der Liebe ihres Vaters - angetrieben worden war. Sie hatte vieles im Centre hingenommen, hatte Entschuldigungen für Dinge gesucht, die vielleicht nicht zu entschuldigen waren. In ihrem Streben, ihrem Vater zu gefallen, hatte sie sich in den Dienst des Centres gestellt, hatte ein Leben im goldenen Käfig gewählt. Das Gold war längst abgeblättert von den Gittern, die sie gefangen hielten, und trotzdem arbeitete sie noch immer für ihren Vater und das Centre.

Es war leicht gewesen, nach außen hin so zu wirken, als mache es ihr nichts aus, die Ziele des Centres zu verfolgen, als wären die Ansichten ihres Vaters ihre eigenen. Eine Zeitlang war es sogar leicht gewesen, sich das selbst einzureden. Dann waren Sydney und Jarod wieder in ihr Leben getreten, und die ersten leisen Zweifel hatten begonnen, sie zu plagen. Ihr erstes Treffen mit Ben und Jarods unermüdliche Versuche, sie an ihre Vergangenheit zu erinnern, hatten die Zweifel verstärkt. Und dann hatte sie Tommy getroffen. Plötzlich hatte es zum ersten Mal seit vielen Jahren so ausgesehen, als könne es für sie ein Leben ohne das Centre geben. Sie hatte begriffen, daß es für sie möglich war, sich von ihrem Vater zu lösen und ihre Angst zu überwinden. Diese Angst war tief in ihr verwurzelt; Angst vor Verlust; Angst vor der Welt außerhalb des Centres; Angst vor der Person, die sie ohne das Centre werden würde.

Mit Tommy war ihre Hoffnung gestorben, das Centre jemals verlassen zu können. Allein fühlte sie sich dazu einfach nicht in der Lage. Es stimmte, sie hatte nicht mehr viel zu verlieren, aber an dem Wenigen, das ihr noch geblieben war, hielt sie mit aller Kraft fest.

>Du weißt, daß ich immer für dich da binJaIch habe dich gar nicht für ihn gejagt, habe ich recht?< fragte sie nach einer Weile und öffnete die Augen wieder. Ihr Vater war verschwunden; statt dessen fiel ihr Blick auf Jarod und sich selbst als Kinder. Die Arme des erwachsenen Jarod hielten sie noch immer in einer lockeren Umarmung, gaben ihr die Kraft, sich ihren Überlegungen zu stellen. Sie spürte, wie Jarod hinter ihr den Kopf schüttelte; sein Atem strich sanft und warm über ihren Nacken.

>Ich bin nicht derjenige, der dir diese Antwort geben kannDie Antwort...< Miss Parker starrte auf ihr jüngeres Selbst, das einem überraschten Jarod gerade seinen ersten Kuß gab. Ein Zittern lief über die Lichtung, als hätte irgend etwas Miss Parkers innere Welt erschüttert. Die Kinder vor ihren Augen alterten, wurden zu Teenagern, die sich gegenseitig durch die Gänge und Korridore des Centres jagten. Miss Parker erschauderte; Jarods Umarmung wurde merklich fester.

>Es ist wie...Ein Vorbote, nicht wahr?< beendete Jarod den Satz für sie. Er seufzte. >Jäger. Gejagte. Immer auf der Suche. Wonach?<

Entschlossen schüttelte Miss Parker den Kopf.

>Keine FragenDiese Einstellung hat dich dort hingebracht, wo du jetzt bistVerlustWohin führt das alles?< fragte Miss Parker die Welt im allgemeinen und niemanden im besonderen. Sie drehte sich um, wandte den Blick ab von ihren Erinnerungen. Jarod stand nicht mehr hinter ihr; er war fort.

>Das werde ich dir zeigenr Jarods Verlust?

>Das ist es, nicht wahr?< fragte sie, erstaunt über die Distanz, mit der sie die Dinge jetzt betrachtete. Sie wandte sich direkt an ihren Vater, dessen Gesicht aschfahl war. >Hier führt alles hin. Ich verlasse das Centre und verliere alles.<

>Auf der Suche. Wonach?<

Jarod - ein beruhigend gesund aussehender Jarod - trat neben ihren Vater, musterte sie erwartungsvoll aus dunklen Augen.

>Nach SicherheitGeborgenheit. Menschlicher Wärme. Einer Zukunft. Garantien.<

Der Körper des erschossenen Jarod verschwand; zurück blieben nur ihr Vater und der starke, zuversichtliche Jarod, der sie eben noch in seinen Armen gehalten hatte. Miss Parker lächelte, und dabei ruhte ihr Blick allein auf Jarod.

>Ganz schön dumm von mirSeit wann bekommt man Garantien für die Zukunft?<

>Keine GarantienNur Vertrauen.<

Nun stand er direkt vor ihr; Mr. Parker war nicht länger zu sehen. Miss Parker sah in Jarods Augen. In den dunklen Tiefen erkannte sie die Ernsthaftigkeit von Jarods Gefühlen, aber sie suchte nicht länger nach einer festgeschriebenen Zukunft darin.

Wind frischte auf, trieb die vertrockneten Blätter über den Waldboden und schien Miss Parker etwas zuzuflüstern.

...loslassen...

Sie wußte, daß sie gerade erst den ersten Schritt gemacht hatte, aber es fühlte sich gut an. Sie fühlte sich gut. Die Unentschlossenheit, die Lethargie der letzten Wochen und Monate begann, von ihr abzufallen, wurde vertrieben von neuer Energie und dem Wunsch, ihre Zukunft endlich selbst zu formen; auch gegen Widerstände - mochte es nun das Centre oder ihr Vater sein.

Geisterhafte Gestalten zogen an Miss Parker vorbei; sie nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr. Sydney, das Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt. Broots, nervös wie eh und je. Tanaka, mit einem wissenden Lächeln auf dem Gesicht. Brigitte, ihre Haut wächsern und blaß.

>SpäterFreunde









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