Table of Contents [Report This]
Printer Chapter or Story Microsoft Word Chapter or Story

- Text Size +

Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Tut mir leid, Leute - ich weiß, ich hab mir mal wieder ganz schön Zeit gelassen mit diesem Teil. ^_^;; Dafür sind's aber auch über sechzehn Seiten geworden. Wann ich den nächsten Teil in Angriff nehmen kann, weiß ich noch nicht so genau (hab ich schon die Klausuren erwähnt?! *g*), aber richtet euch lieber auf eine längere Wartezeit ein. Falls ich doch früher fertig werden sollte, seid ihr dann wenigstens angenehm überrascht. :)

Noch immer keine Entwarnung für die Shipper - aber nur Geduld, ihr kommt auch noch auf eure Kosten. So langsam geht KM in den Endspurt; es fehlen jetzt nur noch drei Teile, dann werdet ihr zum letzten Mal die Worte 'Fortsetzung folgt' lesen... Ich wünsche euch wie immer viel Spaß beim Lesen!!

Obwohl momentan nicht nur bei mir Zeit eine Mangelware ist, kann ich mich doch auf meine treuen Betafeen verlassen - ich danke euch, ihr Lieben!

Glossar (japanisch): Gaijin = Ausländer, Außenstehender
Koibito = Liebling, Geliebte(r), Verlobte(r)
-chan = Anhängsel an den Namen, das Erwachsene gegenüber Kindern verwenden
-san = Anhängsel an den Namen, das Kinder gegenüber Erwachsenen bzw. Erwachsene untereinander verwenden
Okâsan = Mutter (Anrede)

***

If the sky opened up for me,
And the mountains disappeared,
If the seas ran dry, turned to dust
And the sun refused to rise
I would still find my way,
By the light I see in your eyes.
The world I know fades away
But you stay

-- Coco Lee, A Love Before Time (Crouching Tiger, Hidden Dragon)
lyrics by James Schamus



Kostbare Momente
Teil 18

von Miss Bit






Goldene Sonnenstrahlen tanzten über die ruhige Oberfläche des Lake Catherine; kein Lüftchen regte sich über der glatten Wasserfläche. Der Abend neigte sich seinem Ende zu, als Major Charles in der Küche von Ben Millers Pension saß und über die Ergebnisse der Ermittlungen nachdachte, die sein Sohn und er seit nun schon vier Wochen durchführten. Niemand von ihnen hatte gedacht, daß dieser Fall soviel Zeit in Anspruch nehmen würde; er selbst am allerwenigsten.

Der Major schloß die Augen und rieb sich den verspannten Nacken. Sein schlechtes Gewissen regte sich mal wieder. Wie es passiert war, wußte er nicht mehr so genau, aber ganz langsam hatten sich ihre Ermittlungen in eine Art Urlaub verwandelt. Der Druck der Eile war immer mehr verschwunden - Miss Parker war noch immer unauffindbar und hatte sich somit erfolgreich dem Zugriff der Justiz entzogen -, und schließlich hatten sie die Arbeit etwas schleifen lassen.

Charles öffnete die Augen wieder und sah sich in der geräumigen Küche um. Sie wohnten seit etwa drei Wochen hier. Die Polizei hatte die Untersuchung abgeschlossen und die Pension Bens Cousin aus Connecticut überlassen - glaubte sie jedenfalls. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf die Züge des Majors. Es war schon erstaunlich, wie leicht selbst Staatsbeamte sich von ein paar kunstfertig gefälschten Papieren täuschen ließen.

Während sein Blick wieder zurück aus dem Fenster glitt, wandte der Major seine Gedanken wieder der Untersuchung von Bens Ermordung zu. Die erste Woche hatten sie damit verbracht, sich die Ermittlungsakten der Polizei zu besorgen, doch die wenigen Erkenntnisse, die sie daraus gewonnen hatten, waren nicht besonders hilfreich gewesen. Die ermittelnden Beamten waren immer wieder in Sackgassen geraten - das Centre hatte unbestreitbar seine Finger im Spiel, und diese Tatsache machte es den Behörden fast unmöglich, Licht ins Dunkel dieses Falls zu bringen.

Der Major runzelte die Stirn. Das Centre. Selbst der bloße Gedanke an diese Organisation erfüllte ihn mit einer Mischung aus Schrecken und Zorn. Doch wie er es auch drehte und wendete, sein Gefühl sagte ihm, daß die Spur des Mörders sie nach Blue Cove, Delaware führen würde. Aufgrund dieser Intuition hatten Jay und er ihre Bemühungen in der zweiten Woche auf das Centre konzentriert. Sie waren über das Internet in das lokale Netzwerk des Centres eingedrungen und hatten dort nach Informationen gesucht, die in irgendeinem Zusammenhang zu Ben Miller stehen könnten. Es hatte sie nicht sehr überrascht, daß sie nichts dergleichen gefunden hatten. Wer auch immer dieses verabscheuungswürdige Verbrechen begangen hatte, hatte seine Spuren sehr gut verwischt. Allein diese Tatsache ließ es in den Augen des Majors schon wahrscheinlich erscheinen, daß der Täter aus dem Centre stammte.

Noch immer in seine Gedanken versunken, stand der Major auf. Müde rieb er sich das Gesicht. Er brauchte dringend etwas Schlaf. In den letzten Nächten hatte er kaum ein Auge zugemacht. Natürlich beschäftigte ihn die Verwicklung des Centres in diese Sache enorm, aber es gab noch etwas anderes, das ihm den Schlaf raubte: Jarod hatte endlich eine Spur von Margaret und Emily gefunden, die offenbar in der Zwischenzeit wieder zueinander gefunden hatten. Möglicherweise würde ihre Familie bald wieder vollständig sein, und diese Aussicht versetzte den Major in erwartungsvolle Anspannung.

Er verließ die Küche und ging hinauf in den ersten Stock, um nach Jay zu sehen. Der Junge hatte sich in einem der leerstehenden Gästezimmer ein kleines, behelfsmäßiges Labor eingerichtet und untersuchte dort Proben von den Beweisstücken, die die Polizei am Tatort gesammelt hatte. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der junge Pretender einer Blutprobe von Ben Miller, die Major Charles zusammen mit einer Kopie des Obduktionsberichts aus der Gerichtsmedizin 'ausgeliehen' hatte. Charles war sich nicht ganz sicher, warum ausgerechnet diese Probe Jays Aufmerksamkeit so sehr fesselte, aber er vertraute den Instinkten seines Sohnes, wußte er doch um die speziellen Talente, die in Jay steckten.

Während er sich bemühte, ein Gähnen zu unterdrücken, klopfte er leicht an die angelehnte Tür von Jays improvisiertem Labor, um dem Jungen sein Kommen anzukündigen. Dann drückte er die Tür weit genug auf, um eintreten zu können. Eddy, der auf einem Läufer neben dem großen Tisch lag, hob nur kurz den Kopf und wedelte ein paarmal halbherzig mit dem Schwanz, dann schloß er die Augen wieder und setzte sein Nickerchen fort. Jay drehte sich zu seinem Vater um und sah ihn mit leuchtenden Augen an. Der Major verkniff sich ein Grinsen; auf ihn wirkte es noch immer komisch, wie Jay da vor all den Kolben, Reagenzgläsern und Glasgefäßen saß - fast wie ein normaler Junge, der sich voller Begeisterung seinem ersten Chemiebaukasten widmete.

"Sie dir das an, Dad", sagte Jay, und Charles hörte ihm deutlich seine Begeisterung an. Der Junge zog den Laptop zu sich heran, der bis eben am äußersten Rande des Tisches gestanden hatte, und drehte den Bildschirm so, daß der Major erkennen konnte, woran Jay gerade arbeitete.

"Sieht kompliziert aus", brummte Charles und zog die Brauen hoch. Jay blinzelte verständnislos, dann murmelte er eine Entschuldigung, als ihm aufging, daß sein Vater wohl nichts mit der komplexen chemischen Verbindung anzufangen wußte, die auf dem Bildschirm zu sehen war. Eine leichte Röte überzog das Gesicht des Jungen. Der Major legte ihm eine Hand auf die Schulter, forderte ihn damit wortlos auf, seine Entdeckung zu erklären.

"Ich habe noch mal die Blutprobe untersucht, die du vor ein paar Tagen... organisiert hast. Irgend etwas daran hat mir keine Ruhe gelassen. Jetzt weiß ich, was es war", erklärte Jay und sah lächelnd auf das Ergebnis seiner Nachforschungen.

"Als ich noch im Centre gelebt habe, hatte ich unter anderem Unterricht in Chemie", fuhr er dann ganz unbefangen fort, doch Charles zuckte bei der Erwähnung des Centres innerlich zusammen. "Mein Lehrer hieß Dr. Auberon, und er arbeitete eigentlich als Chemiker in der Forschungsabteilung des Centres. Zu dem Zeitpunkt, als er mit meinem Unterricht begann, arbeitete er gerade an einem Projekt namens 'Verity'. Nach anfänglichen Erfolgen kam er allerdings nicht mehr weiter, also hat er mich nach ein paar Wochen zu seinem Assistenten gemacht. Gemeinsam haben wir dann eine Woche später den Durchbruch erzielt."

Der Major brummte noch einmal, doch diesmal brachte er damit nur zum Ausdruck, daß er verstanden hatte, worauf Jay hinauswollte.

"Verity - ein passender Name für ein Wahrheitsserum, habe ich recht?" erkundigte er sich bei seinem Sohn. Jay nickte heftig.

"Stimmt, Dad. Ist mir allerdings damals gar nicht aufgefallen", gab er grinsend zu. Sein Vater beugte sich ein wenig vor, um die chemische Verbindung auf dem Bildschirm genauer zu untersuchen. Er verstand nicht besonders viel von Chemie, aber er konnte sehen, daß diese Verbindung aufgrund ihrer Zusammensetzung erstaunliche Eigenschaften besitzen mußte.

"Und du hast Spuren davon in Bens Blut gefunden?"

Der Ausdruck auf Jays Gesicht verdunkelte sich etwas. Erneut nickte er.

"Zunächst habe ich die Spuren übersehen", sagte er, und er schien deswegen verärgert über sich selbst zu sein. Der Major drückte kurz Jays Schulter. "Das Serum wurde so konstruiert, daß es bei möglichst langer Wirkung trotzdem praktisch nicht nachzuweisen ist - es sei denn, man weiß genau, wonach man suchen muß. Nach ein paar Stunden zerfällt die Verbindung in Stoffe, die alle auch von Natur aus im Körper eines Menschen vorkommen. Nur die Konzentration dieser Stoffe ist dann leicht erhöht, aber das auch nur in den ersten Stunden nach der Zuführung des Serums."

"Ich nehme mal an, daß sich das Serum zwar noch zersetzen, aber daß durch Bens Tod die Konzentration dieser Stoffe nicht mehr auf das Normalmaß sinken konnte", vermutete Charles. Er brachte es nicht fertig, in diesem Zusammenhang von einem glücklichen Umstand zu sprechen, auch wenn es so war.

"Genau", bestätigte Jay, und das aufgeregte Leuchten kehrte in seine Augen zurück. "Dad, ist dir klar, was das bedeutet?"

"Ja, Sohn", antwortete der Major und seufzte. Jemand aus dem Centre hatte Ben Miller vor seinem Tod ein Wahrheitsserum injiziert und ihn befragt; danach hatte er Miller dann auf bestialische Weise ermordet. "Es bedeutet, daß unsere Ermittlungen uns als nächstes nach Blue Cove zurückführen werden."

Jay schien diese Aussicht nicht allzusehr zu beunruhigen, doch den Major bedrückte sie dafür um so mehr. Charles nahm seine Hand von Jays Schulter und ging hinüber zum Fenster. Einmal mehr sah er hinaus auf den Lake Catherine, den die untergehende Sonne mittlerweile blutrot gefärbt hatte. Er spürte, wie Jay neben ihn trat und nach seiner Hand griff.

"Mach dir keine Sorgen, Dad", sagte er leise, aber im Brustton der Überzeugung, "wir schaffen das schon."

Charles wandte den Blick ab von der glitzernden Wasseroberfläche, die ihm wie ein gespenstisches Omen erschien, und sah hinunter auf seinen Sohn. Eigentlich sprach nichts dagegen, den Optimismus seines Sohnes zu teilen. Nur ein kleiner Rest von Vorsicht verblieb in ihm, warnte ihn mit einem drängenden Wispern, die Gefahr nicht zu unterschätzen, die von Raines und seinen Spießgesellen ausging.

"Du hast recht, Sohn", antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. Sie würden noch den allabendlichen Anruf von Jarod abwarten, sich mit Sydney in Verbindung setzen und dann am nächsten Morgen aufbrechen, um sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Nur so würden sie eine Chance haben, dem Mörder endlich auf die Spur zu kommen und Beweise zu finden, die das Centre an sichereren Orten als seinem Computernetzwerk versteckt hielt. "Wir werden es schaffen."

Ob sein letzter Satz mehr an sich selbst oder an Jay gerichtet war, vermochte der Major nicht zu sagen, doch er glaubte mit aller Kraft daran. Nicht nur der Beweis von Miss Parkers Unschuld hing am Erfolg ihres Unternehmens - wenn sie das Centre erst einmal betreten hatten, würde auch ihre eigene Zukunft an einem seidenen Faden hängen.

***

Regen prasselte gemächlich auf das flache Ziegeldach des langgestreckten, geduckten Gebäudes, das mit seiner Umwelt zu verschmelzen schien. Der frische Geruch von regenerfüllter Luft, vermischt mit dem Duft von Lotus und Jasmin, wehte durch die halbgeöffnete Tür ins Schlafzimmer. Miss Parker seufzte wohlig und streckte sich auf dem niedrigen Futonbett aus. Aus halbgeschlossenen Augen sah sie herüber zu dem Mann, der an dem einzigen anderen Möbelstück im Zimmer saß, einem antiken Sekretär, und dort einen Brief schrieb. Er schien ihren Blick auf sich zu spüren, denn er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein Lächeln, das sie mit einem verheißungsvollen Kribbeln erfüllte.

"Was machst du?" erkundigte sich Parker, ihre Stimme nicht mehr als ein Murmeln. Ihr Blick ruhte auf Tanakas nacktem Oberkörper, und er war sich dieser Tatsache offensichtlich bewußt, denn sein Lächeln wuchs in die Breite, strahlte nun nicht mehr nur Erheiterung aus, sondern auch noch etwas anderes, das das Kribbeln in Miss Parkers Körper verstärkte.

"Ich bringe mich bei einem alten Freund in Erinnerung", erklärte Tanaka und schrieb weiter. Für ein paar Sekunden war das leise Kratzen des Füllers das einzige Geräusch außer dem sanften Klopfen des Regens auf dem Dach, dann beendete Tanaka den Brief und legte das Schreibgerät zur Seite. Er drehte sich ganz zu Miss Parker, so daß sie sich nicht länger nur mit seinem Profil zufriedengeben mußte.

"Du legst noch immer sehr viel Wert darauf, Kontakt zu deinen Freunden zu halten, hm?" fragte Miss Parker und stützte ihren Kopf auf ihre Hand.

"Kommt ganz auf die Freunde an", gab Tanaka grinsend zurück, doch dann wurde er für einen Moment ernst. "Das hier ist geschäftlich." Er sah erst auf den nun fertigen Brief und warf dann einen bedeutungsvollen Blick auf seinen verstümmelten kleinen Finger. Miss Parker hob die Brauen.

"Merkwürdig", sagte sie, "ich dachte, du würdest Urlaub machen. Aber kaum schlafe ich für ein paar Minuten ein..." Sie ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen. Um Tanakas Mundwinkel zuckte es.

"Was du für ein paar Minuten hältst, waren fast fünf Stunden, Koibito." Er lächelte nun wieder. "Ich habe dich beobachtet."

"Beim Schlafen?"

"Hai."

Miss Parker lächelte. Das hatte er früher schon getan. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, über ihren Schlaf zu wachen. Als sie ihn vor vielen Jahren nach dem Grund dafür gefragt hatte, hatte er ihr erklärt, daß ein Mensch im Schlaf vieles von sich verriet, das seine Umwelt sonst nie von ihm zu sehen bekam. Zunächst hatte sie dieser Gedanke ein wenig beunruhigt, aber damals wie heute fühlte sie, daß alle ihre Geheimnisse bei ihrem Liebhaber sicher waren.

"Das ist interessant", meinte sie und sah tief in Tanakas dunkle Augen, hielt seinen Blick mit dem ihren fest, "denn ich habe gar nicht geschlafen."

Wenn sie erwartet hatte, daß Tanaka durch diese Enthüllung auch nur im geringsten überrascht sein würde, so wurde sie nun enttäuscht. Er nickte bloß.

"Ich weiß. Aber du hast so entspannt ausgesehen, daß ich dich trotzdem nicht stören wollte."

Sie lachte leise und schüttelte den Kopf.

"Eines Tages, Okami, wird es mir noch gelingen, dich zu überraschen."

"Leere Versprechungen, Parker, leere Versprechungen", erwiderte Tanaka und bewies gute Reflexe, als er rechtzeitig dem Kissen auswich, das sie nach ihm geworfen hatte. Lachend stand er auf und hob das Kissen auf, dann machte er ein paar Schritte auf das Bett zu. Noch immer ein paar Meter von ihr entfernt blieb er stehen, das Kissen in der Hand, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. Die tiefe Emotion in seinem Blick ließ auch Miss Parker ernst werden; Tanakas plötzliche Ernsthaftigkeit verunsicherte sie ein wenig.

"Das ist unfair, Okami", wisperte sie. "Du steckst so voller Überraschungen für mich."

Ein eigenartig Ausdruck huschte über Tanakas Gesicht, doch er war so schnell wieder fort, daß Miss Parker nur eine undeutliche Mischung aus Schmerz und Mitgefühl zu erkennen glaubte. Tanaka überbrückte die Distanz zwischen ihnen und kniete sich auf den Rand des Bettes, nur eine Armeslänge von ihr entfernt. Er legte das Kissen zurück ans Kopfende des Bettes, den Blick gesenkt. Brauchte er eine Entschuldigung, um für einen Moment ihrem Blick auszuweichen?

Als er sie wieder ansah, hielt Miss Parker unwillkürlich den Atem an. Sie spürte, daß gerade etwas sehr Wichtiges in diesem Raum vor sich ging; eine Veränderung kündigte sich an, doch sie wußte nicht, ob sie sich vor ihr fürchten oder sie begrüßten sollte.

Tanaka streckte die Hand aus und griff nach ihrer freien Hand. Sanft hielt er ihre Finger umschlossen, einen undefinierbaren Ausdruck in den Augen.

"Das liegt daran, Parker", antwortete er auf ihre Äußerung, die schon eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen schien, "daß ich dich seit langem in meinem Herzen trage. Wo du auch warst, was du auch getan hast in den letzten Jahren, wie sehr du dich auch verändert haben magst, ich kenne dich. So wie du auch mich kennen könntest, wenn du es zulassen würdest."

Seine Worte bewegten sie, auch wenn sie sich weigerte, sie als die Wahrheit anzuerkennen. Was er da sagte, klang so, als würde sie ihn nicht lieben, und das stimmte einfach nicht. Sie hatte ihn geliebt, seit sie ihn kannte, mal als Freund, mal als ihren Liebhaber. Doch sie konnte verstehen, daß er nun daran zweifelte. Seit sie vor fast vier Wochen hier angekommen war, hatte sie ihm nicht ein einziges Mal gesagt, daß sie ihn liebte. Nicht einmal in der intimsten aller Umarmungen, als ihre Körper miteinander vereint gewesen waren, als ihre Leidenschaft alle Schranken in ihr niedergerissen hatte, waren die Worte über ihre Lippen gekommen. Ein Teil von ihr wußte, woran das lag, doch sie ignorierte ihn - auch jetzt, an diesem wichtigen Wendepunkt ihrer Beziehung. Eine sehr leise, dunkle Stimme flüsterte ihr drängende Warnungen zu, doch sie hörte ihr nicht zu.

Es gab einiges, was sie ihm zur Antwort geben wollte, doch sie entschied sich für den sicheren Weg.

"Ich habe nachgedacht", sagte sie ausweichend, ihren Blick jedoch noch immer fest auf seine Augen gerichtet. Vielleicht konnten ihm ihre Augen sagen, was sie nicht über die Lippen bringen konnte. Etwas flackerte in Tanakas Augen auf; er schien etwas sagen zu wollen, aber hielt sich im letzten Moment davon ab. Statt dessen nickte er einfach.

"Über unsere Verlobung", fuhr sie fort. Tanakas Augen weiteten sich etwas. Er hatte lange auf diesen Moment - auf ihre Antwort - warten müssen.

"Ich glaube nicht, daß...", begann sie, doch er unterbrach sie, indem er einen Finger an ihre Lippen legte.

"Du willst ablehnen", stellte er fest. "Ich möchte dich bitten, mir zuerst zuzuhören."

Miss Parker holte tief Luft. Er hatte recht; sie hatte ihm wirklich sagen wollen, daß sie ihn nicht heiraten konnte. Obwohl sie es durchaus wollte. Nur gab es da etwas, das sie zurückhielt. Nicht ihre Trauer um Tommy. Nicht ihre Gefühle für Jarod. Angst. Schlichte, nackte Angst. Wieder versuchte die dunkle Stimme, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken - vergeblich.

In den letzten Wochen hatte sie sehr viel Zeit gehabt, um über alles nachzudenken. Die Menschen, die sie verloren hatte: ihre Mutter, Tommy, Ben. Sie hatte sich mit ihrer Trauer auseinandergesetzt und glaubte nun, sie überwunden zu haben. Doch statt des Gefühls der Erleichterung, das sie erwartet hatte, war da nichts als Leere in ihr. Als wäre etwas nicht an seinem Platz; als fehle ihr ein Antrieb, der sie wieder zurück ins Leben bringen würde.

"Parker?"

Sie blinzelte und sah überrascht in Tanakas Gesicht.

"Entschuldige", murmelte sie und drückte leicht seine Hand. "Ich war nur für einen Moment abgelenkt."

Tanaka nickte; das Verständnis in seinem Blick gab Miss Parker nicht nur Halt, sondern erfüllte sie auch mit einem angenehmen Gefühl der Wärme.

"Schon gut", meinte er, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Er schwieg für einen Augenblick, schien seine Gedanken zu sammeln.

"Eigentlich wollte ich dir das alles schon viel früher sagen", fing er dann an, sein Tonfall so sanft wie das leise Prasseln des Regens, "aber ich habe mir eingeredet, daß ich deine Entscheidung nicht beeinflussen wollte. Wie überaus dumm von mir! Natürlich möchte ich deine Entscheidung beeinflussen; ich möchte, daß du meine Frau wirst. Wirklich, Parker, ich meine es ernst. Das ist nicht nur eine Laune von mir. Und es hat auch nichts damit zu tun, daß mein Vater mich nun schon seit Jahren drängt, mir endlich eine Frau zu suchen."

Seine trockene Bemerkung entlockte Miss Parker ein Lächeln.

"Natürlich nicht", meinte sie mit leicht gehobenen Brauen, doch dann wurde sie ernst. "Ich kann nicht wirklich glauben, daß deine Familie mich - eine Gaijin - akzeptieren wird."

Tanaka schnaubte.

"Meinst du das etwa ernst? Mein Vater hätte dich sicher selber gefragt, wenn er nicht gerade erst wieder geheiratet hätte", witzelte er, doch dann wurde auch er ernst. "Traditionen sind meiner Familie natürlich sehr wichtig, da hast du recht. Aber mein Vater mag dich. Sogar sehr gern. Und das gilt auch für Miyako. Was den Rest der Familie angeht - sie mögen, wen mein Vater mag."

Parker seufzte leise. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, langsam begannen Tanakas Worte, vor ihr ein angenehmes Bild der Zukunft entstehen zu lassen. Eine zweite Stimme gesellte sich der ersten hinzu; eine kleine, helle Stimme. Noch immer lagen beide von ihnen außerhalb von Parkers Wahrnehmungsbereich. Als sie schwieg, fuhr Tanaka leise, aber eindringlich fort.

"Erinnerst du dich noch an das zweite Jahr, in dem wir zusammen waren? Meine Mutter starb, und du... warst der einzige Mensch, mit dem ich über meine Trauer reden konnte. Du warst mir in dieser Zeit näher als jedes Mitglied meiner Familie - Miyako ausgenommen, aber sie war damals noch zu jung und zu sehr mit ihrer eigenen Trauer um unsere Mutter beschäftigt, um mir Trost zu spenden. Wenn ich dich damals nicht gehabt hätte... Wer weiß, was passiert wäre."

Er ließ ihre Hand los, stand auf und ging hinüber zum Schreibtisch. Nachdem er dort etwas aus einer der Schubladen gezogen hatte, kehrte er zu ihr zurück und kniete sich wieder neben sie. Dann streckte er seine Hand aus, so daß sie den Ring sehen konnte, der darin ruhte.

"Ich möchte, daß du ihn annimmst. Ich möchte, daß du mich annimmst. Heirate mich, Parker."

Es war nicht unbedingt der romantische Antrag, den sie sich als Mädchen und später als junge Frau erträumt hatte, aber er berührte sie nichtsdestotrotz. Etwas überrascht registrierte sie, wie sich Widerstand in ihr regte. Es schien ihr, als könne sie plötzlich zwei Stimmen hören, die miteinander um die Vorherrschaft rangen - mal obsiegte die eine, dann die andere der beiden.

"Du willst also eine Vernunftehe?" fragte sie ihn. Er sah sie fragend an. Miss Parker beschloß, reinen Tisch zu machen und ihm dann die Entscheidung zu überlassen. "Ich weiß nicht, ob ich dich... liebe. Nicht auf die Weise, wie du es dir wünschst. Vielleicht solltest du dir lieber jemand anderen suchen - eine Frau, die du liebst und die deine Gefühle erwidert."

Die Worte klangen wie Hohn in ihren Ohren. Was redete sie da eigentlich? Sie wußte, daß sie ihn liebte! Wieso fühlte sie das eine und sagte das andere? Unter all dem Schmerz und der Trauer liebte sie ihn; sie spürte es, wenn sie in seinen Armen lag, wenn er sie küßte, wenn sie miteinander schliefen oder wenn sie einfach nur gemeinsam im Garten spazieren gingen.

Er schien ihre innere Zerrissenheit zu erkennen.

"Ich weiß, daß dein Herz dir ein Rätsel ist", antwortete er. "Aber warum sollte ich suchen, was ich schon gefunden habe?"

Seine Worte ließen ihr den Atem stocken. Konnte er etwas in ihr sehen, für das sie blind war? Sie wünschte es sich, aber sie konnte es nicht glauben. Parker schüttelte leicht den Kopf. Es war Zeit für eine Entscheidung. Wenn Tanaka trotz ihrer Bedenken noch immer bereit war, mit ihr alt zu werden, dann würde sie ihm diesen Wunsch erfüllen. Erleichterung erfüllte sie; sie hatte sich entschieden, und die Aussicht, hier in Japan an Tanakas Seite zu leben, war durchaus angenehm.

'Nur angenehm?' wisperte die dunkle Stimme in ihr. 'Du gibst dich mit angenehm zufrieden? Wach doch endlich auf!'

"Ich werde dich heiraten - aber nur unter einer Bedingung", sagte sie, weigerte sich, ihrer inneren Stimme zuzuhören. Tanaka sah sie aufmerksam an.

"Was soll ich tun?"

"Versprich mir, daß... daß du nicht vor mir sterben wirst."

Er starrte sie an; sie starrte zurück. Sie wußten beide, wie sinnlos ein solches Versprechen sein würde. Es war ein Versprechen, von dem niemand wußte, ob er es erfüllen konnte. In Tanakas Gesicht arbeitete es. Ebenso wie sie schien er zu wissen, daß ihr Aussage nicht wirklich eine Bitte an ihn war. Es war eine Warnung. Die Männer an Miss Parkers Seite neigten dazu, schlechte Erfahrungen mit dem Leben zu machen. Eine Hochzeit mit ihr mochte sein Todesurteil bedeuten, früher oder später.

Tanaka schien mit sich zu ringen. Sie sah in seinen Augen, daß er ihr dieses Versprechen gerne geben würde; er wußte, daß sein Tod sie endgültig zerstören würde. Zuviel Schuld lastete bereits auf ihr; noch einen Menschen zu verlieren, nur weil er sie liebte, würde sie nicht ertragen.

Miss Parker wartete seine Antwort nicht ab. Er wußte nun um das Risiko, auf das sie sich beide einließen, und sie kannte ihn gut genug um zu wissen, daß er sich dementsprechend verhalten würde. Wortlos streckte sie ihm ihre Hand entgegen, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen.

"Bist du sicher?" fragte er, unterdrückte Freude in den Augen. Sie nickte, und er steckte ihr den Ring an den Finger. Einen Augenblick sahen sie beide auf ihre Hand, jeder verloren in seinen eigenen Gedanken, dann beugte sich Tanaka zu ihr herüber und zog sie sanft an sich. Er küßte sie, und als die Leidenschaft erneute in Miss Parker aufflammte, vertrieb sie für den Moment die Leere und alle Gedanken an die Zukunft aus ihr. Für den Moment vertraute sie allein der hellen Stimme in ihr.

***

Es war kalt in dem kleinen Appartement im dritten Stock. Eines der Fenster im Wohnzimmer stand offen, und ein kühler Wind wehte in den Raum. Jarod saß auf der Couch in der Mitte des Zimmers, seinen Mantel eng um sich geschlungen. Er sah auf die Uhr an seinem Handgelenk und gähnte. Nach diesem Treffen mußte er sich dringend mal wieder etwas Schlaf gönnen, Alpträume hin oder her.

Der Pretender sank etwas tiefer in die Couch. Wenn er schon so lange hier wartete, dann konnte er es wenigstens auch bequem haben. Ein erneutes Gähnen ließ ihn in seiner Aufmerksamkeit nachlassen und so überhörte er das leise Geräusch, mit dem sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Erst der Klang leiser Schritte im Flur ließ ihn aufhorchen. Er lächelte schwach, als er hörte, wie der Wohnungsinhaber sich bemühte, möglichst lautlos seine Waffe zu ziehen und zu entsichern. Einen Augenblick später ging das Licht im Wohnzimmer an.

"Keine falsche Bewegung", knurrte Sam. Jarod hob langsam die Hände über den Rücken der Couch, so daß sein unfreiwilliger Gastgeber sie sehen konnte. Dann stand er auf und drehte sich zu Miss Parkers Sweeper um.

"Hallo, Sam", begrüßte er den Mann.

"Jarod."

Sam sah ihn ein wenig erstaunt an, dann ließ er die Waffe sinken, sicherte sie und steckte sie wieder ins Holster.

"Was zum Teufel wollen Sie hier?" fragte er den Pretender. Jarod grinste schwach.

"Falscher Text, Sam. Sie sollten eigentlich sagen: Wie dumm von Ihnen hierherzukommen, Jarod. Ich werde Sie ins Centre zurückbringen."

Der Sweeper stieß entnervt die Luft aus.

"Können Sie gerne haben, Jarod", sagte er. "Oder Sie beantworten mir einfach meine Frage und verschwinden dann wieder."

"Einen schweren Tag im Centre gehabt?" erkundigte sich Jarod in einem leichten Tonfall. Für einen Moment sah Sam aus, als wolle er seine Waffe wieder ziehen.

"Als wüßten Sie das nicht! Seit Miss Parker weg ist, darf ich für Lyle den Laufburschen spielen. Und dann kommen Sie und brechen immer wieder in den Mainframe des Centres ein. Sechsmal in den letzten vier Wochen. Lyle ist sauer. Wirklich sauer. Jetzt raten Sie mal, an wem er das ausläßt."

In Sams Augen funkelte es angriffslustig. Jarod begriff, daß dem Sweeper der Sinn nicht nach leichter Konversation stand.

"Sieht so aus, als ob er seine Schwester vermißt, hm?"

"Nicht so sehr wie Sie sie vermissen, würde ich sagen", gab Sam ungerührt zurück, und Jarod sah ihn überrascht an. Entweder war er leichter zu durchschauen, als er bisher immer angenommen hatte, oder aber er hatte Sam unterschätzt. Beide Möglichkeiten gefielen ihm nicht besonders.

"Zuerst dachte ich, Sie würden wegen ihr in den Daten des Centres herumschnüffeln", fuhr Sam fort, nun sichtlich entspannter. Er schien die Tatsache zu genießen, daß er den Pretender erstaunt hatte. "Dann fiel mir auf, wie dumm dieser Gedanke war. Das Centre wäre im Moment der letzte Ort, an dem man eine Spur von ihr finden könnte. Also habe ich Erkundigungen eingezogen. Schon Glück gehabt mit der Familienzusammenführung?"

Jarod spürte, wie sich seine Wangenmuskeln anspannten. Die Kontrolle über dieses Treffen schien ihm langsam zu entgleiten.

"Nein", antwortete er gepreßt. "Doch dafür habe ich Hinweise auf ein Projekt von Raines gefunden, das erklären dürfte, warum meine Mutter und meine Schwester nicht schon längst wieder mit meinem Vater vereint sind."

"Ach, das ist ja interessant", sagte Sam, und in seinen Augen erkannte Jarod aufrichtiges Interesse. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Sam von seiner Entdeckung zu berichten, doch dann erinnerte er sich daran, weswegen er Miss Parkers Sweeper aufgesucht hatte. Diese Angelegenheit hatte im Moment die absolute Priorität für ihn.

"Wollen Sie gar nicht mehr wissen, warum ich hier bin?" fragte er ungeduldig. Sam verzog die Lippen zu einem Grinsen, doch das konnte nicht über die Müdigkeit in seinem Gesicht hinwegtäuschen. Er zuckte mit den Schultern.

"Ich kann's mir denken. Sie erinnern sich noch an das, was ich Ihnen bei unserem letzten Gespräch gesagt habe?"

Eigentlich war es mehr eine Aussage als eine Frage, aber Jarod nickte dennoch.

"Sie wollten mich bei unserer nächsten Begegnung ins Centre zurückschaffen. Was hat Ihre Meinung geändert?"

Ein Ausdruck puren Hasses huschte über Sams Gesicht.

"Nichts auf dieser Welt könnte mich dazu bringen, etwas zu tun, was Lyle in ein besseres Licht rückt", erklärte er knapp. Jarod verstand. Heimlich amüsiert fragte er sich einen Herzschlag lang, ob Sam ihn wohl zurückbringen würde, wenn er damit Miss Parker in ein besseres Licht rücken konnte, dann schüttelte der den Gedanken als müßig ab.

"Eine Sache, in der wir uns einig sind", stellte der Pretender ruhig fest. "Vielleicht können wir ja noch eine finden?"

Sam erwiderte Jarods fragenden Blick, einen steinernen Ausdruck auf dem Gesicht. Wenn er es darauf anlegte, konnte der Sweeper recht schwer zu durchschauen sein.

"Ich denke schon", antwortete er nach einer Weile. Dann: "Ich weiß, wo sie ist."

Jarod hielt den Atem an. Hatte er gerade richtig gehört? Er blinzelte.

"Wie bitte?"

"Warten Sie hier", wies Sam ihn an. Der Sweeper verließ den Raum, und der Pretender starrte ihm fassungslos hinterher. All seine Mühe, Miss Parker zu finden - und Sam hatte die ganze Zeit gewußt, wo sie war? Bei diesem Gedanken meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er hatte seinem Vater zwar nicht direkt versprochen, die Suche nach Miss Parker aufzugeben und sich statt dessen darauf zu konzentrieren, seine Familie zu finden, aber es hatte sich trotzdem nicht ganz richtig angefühlt, seine Anstrengungen auf beide Aufgaben zu verteilen.

"Hier."

Sam war zurückgekehrt und hielt Jarod eine schwarze Plastikbox entgegen. Der Pretender öffnete sie und fand zu seiner Überraschung ein GPS-Peilgerät darin. Ungläubig starrte er von dem kleinen Gerät zu Sam und wieder zurück.

"Das ist nicht Ihr Ernst."

Als würde er sich unter Jarods Blick plötzlich unwohl fühlen, verlagerte Sam sein Gewicht von einem Bein aufs andere.

"Was für eine Wahl blieb mir denn?" fragte er mit einem Schulterzucken, einen irgendwie trotzigen Ausdruck auf dem Gesicht. "Sie wollte fortgehen; ich konnte in ihren Augen sehen, daß sie es ernst meinte. Dazu dann noch ihre Anweisungen... Als sie mich vor ihrer Abreise in ihr Haus rief, da brachte ich eine Wanze mit. Es war nicht weiter schwer, einen geeigneten Gegenstand zu finden, an dem ich sie unauffällig befestigen konnte, als sie mich für ein paar Momente allein ließ."

Jarod fühlte sich, als wäre er gerade mit dem Kopf direkt in eine massive Wand gerannt.

"Miss Parker... trägt eine Wanze mit sich herum? Seit mehr als einem Monat?"

"Das sagte ich doch gerade, oder nicht? Die Wanze befindet sich im Rahmen eines der Fotos, die sie mitgenommen hat. Ich..." Er brach ab und sah mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen auf das Peilgerät in Jarods Händen. Ein humorloses Lachen schüttelte seinen Körper für einen kurzen Moment.

"Sie wird mir die Haut abziehen, wenn sie das erfährt", murmelte er, dann sah er Jarod direkt in die Augen. "Ich habe das Gerät nur einmal eingeschaltet, um zu überprüfen, ob es funktioniert. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht, aber ich denke mal, daß Sie das ohne meine Hilfe herausfinden können."

Jarod schüttelte den Kopf.

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sam", war alles, was er für den Moment hervorbrachte. "Na ja, außer vielleicht: danke. Warum Sie mir helfen, weiß ich zwar nicht, aber das heißt nicht, daß ich nicht dankbar..."

"Ja, ja, schon gut", winkte Sam ungeduldig ab. "Sie sind es nicht, dem ich helfen will, soviel sollte Ihnen klar sein. Ich will nur, daß Miss Parker gefunden wird." Sams Gesicht verdüsterte sich. "Es gibt da einige Dinge im Centre, von denen sie nichts weiß. Dinge, um die sie sich kümmern sollte."

"Was..?" begann Jarod, doch Sam schüttelte nur den Kopf.

"Sie gehen jetzt besser. Ich habe schon viel zuviel gesagt." Er nickte mit dem Kopf in Richtung Tür, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen. Jarod sah ihn einen Augenblick lang unschlüssig an, dann nickte er Sam zum Abschied zu und machte sich mit seinem Schatz in den Händen auf den Weg zur Tür. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal zu Miss Parkers Sweeper um.

"Auch wenn Sie's nicht hören wollen: Ich danke Ihnen trotzdem. Miss Parker weiß gar nicht, wieviel sie Ihnen zu verdanken hat."

Mit diesen Worten verließ er Sams Wohnung, zum ersten Mal seit Wochen mit einem leichten Herzen und den Anfängen eines Plans im Kopf.

***

Ein leises, aber trotzdem sehr dringlich wirkendes Klopfen an seiner Bürotür riß Sydney aus seinen Gedanken. Er schloß die Akte, an der er gerade gearbeitete hatte - Raines hatte ihn erneut zu Experimenten mit Zwillingen verdonnert - und bat seinen Besucher herein. Verwundert fragte er sich, wer ihn so spät am Abend noch stören würde.

Es war Broots, der mit hochrotem Kopf und ziemlich außer Atem Sydneys Büro betrat. Der Ausdruck auf seinem Gesicht spiegelte eine Mischung aus kompletter Verwirrung, Erleichterung und Schock wider. Sydney erhob sich besorgt aus seinem Sessel. Erst jetzt fiel sein Blick auf das Blatt Papier, das Broots in der Hand hielt. Es schien sich um einen Computerausdruck zu handeln.

"Sydney, das... müssen Sie... sich ansehen", brachte Broots atemlos hervor und ließ sich auf die Couch gegenüber des Schreibtischs sinken. Seine Hände zitterten leicht.

"Broots, was ist denn los? Haben Sie neue Beweise im Fall Ben Miller gefunden?"

Der Techniker schüttelte den Kopf, und seine Augen weiteten sich leicht, als er Sydney das Blatt entgegenhielt. Er sah aus, als stünde er kurz vor einem hysterischen Anfall.

"Schön wär's", murmelte Broots. "Oh Mann, ich glaub's einfach nicht!"

Sydney begriff, daß es gar keinen Sinn haben würde, Broots noch weiter zu befragen. Er nahm seinem Freund und Kollegen das Blatt aus der Hand, drehte es herum und begann zu lesen. Zumindest versuchte er das, aber die fremdartigen Schriftzeichen ergaben keinerlei Sinn für ihn. Eine Sekunde später begriff er, daß das auch gar nicht nötig war. Sein Blick blieb an einem Schwarzweißfoto hängen, das von den Schriftzeichen völlig umschlossen war.

"Das ist ja Miss Parker!" rief er fassungslos, als er die Frau auf dem Bild erkannte. Der Mann neben ihr kam ihm ebenfalls bekannt vor... "Und das... Tommy Tanaka?"

Seine Gedanken überschlugen sich. Miss Parker war in Japan. Der Freund, von dem sie am Telefon gesprochen hatte, mußte Tanaka gewesen sein.

"Es geht ihr gut", wisperte Sydney erleichtert. "Es geht ihr doch gut, oder?" Besorgt sah er zu Broots, der leicht nickte.

"Wo haben Sie das gefunden, Broots?"

Broots schien beinahe in der Couch zu versinken.

"Erinnern Sie sich noch an das Programm, das ich mal geschrieben habe, um Jarod besser finden zu können? Der Spürhund?"

Sydney nickte, unterbrach Broots aber nicht.

"Angelo hat ein wenig daran herumgebastelt und dann im Internet nach Miss Parker gesucht. Vor einer Stunde hat er dann diesen Artikel hier gefunden, auf der Webseite einer japanischen Klatschzeitung."

Die Stimme des Technikers war immer leiser geworden; Sydney mußte sich ein wenig zu ihm vorbeugen, um seine nächsten Worte verstehen zu können.

"Ich hab's mir von Morgan aus der PR Abteilung übersetzen lassen - wissen Sie, was da steht, Sydney? Miss Parker wird in wenigen Wochen die Frau von Tommy Tanaka sein."

***

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Garten in ein fast unirdisch wirkendes Licht. Miss Parker wanderte gedankenverloren vorbei an langgezogenen Steinbassins und Zypressenhainen, bis sie über eine kleine Brücke den Teich im Zentrum des Gartens erreichte. Sie setzte sich auf eine Steinbank am Ufer des Teiches und ließ sich treiben. Der Frieden dieses Ortes erfüllte sie mit innerer Ruhe, und sie war in den letzten Wochen oft hergekommen, um über all das nachzudenken, was sie beschäftigte.

Auch heute erhoffte sie sich, Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken bringen zu können. Ihre Augen erfreuten sich an der minimalistischen und doch wunderschönen Gestaltung des Gartens, während ihr Bewußtsein damit beschäftigt war, die Ereignisse der letzten Stunden aufzuarbeiten. Ganz in Gedanken versunken betrachtete sie den Ring an ihrer Hand.

Noch vor ein paar Wochen hätte sie das alles kaum für möglich gehalten. Hier saß sie, Tausende von Kilometern von Blue Cove entfernt, verlobt mit einem Mann, der der japanischen Halbwelt angehörte und ihr einen Ort geboten hatte, an dem sie vor den unangenehmen Ereignissen in ihrer Heimat sicher war. Sie wußte, daß sie nicht wirklich alles hinter sich gelassen hatte. Die Erinnerung an Bens Tod war noch immer frisch in ihrem Gedächtnis; der Wunsch, sowohl seinen Mörder als auch den von Tommy zu finden, brannte noch immer in ihr. Doch beides war merkwürdig blaß, wirkte weniger intensiv, jetzt, da sie dem Centre den Rücken gekehrt hatte. Vielleicht bestand ja darin das Geheimnis, ihr Leben endlich in den Griff zu bekommen; vielleicht mußte sie einfach nur alles loslassen.

Loslassen - der Begriff schien ihr merkwürdig vertraut. Während sie noch in ihrer Erinnerung nach seiner versteckten Bedeutung kramte, wurde sie auf einmal von einer Bewegung abgelenkt. Etwas oder jemand war hier im Garten, ganz in ihrer Nähe.

"Hallo?" rief sie und schalt sich einen Moment später schon dafür. Sie wiederholte ihren Ruf, doch diesmal auf Japanisch. Keine Antwort. Dann, gerade als sie aufgestanden war, um sich in der Nähe etwas umzusehen, sah sie den Grund für die Geräusche auf sich zu kommen. Ein kleines japanisches Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, kam langsam über die Brücke gelaufen. Seine schwarzen Haare fielen ihm offen bis auf die Schultern, und in seinem runden Gesichtchen leuchteten zwei große, dunkle Augen. Die Kleine lächelte, als sie Miss Parker entdeckte und lief auf leicht wackeligen Beinchen auf sie zu.

"Hallo, meine Süße", begrüßte Miss Parker das Mädchen in seiner Muttersprache. "Verrätst du mir vielleicht, wer du bist?"

Das Mädchen überbrückte die letzten Meter zwischen ihnen und mußte sich für einen Moment an Miss Parkers Beine klammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Miss Parker lächelte und nahm die Kleine auf den Arm. Der vertrauensvolle Blick aus den großen Kinderaugen hatte eine merkwürdig beruhigende Wirkung auf sie.

"Akiko", sagte die Kleine klar und deutlich. Dann lächelte sie so zauberhaft, daß Miss Parker leise lachen mußte.

"Freut mich, Akiko-chan", erwiderte sie freundlich. "Ich bin Miss Parker. Sag mal, wo hast du denn deine Mama gelassen? Oder bist du hier etwa ganz allein unterwegs?"

Akiko sah sie nur groß an und gluckste vergnügt. Miss Parker überlegte. Tanaka hatte nichts davon erwähnt, daß auf dem Tanaka-Anwesen auch Kinder lebten. Vielleicht war ja heute jemand zu Besuch, der seine Tochter mitgebracht hatte? Noch während sie überlegte, was sie jetzt machen sollte, hörte sie erneut den Klang von Schritten. Sie mußte nicht lange warten, bis sie den Urheber des Geräuschs über die Brücke kommen sah.

"Miyako?" rief sie ungläubig, sobald sie die junge Frau erkannt hatte, die ihr mit langen, federnden Schritten entgegenkam. Kurz vor ihr blieb die Japanerin stehen und verneigte sich ernst, dann bedachte sie Miss Parker mit einem strahlenden Lächeln. Parker erwiderte beides.

"Hai, in Person", beantwortete Miyako Miss Parkers Frage. "Ist ganz schön lange her, nicht wahr, Parker-san?"

"Das müssen jetzt fast acht Jahre sein", bestätigte Parker und unterzog Miyako einer genauen Musterung. Wie auch als Kind schon trug die junge Japanerin die tiefschwarzen Haare zu einem langen Zopf geflochten; nur ihr Pony fiel ihr jetzt nicht mehr ganz so lang in die Stirn. Sie war fast so groß wie Miss Parker und damit ungewöhnlich hochgewachsen. Ihr Gesicht wirkte etwas blaß, aber aufgeschlossen und fröhlich wie eh und je. Erfreut über das unerwartete Wiedersehen setzte Parker die kleine Akiko vorsichtig auf dem Boden ab und schloß Miyako in die Arme.

"Du siehst wirklich wundervoll aus, Miyako", meinte sie dann und verzichtete bewußt auf das 'chan'. Miyako war jetzt eine erwachsene Frau und da erschien es Parker unpassend, sie noch immer wie ein Kind anzureden, auch wenn die andere Frau jünger war als sie selbst. Bei genauerer Betrachtung mußte Miyako jetzt ungefähr Mitte zwanzig sein, also ungefähr im selben Alter wie Miss Parker, als sie Miyakos Bruder Tommy kennengelernt hatte.

"Danke, das kann ich nur zurückgeben", erwiderte Miyako mit einem feinen Lächeln. Die Zeit mit meinem Bruder scheint dir gut zu bekommen."

Parker lachte leise.

"Ich sehe schon, dir entgeht noch immer nichts!"

Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber von Akiko unterbrochen, die mit dringlicher Miene an Miyakos Kimono zupfte und so ihre Aufmerksamkeit zu erlangen suchte.

"Okâsan", sagte die Kleine und deutete hinüber zum Teich. Miyako lächelte.

"Setzen wir uns?" fragte sie Miss Parker und nickte hinüber zu der Steinbank, auf der Parker noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. Ohne Parkers Antwort abzuwarten, ging sie zum Ufer des Teiches und setzte sich so, daß Akiko unter ihrer Aufsicht ein wenig mit den Händen im Wasser plantschen konnte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Miss Parker sich wieder gefaßt hatte.

"Du hast eine Tochter?" erkundigte sie sich ungläubig. Miyako lachte leise und hob dann ihre rechte Hand so, daß Parker den Ring daran sehen konnte. "Und verheiratet bist du auch?"

"Hai, seit fast drei Jahren schon", bestätigte Miyako und klopfte mit der flachen Hand einladend neben sich auf die steinerne Bank.

"Du kennst ihn übrigens", fuhr sie fort, während Miss Parker sich setzte und ihre alte Freundin überrascht ansah. "Er arbeitet in der New Yorker Niederlassung unserer Firma. Sein Name ist Ioyushu Shinji."

Für einen Augenblick wußte Miss Parker mit dem Namen nichts anzufangen, dann fiel ihr wieder ein, unter welchen Umständen sie den Mann getroffen hatte. Er war derjenige gewesen, mit dem sie sich ausgiebig über ihren Bruder Lyle unterhalten hatte. Wenn sie sich recht erinnerte, war er ein gutaussehender Mann Ende zwanzig, der ihr geduldig zugehört und sie sehr höflich behandelt hatte.

"Ein guter Fang", sagte sie nach einer kurzen Pause und meinte es auch so. Miyako hätte es sehr viel schlechter treffen können. Etwas benommen schüttelte Parker den Kopf.

"Geht es dir nicht gut, Parker-san?" erkundigte sich Miyako besorgt.

"Nein, ist schon gut - ich muß das nur erst einmal alles verarbeiten. Ich bin etwas... überrascht, dich hier zu treffen. Und deine Tochter. Dein Bruder hätte mich vorwarnen sollen."

"Tommy wußte selbst nicht, daß wir heute schon ankommen würden", erklärte Miyako, und in ihren Augen funkelte es vergnügt. "Unsere Ankunft war erst für nächste Woche geplant, aber ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie. Außerdem konnte ich es kaum abwarten, dich wiederzusehen."

Miss Parker setzte zu einer Erwiderung an, doch ein lautes Platschen lenkte sie ab. Miyako fuhr herum und erwischte ihre Tochter gerade noch rechtzeitig um zu verhindern, daß sie ganz in den Teich fiel. Akiko gluckste vergnügt, obwohl sie vom Bauchnabel an aufwärts klatschnaß war.

"Sie liebt Wasser", meinte Miyako entschuldigend. "Wenn es nach ihr ginge, würde sie mindestens dreimal am Tag baden. Entschuldige mich bitte, aber ich gehe sie lieber abtrocknen, sonst erkältet sie sich noch."

"Natürlich", sagte Miss Parker sofort. Sie stand ebenfalls auf, als Miyako sich erhob und strich Akiko über das nasse Haar. "Du solltest lieber schnell schwimmen lernen, Süße."

Miyako lächelte und nahm ihre Tochter auf den Arm.

"Sehen wir uns zum Abendessen?" fragte sie Miss Parker.

"Mit Vergnügen", lächelte Parker.

"Schön, dann bis gleich", verabschiedete sich Miyako, dann verneigte sie sich mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen und machte sich auf den Weg zurück zum Hauptgebäude des Anwesens. Akiko, die über ihre Schulter zurück auf Miss Parker blickte, winkte zum Abschied.

Miss Parker sah den beiden nach, bis sie über die Brücke gegangen und hinter einer Biegung im Kiesweg verschwunden waren. Verblüfft kehrte sie zurück zur Steinbank und setzte sich wieder hin. Die Begegnung mit Miyako hatte ihre Gedanken in einen so starken Aufruhr versetzt, daß sie jede Hoffnung auf ein paar klärenden Einsichten für diesen Tag wohl aufgeben konnte. Sie lächelte. Ihr Wiedersehen mit Miyako war durchaus ein wenig Aufruhr wert, fand sie. Mit Sicherheit konnten ihre Einsichten noch etwas länger warten.

Noch immer lächelnd erhob sich Miss Parker und warf einen letzten Blick auf den kleinen Teich, in dem sich die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten. Zeit fürs Abendessen. Während sie über die Brücke zurück in den äußeren Bereich des Gartens schlenderte, ignorierte Miss Parker die leise Stimme in ihrem Inneren, die darauf bestand, daß sie sich an die Bedeutung des Wortes 'loslassen' erinnern solle. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.









You must login (register) to review.