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Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Eine kurze Anmerkung zu diesem Kapitel von Kostbare Momente: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, diesen Teil zu schreiben, und ich kann nur hoffen, daß es mir gelungen ist, wenigstens einen Teil meiner Emotionen durch meine Worte auszudrücken. Die drei Szenen in diesem Teil bedeuten mir - jede auf ihre Weise - sehr viel, und auch wenn sie letztendlich vielleicht nicht so hier stehen, wie ich sie im Kopf habe, hoffe ich doch sehr, daß sie das vermitteln, was ich mir vorgestellt habe.

Zu Kostbare Momente allgemein möchte ich noch folgendes sagen: nach diesem Teil, also dem 15., werden noch sechs größere Abschnitte, untergliedert in mehrere Teile, folgen. Ich weiß, daß diese Geschichte sehr lang ist, deshalb hat es mich auch nicht allzu sehr überrascht, als ich kürzlich gebeten worden bin, so langsam zum Ende zu kommen. Dazu möchte ich sagen, daß ich noch ein paar Pläne und Ideen für KM habe, die ich auf alle Fälle noch verwirklichen möchte. Ich kann aber verstehen, daß ihr euch das Ende herbeisehnt und werde mich bemühen, KM innerhalb der nächsten zwei bis drei Monate zu beenden.

So, das war's auch schon; jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

Die schwermütige Stimmung dieses Teils sponsored by Mission: Impossible II Original Score... ;)

Wie immer gilt mein Dank Dara, die nicht nur für mich Korrektur liest, sondern mich auch immer wieder zum Lachen bringt!




Kostbare Momente
Teil 15

von Miss Bit





Er stand einfach nur da und starrte sie an; es war alles, wozu er fähig war. Tage waren vergangen - lange, dunkle Tage voller Angst und Zweifel -, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sein Herz trommelte einen schnellen, unregelmäßigen Rhythmus gegen seinen Brustkorb, während seine Augen starr auf die blasse Frau auf der anderen Seite des Raumes gerichtet waren. Waren es wirklich nur einige Tage gewesen, die ihn gelehrt hatten, dem zornigen Flüstern seiner Sorge mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Suche nach seiner Identität?

Sie saß bewegungslos an ihrem Tisch, das Gesicht halb im Schatten, die Hände flach auf dem Tisch. Ihre Augen wanderten über seinen Körper, sparten nur sein Gesicht aus, von dem er sich wünschte, sie möge es für den Rest der Zeit einfach ansehen. Sekunden verstrichen, für alle anderen erfüllt mit dem Dröhnen von mechanischer Musik, doch lautlos zwischen ihnen beiden. Sein Atem ging schneller, schien sich dem Rasen seines Herzens angleichen zu wollen.

Als sie aufstand, wünschte er verzweifelt, er könne sich aus seiner Erstarrung lösen, doch allein seine Augen schienen noch den Befehlen seines Gehirns zu gehorchen. Sein Blick sog alle Details ihres Aussehens in sich auf; die schwarzen, hochhackigen Stiefel; das lange, schwarze Samtkleid, das ihre Figur wie eine zweite Haut umschmiegte und nicht verbergen konnte, wie dünn sie geworden war; ihre blasse, beinahe durchscheinend wirkende Haut; ihr langes Haar, das nicht länger glatt und perfekt zu beiden Seiten ihres Gesichtes lag, sondern ihren Kopf stumpf und ungezähmt wie ein schwarzer Schleier umgab. Sie war eine wilde Schönheit, die ihn in ihrem Blick gefangenhielt.

Hilflos sah er zu, wie sie nach ihrem schwarzen Mantel griff und ihn überstreifte. Ihre rechte Hand verschwand in einer der Taschen, und sofort verriet ihre gesamte Körperhaltung, daß sie dort etwas gefunden hatte, das ihr genug Selbstsicherheit verlieh, um diese Situation zu kontrollieren.

Er ahnte, nein, wußte, was sie nun ihrer blassen Hand hielt. Noch immer hielt er fest an dem Band, das seine Emotionen mit den ihren verknüpfte, ihm verriet, wie er Zugang zu ihr finden konnte. Wenn er sich nur bewegen könnte!

Ihr Blick bohrte sich in ihn hinein, doch es lag keine Emotion darin, nur eine stumme Herausforderung. Sie stand neben dem Tisch, wirkte mit einemmal wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit auf ihn. Unnahbar, kühl; gleichzeitig verletzlicher, als sie selbst es ahnte. Allein an einem dunklen Ort, auf der Flucht vor menschlicher Nähe und zugleich auf der Suche danach.

Er fragte sich, ob sie spüren konnte, daß er sie verstand, ob sie in seinem Gesicht so lesen konnte wie er in ihrem.

Reglos standen sie da, gefangen in einem Moment, der die Entscheidung bringen würde über Jäger und Gejagten. Dieser Moment zwischen ihnen dauerte nur einen Herzschlag, doch gleichzeitig schien er ein ganzes Leben auszufüllen. Ihr Leben. Sein Leben.

Es fiel ihm nicht leicht, doch er überließ ihr die Entscheidung. Obwohl er wußte, daß sie noch immer nicht bereit war, ihm mit ihrem Herzen zu vertrauen, schmerzte es ihn doch, als sie ihren Blick von ihm abwandte und davonging. Wieso nur gestattete er sich selbst nie den Luxus, auf seine besonderen Fähigkeiten zu verzichten, so daß ihn das Verhalten anderer Menschen überraschen konnte?

Als er sie weggehen sah, gelang es ihm endlich, sich wieder zu bewegen. Er folgte ihr mit langen Schritten, während er in Gedanken durchging, was er zu ihr sagen würde, wenn er sie eingeholt hatte.

Sie verschwand durch den Notausgang, doch er war so dicht hinter ihr, daß die Tür noch nicht ganz zugefallen war, als er sie erreichte. Mit einer heftigen Bewegung stieß er die Tür auf und trat hinaus in die schneidend kalte Luft des späten Nachmittags. Doch das war nicht die einzige Kälte, die ihn beim Verlassen des Nachtclubs begrüßte. Das kühle Metall einer Mündungsöffnung preßte sich plötzlich gegen seine rechte Schläfe; eisblaue Augen musterten ihn mit einer Mischung aus Zorn und Triumph. Er spürte, wie sie ihren Ärger als einen Schutzwall benutzte, der ihn erfolgreich aus ihrer Gefühlswelt ausschloß. Sein eigener Zorn wurde geweckt; hilflos ergab er sich ihm. Ein leises Klicken war in der schmalen Gasse zu hören, in der sie standen, kündigte an, daß die Waffe in ihrer Hand nun entsichert war.

Miss Parker starrte zu ihm empor, unbeeindruckt von dem Größenunterschied zwischen ihnen beiden. Jarod hielt ihrem Blick stand, entschlossen, diesmal keinen Deut weit nachzugeben.

"Ich dachte, wir wären alte Freunde. Weißt du nicht mehr, wer ich bin?" fragte er, sein Tonfall gepreßt und gleichzeitig bittend.

"Und ich dachte, das hätten wir geklärt, Jarod", gab sie kühl zurück. "Du und ich, wir sind keine Freunde. Es wäre besser für dich, wenn du das endlich verstehen würdest."

Dienten ihre Worte nur dazu, ihn zu verletzen, oder war sie vielleicht wirklich davon überzeugt, daß sie der Wahrheit entsprachen?

"Nein", sagte er und schüttelte den Kopf, "das werde ich nicht akzeptieren. Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden. Über dich. Über uns."

Ihre Augen verengten sich, und sie preßte ihre Lippen für einen Moment fest aufeinander.

"Ich weiß genau, warum du hergekommen bist. Du hast geglaubt, daß ich deine Hilfe brauche. Nun, du hast dich geirrt. Es geht mir gut. Ich brauche keine Hilfe; ich komme sehr gut allein zurecht. Das war schon immer so, und ich sehe nicht, warum sich das jetzt ändern sollte."

Erneut klickte der Sicherheitshahn ihrer Waffe. Sie ließ ihre Hand sinken und verstaute die Waffe wieder in ihrer Manteltasche. Aus dem Augenwinkel sah er das leichte Zittern ihrer Finger; diese kaum wahrnehmbare Unsicherheit ihrerseits genügte, um seinen Zorn abzukühlen.

"Es ist vorbei, Jarod", wisperte sie rauh, das Gesicht von ihm abgewandt. "Es endet jetzt und hier."

Damit drehte sie sich um, machte einen Schritt von ihm fort, offensichtlich in der Absicht, ihn hier allein zurückzulassen. Doch Jarod war nicht bereit, sie noch einmal auf diese Weise aus seinem Leben gehen zu sehen. Er war einmal dumm genug gewesen, sie gehen zu lassen - dieses Mal würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um sie mit ihren Gefühlen zu konfrontieren und dadurch eine Chance zu erhalten, ihren Panzer aus Angst und Zorn zu durchstoßen.

Seine Hand schnellte nach vorne, schloß sich um ihren Arm. Er zog sie zu sich, drehte sie um, so daß sie ihn wieder ansah. Sie war gefangen, nicht so sehr wegen seiner Finger, die sich fest um ihren Arm geschlossen hatten, sondern in seinem intensiven Blick. Auch wenn es für ihn nicht ungefährlich war, legte er die ganze Tiefe seiner Emotion für sie in seinen Blick, ließ sie sehen, was ihn bewegte.

'Es ist fast wie bei unserer Begegnung im Centre', schoß es Jarod auf einmal durch den Kopf. Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest, versuchte zu ergründen, ob sie diese Ähnlichkeit ebenfalls empfand. Aber ihr Blick war leer, kündete einzig von ihrem verzweifelten Bemühen, ihre Emotionen gefangenzuhalten und somit sicher vor ihm zu verwahren.

Jarods Finger schlossen sich fester um ihren Arm, bis er fast sicher war, daß sein Griff ihr Schmerzen bereitete. Sein rationaler Kern war sich dessen bewußt, daß er ihr wehtat, aber die Stimme seiner Vernunft war machtlos gegen den Sturm der Emotionen, den Parkers Verhalten in ihm ausgelöst hatte. Als er sah, wie sich ihre Augen veränderten, faßte er einen Entschluß. Ihr Schmerz würde eine Öffnung in ihren Mauern aus Wut und Angst schaffen, würde ihm erlauben, zu ihr vorzudringen.

"Nein, es ist nicht vorbei", wisperte er so leise, daß sie sich näher zu ihm lehnen mußte, um seine Worte zu verstehen. "Es fängt gerade erst an."

Ihre Augen weiteten sich ob der Bedrohlichkeit seiner Worte. Sie zog an ihrem Arm, versuchte, sich dadurch von ihm zu lösen, aber er gab nicht nach, umschloß den Arm nur noch fester. Seine Fingerknöchel begannen bereits, weiß hervorzutreten. Miss Parkers Augen verfärbten sich dunkel vor Schmerz, doch sie sagte nichts, blickte ihn nur stumm an.

"Bens Ermordung hat dich schwer erschüttert", fuhr Jarod im selben flüsternden Tonfall wie zuvor fort. Ein Zittern lief, deutlich spürbar für ihn, durch Miss Parkers Körper. Es war ihm Antwort genug.

"Du glaubst, es sei allein deine Schuld, daß er jetzt tot ist", stellte Jarod nach einer kaum wahrnehmbaren Pause in normaler Lautstärke fest. Noch immer zeigte sich keine Regung in Miss Parkers Augen, abgesehen von dem Schmerz, den sein fester Griff ihr verursachte. "Er ist tot, ermordet weil er dich kann..."

"Ich habe ihn nicht ermordet!"

Ihr zorniger Schrei hallte durch die Gasse, wurde von den hohen Wänden zurückgeworfen und kehrte als anklagendes Echo zurück. Sie sah ihn mit großen Augen an, Zorn und Enttäuschung so deutlich darin, daß es Jarod fast das Herz brach. Noch einmal versuchte sie, sich mit einer heftigen Bewegung von ihm loszureißen, aber er hielt sie fest, wagte einfach nicht, sie loszulassen. Statt dessen lockerte er seinen Griff etwas, ließ seine Hand an ihrem Arm nach oben gleiten, bis sie an ihrer Schulter ruhte. Er umfaßte auch ihre andere Schulter, verstärkte seinen Griff wieder etwas und schüttelte sie leicht, um so ihre ganze Aufmerksamkeit zu erringen.

"Das weiß ich", versicherte er ihr in seinem eindringlichsten Tonfall. "Ich wollte damit nicht sagen, daß ich dich für Bens Mörderin halte. Es ist nicht deine Schuld, daß er tot ist; das ist alles, was ich sagen wollte. Die Wahrheit ist aber, daß er tot ist, weil er dich kannte. Doch dieser Umstand gibt dir keine Schuld an seinem Tod."

Für einen winzigen Moment glaubte er, endlich zu ihr vorgedrungen zu sein. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie ihn ansah, während sie über seine Worte nachdachte. Vielleicht war das alles, was sie gebraucht hatte; eine bloße Bestätigung, daß das fürchterliche Verbrechen in Maine nicht ihre Schuld war. Jarods Hoffnung zerstob jedoch, als er sah, wie Miss Parker mehrmals heftig blinzelte, um ihre Tränen zu vertreiben. Ihr Gesicht verhärtete sich, und ihre Augen schlossen ihn wieder aus ihrer Gefühlswelt aus.

"Tu das nicht", bat er sie leise. "Tu das bitte nicht."

Ihre einzige Antwort bestand aus einem Kopfschütteln. Sie biß sich auf die Unterlippe, als müßte sie sich auf diese Weise daran hindern, ihm etwas zu sagen. Jarod seufzte innerlich. Ihm blieb keine andere Wahl. Miss Parker ließ einfach nicht zu, daß er es ihr leicht machte. 'Es tut mir leid, Parker', dachte er kummervoll. 'Aber es geschieht nur zu deinem besten.'

"Es geht hier gar nicht nur um Ben", sagte er laut, seinen Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet. Sie wich seinem Blick nicht aus, doch trotzdem gelang es ihm nicht, in den eisblauen Tiefen ihrer Augen zu lesen. Er bewegte sich ohne Orientierungshilfe auf sehr gefährlichem Gebiet, doch er war fest davon überzeugt, daß es seine - und ihre - einzige Chance war.

"Du trauerst noch immer um Tommy", drang er gnadenlos weiter in sie. Er sah, daß sie sich noch immer auf die Lippe biß und erkannte plötzlich, warum. Es waren keine Worte, die sie vor ihm verstecken wollte - es war das leichte Zittern ihrer Unterlippe, das ihm ihre innere Aufgewühltheit mit Sicherheit verraten hätte. Diese Erkenntnis erleichterte Jarod, denn sie bedeutete, daß er sich auf dem richtigen Weg befand; zugleich machte sie ihm aber auch angst, weil ihnen das schlimmste noch bevorstand.

"Er hat dich geliebt und dir etwas wiedergegeben, was das Centre dir vor langer Zeit genommen hat. Familie. Das Vertrauen in menschliche Nähe. Doch dieses Geschenk, das er dir gemacht hat, mußte er mit seinem Leben bezahlen."

Seine Stimme war immer leiser, aber auch immer eindringlicher geworden. Es war mehr als deutlich, daß seine Worte ihre Wirkung auf Miss Parker nicht verfehlten. Erneut hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt; erste Anzeichen ihres emotionalen Schmerzes verschleierten ihren Blick. Obwohl er sah, daß es ihr nicht leicht fiel, hielt sie seinem Blick noch immer stand.

"Tommy", brachte sie hervor, ein mühsam unterdrücktes Schluchzen in der Stimme. Entsetzen schlich sich in ihren Blick, als sie begriff, wie dünn die Schicht aus Selbstbeherrschung war, mit der sie ihre Trauer bis jetzt verdrängt und beherrscht hatte. "Sie haben ihn getötet, weil ich für ihn das Centre verlassen hätte..."

Ihre Stimme erstarb, als sie ein letztes Mal versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Jarod holte zitternd Luft und setzte zu seinem letzten Schlag an.

"Sie konnten nicht zulassen, daß du mit Tommy fortgehst. Und weil sie dich nicht opfern konnten..." Er ließ das Ende des Satzes kurz in der Luft hängen, bevor er weitersprach. "Tommy und Ben waren einzigartige Stützen in deinem Leben. Sie standen dir nahe, haben dich ebenso geliebt wie du sie. Sie wurden dir genommen, so daß du dein Leben wieder allein meistern mußtest. So, wie es schon einmal war, vor mehr als zwanzig Jahren."

Miss Parkers Widerstand erstarb mit einemmal; sie starrte in Jarods Gesicht, verzweifelt bemüht, einen anderen Sinn als den von ihm beabsichtigten in seinen Worten zu erkennen. Es gelang ihr nicht.

"Deine Mutter starb im Centre; starb für dich, einzig, weil sie deine Mutter war", flüsterte Jarod. Zu mehr war er nicht fähig; er traute seiner Stimme nicht länger. Nur zu gerne hätte er diese Konfrontation vermieden, doch Miss Parker hatte ihm keine Wahl gelassen. Er hatte ihr zeigen müssen, was das Centre aus ihrem Leben gemacht hatte, welches Unrecht ihr und den von ihr geliebten Menschen angetan worden war. Nur so konnte er hoffen, daß er endlich einen Weg finden würde, sie mit sich selbst und ihren Gefühlen - auch denen für ihn - auszusöhnen.

Ein Zittern lief durch ihren Körper; Tränen rannen über ihre Wangen. Sie wandte den Blick von ihm ab, senkte den Kopf und stand ein paar Sekunden lang einfach nur so da, gestützt allein von seinen Händen um ihre Schultern. Dann öffnete sie den Mund und ein trockenes Schluchzen bahnte sich seinen Weg nach draußen. Miss Parker ließ sich nach vorne sinken, bis ihr Kopf an Jarods Brust ruhte. Sofort schloß er sie in seine Arme, hielt sie so fest er nur konnte. Weitere Schluchzer erschütterten ihre Körper, ließen Jarod erahnen, wie tief der Schmerz sein mußte, den sie nun schon so lange allein mit sich herumgetragen hatte. Was mochte es für ein Gefühl sein, all jene Menschen zu verlieren, denen sie einen Teil dieses Schmerzes anvertraut hatte, mit denen sie versucht hatte, ihre Bürde zu teilen? Er schreckte davor zurück, sich diese Frage selbst zu beantworten. Es gab Dinge, die er sich einfach nicht vorstellen wollte. Und doch, um Miss Parkers Willen, würde er es tun, denn er begriff, daß er ihr nur würde helfen können, wenn er vorher ihre emotionale Last verstand.

Als er sich später an diese Begegnung zurückerinnerte, konnte er nicht mehr sagen, wie lange sie dort engumschlungen in dieser Gasse gestanden hatten. Er erinnerte sich nur noch an Miss Parkers leise Worte, die sie zwischen Schluchzern gegen seine Brust gemurmelt hatte.

"Bitte bring mich fort von hier, Jarod."

Und genau das hatte er dann auch getan.

***

Regen prasselte unaufhörlich gegen das Fenster in Sydneys Büro. Er saß schon seit den frühen Morgenstunden an seinem Schreibtisch, versunken in seine Gedanken. Der gestrige Tag war in mehr als einer Hinsicht sehr aufschlußreich gewesen; er hatte sich mit mehreren Leuten hier im Centre unterhalten und so Informationen gesammelt. Das Problem war nur, daß es ihm nicht gelingen wollte, zwischen den einzelnen Informationen einen plausiblen Zusammenhang herzustellen.

Zunächst hatte er sich bemüht, ein halbwegs normales Gespräch mit Mr. Lyle zu führen. Miss Parkers Zwillingsbruder war ihm als die logischste Wahl erschienen, um mehr über diese mysteriösen Verhaftungen und die Anklage herauszufinden. Sehr zu seinem Erstaunen hatte Lyle zwar nicht seine übliche Überheblichkeit an den Tag gelegt, aber er hatte, ähnlich wie Broots an seinen schlimmsten Tagen, extrem nervös, ja fast schon paranoid, gewirkt. Sydneys Fragen hatte er, wenn überhaupt, nur sehr knapp beantwortet, und nach nicht einmal fünf Minuten hatte er den Psychiater mißtrauisch angesehen und sich nach dem Grund für Sydneys plötzliches Interesse an seiner Situation erkundigt. Offenbar hatte Lyle es für möglich gehalten, daß Sydney hinter der falschen Anklage gegen ihn steckte.

Nachdem er dieses Gespräch hinter sich gebracht hatte, war Sydney hinüber in den Forschungstrakt gegangen, um ein paar Worte mit Raines zu wechseln. Normalerweise stand eine Unterhaltung mit Raines ganz unten auf der Liste von Dingen, die er freiwillig initiieren würde, aber Raines hatte - zumindest in Sydneys Augen - ein großes Interesse daran, Lyle nachhaltig zu schaden. Nicht nur, daß Lyle der Sohn von Mr. Parker - also Raines größtem Konkurrenten hier im Centre - war, nein, er entwickelte besonders in der letzten Zeit einen immer größeren Machthunger, den zu kontrollieren Raines nicht mehr lange imstande sein würde.

Ebenso wie Lyle war Raines äußerst kurzangebunden ihm gegenüber gewesen. Er hatte erstaunt, fast schon verärgert darüber ausgesehen, daß Sydney den Forschungstrakt betreten hatte, ohne sich vorher anzukündigen. Es hatte beinahe so ausgesehen, als wolle Raines etwas, das dort vor sich ging, vor ihm verbergen. Und wenn er so über seinen ehemaligen Kollegen nachdachte, hielt Sydney das für durchaus möglich. Doch was immer Raines auch wieder aushecken mochte, die Ergründung dieses Geheimnisses würde warten müssen, bis das Rätsel um Lyles momentane Probleme gelöst worden war.

Sydney runzelte die Stirn. Irgendwo mußte es etwas geben, das er übersehen hatte. Es gab mehr als genug Leute, die einen Grund hatten, Lyle schaden zu wollen. Nicht alle dieser Leute hatten etwas mit dem Centre zu tun. Da waren zum Beispiel noch die Yakuza, die Sydneys Meinung nach ohnehin die Hauptverdächtigen in dieser Angelegenheit waren. Für sie wäre es mit Sicherheit ein leichtes gewesen, Lyle ein Verbrechen anzuhängen, das nicht er, sondern ein Mitglied der Yakuza begangen hatte. Doch warum sollten sie ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählen, um aktiv...

Das Klingeln seines Handys unterbrach seinen Gedankengang. Aufgeregt griff er nach dem kleinen Telefon, das seine einzige sichere Verbindung zu Jarod darstellte. Nur wenige Menschen kannten seine private Nummer; wer immer ihn also jetzt anrief, wollte nicht, daß das Centre mithörte.

"Hier spricht Sydney", meldete er sich und lauschte erwartungsvoll auf die Antwort.

"Hallo, Sydney", erwiderte eine ihm im ersten Moment unvertraute Stimme. "Major Charles hier."

"Major, stimmt etwas nicht?" erkundigte sich Sydney besorgt. Er hatte Jarods Vater für den Notfall seine Handynummer gegeben.

"Nun, wie man's nimmt", war die wenig beruhigende Antwort des Majors. "Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie mir damals in der Hütte Ihre Hilfe angeboten haben?"

Verwirrt fragte sich Sydney einen Moment lang, was der Major meinte, doch dann fiel ihm wieder ein, worüber sie sich vor wenigen Wochen, die ihm mittlerweile wie Jahre erschienen, unterhalten hatten.

"Natürlich", sagte er dann. "Was kann ich für Sie tun? Geht es um Jarod? Oder um Jay?"

"Weder noch, Sydney. Ich würde mich mit Ihnen gerne über Miss Parker unterhalten."

"Über Miss Parker?" Ohne, daß er es verhindern konnte, schlich sich eine aggressive Note in seine Stimme. Er wußte, daß es unsinnig war; doch trotzdem fühlte er sich gezwungen, sie zu verteidigen, auch und besonders Jarods Vater gegenüber. "Sie haben den Bericht aus Maine im Fernsehen gesehen, habe ich recht?"

"Ich weiß, daß sie es nicht getan hat, Sydney. Jarod hat mir alles genau erklärt, bevor er aufgebrochen ist, um sie zu suchen. Mir geht es um etwas anderes. Ich brauche mehr Informationen über diesen Ben Miller. Als ich Sie eben danach gefragt habe, ob Sie sich noch an Ihr Hilfsangebot erinnern, wollte ich Sie damit nicht um Ihre Hilfe bitten. Nun, genaugenommen schon."

Der Major machte eine Pause, wohl, um seine Gedanken zu ordnen. Sydney lächelte schwach.

"Es ist doch so: Jay und ich haben im Moment nichts weiteres zu tun, als auf Jarods Anrufe zu warten. Die, wenn ich das als besorgter Vater mal äußern dürfte, ruhig ein wenig öfter kommen könnten."

Das Lächeln auf Sydneys Gesicht verbreiterte sich etwas. In diesem Punkt verstand er den Major nur zu gut.

"Aber zurück zum Thema", fuhr der Major fort. "Als wir den Bericht gesehen haben, ist uns klargeworden, daß diese Ermittlungen eine unnötige Belastung für Miss Parker darstellen. Also haben wir uns entschlossen, eigene Ermittlungen anzustellen. Aus diesem Grund rufe ich an. Ich nehme mal an, daß Sie sich auch schon Ihre Gedanken darum gemacht oder vielleicht sogar schon Schritte in diese Richtung unternommen haben. Jay und ich möchten Ihnen eine Zusammenarbeit anbieten."

Sydney schluckte schwer. Er fühlte sich versucht, sich selbst für seine grenzenlose Dummheit zu ohrfeigen. Wieso hatte er nicht daran gedacht?

"Major, ich weiß gar nicht, wie...", begann er, nur um mitten im Satz abzubrechen und noch einmal von vorne zu beginnen. "Mein Kollege Broots und ich, wir sind noch gar nicht auf diesen Gedanken gekommen. Wir sind gerade dabei, etwas über unseren guten Mr. Lyle herauszufinden."

"Dieser Lyle schon wieder", grollte der Major. "Jarod meinte, er würde wohl auch eine Rolle bei Mr. Millers Ermordung spielen. Hören Sie, vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn wir arbeitsteilig vorgingen. Sie kümmern sich um Mr. Lyle, was von daher praktisch ist, daß Sie sich ohnehin in Blue Cove befinden, und Jay und ich sehen, was wir in Maine herausfinden können. Was meinen Sie dazu, Sydney?"

Für einen Moment war Sydney sprachlos. Er dankte dem Schicksal stumm dafür, daß es ihn im Ausgleich für seine Kollegen im Centre mit zuverlässigen und intelligenten Freunden gesegnet hatte.

"Das ist die beste Idee, die ich seit langem gehört habe, Major", sagte er, aufrichtig froh.

"Prima, dann machen wir es so", bestätigte der Major. "Und bitte, Sydney, nennen Sie mich Charles."

"Ich danke Ihnen, Charles."

"Keine Ursache, Sydney, wirklich nicht. Ich helfe Miss Parker sehr gern; nur bedauere ich die Umstände unserer Zusammenarbeit sehr. Wobei mir einfällt: ich würde Sie gerne etwas fragen. Haben Sie vielleicht eine Idee, warum der Mörder ein so großes Interesse an dem Wort Vater zu haben scheint? Jarod hat mir leider nicht alle Details erzählt, deshalb beschäftigt mich diese Sache."

Sydney spürte, wie bei der Erinnerung an das Bild aus Bens Wohnzimmer jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Mit seiner freien Hand hielt er sich an der Tischkante fest.

"Vor zwei Jahren hat Jarod herausgefunden, daß die Möglichkeit besteht, daß Ben Miller der Vater von Catherines Kindern ist. Da Lyle Miss Parkers Zwillingsbruder ist, vermuten wir, daß er der Mörder von Ben ist", erklärte Sydney eilig. Er sprach nicht sehr gerne über dieses Thema und versuchte nun, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

"Ah, ich verstehe", meinte der Major nach einer kurzen Pause. "Ja, das wäre durchaus eine Erklärung. Ich danke Ihnen, Sydney. Leider muß ich jetzt Schluß machen, aber ich melde mich, sobald wir etwas Neues herausgefunden haben."

"Ich habe Ihnen zu danken, Charles. Falls wir irgend etwas für Sie tun können, zögern Sie bitte nicht, uns zu verständigen."

"Ist gut, Sydney. Bis bald", verabschiedete sich Charles von ihm.

"Machen Sie's gut", antwortete Sydney. Er hörte, wie der Major am anderen Ende auflegte und klappte daraufhin sein Handy zu. Geistesabwesend legte er es zur Seite. Ein Gedanke hatte sich in seinem Bewußtsein festgesetzt, ein Gedanke, der nach einer genaueren Betrachtung verlangte. Warum hatte der Mörder das Wort Vater an die Wand geschrieben? Wenn Lyle wirklich der Täter war, warum hatte er dann diesen mehr als deutlichen Hinweis hinterlassen? Und warum hatte er Ben überhaupt ermordet? Weil er den Gedanken nicht ertrug, daß nicht der alte Mr. Parker sein Vater war?

Ein Verdacht begann in Sydney aufzukeimen, ein so schrecklicher Verdacht, daß er ihm aufgrund seiner weitreichenden Verflechtungen für einen Moment den Atem raubte. Möglicherweise sollten sie ihre Ermittlungen gar nicht auf Mr. Lyle konzentrieren.

***

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal in ihrem Leben so verletzt und alleingelassen gefühlt hatte. Es war, als lebe sie zu drei Zeitpunkten auf einmal; als stünde sie als junges Mädchen am Sarg ihrer Mutter; als fände sie gerade Tommys Leiche auf ihrer Veranda; als hielte sie gerade Bens erkaltende Leiche in ihren Armen. Der Schmerz in ihr war so intensiv, daß er es ihr fast unmöglich machte, sich auf die Realität zu konzentrieren.

Miss Parker lag auf dem Bett in ihrem Appartement in New York; Jarod saß an ihrer Seite, einen teils schuldbewußten, teils besorgten Blick auf sie gerichtet. Sie hatte geweint - wie lange, wußte sie nicht -, und er hatte neben ihr gesessen. Jarod hatte sie es zu verdanken, daß sie nun hier war, und das in jedem Sinne. Er hatte sie zurück hierher gebracht, doch er hatte auch dafür gesorgt, daß sie sich nun auf diese Weise mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen hatte. Ein Teil von ihr wollte ihn hassen für den Schmerz, den seine Worte in ihr ausgelöst hatten. Die Macht seiner Worte über sie war es, die ihn immer zu einem gefährlichen Gegner für sie gemacht hatte. Diese Macht war es auch, die sie davor zurückschrecken ließ, ihn als einen Freund zu akzeptieren.

"Wir müssen reden."

Sie schreckte zusammen, als seine Worte sie aus ihren Gedanken rissen. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Konnte er wissen, daß eine Unterhaltung mit ihm das war, was sie im Moment am meisten fürchtete? Miss Parker stellte überrascht fest, daß sie nickte. Betrog ihr Körper sie jetzt etwa auch, genau wie ihre eigenen Gefühle?

In Jarods Blick lag eine Unsicherheit, die sie zu jedem anderen Zeitpunkt zum Lachen gebracht hätte. Er hatte es mit wenigen Worten geschafft, ihre sorgsam errichteten Barrieren zum Einsturz zu bringen, doch jetzt schien er nicht zu wissen, was er sagen, was er tun sollte. Seine Hilflosigkeit tat ihr leid; sie hätte ihm gerne irgendwie geholfen, aber derzeit fühlte sie sich nicht einmal in der Lage dazu, sich selbst zu helfen.

Als er keine andere Antwort als ihr Nicken von ihr erhielt, schien auch Jarod diese Tatsache klar zu werden. Er lehnte sich ein wenig in ihre Richtung; die Matratze bewegte sich unter Miss Parker, als sie unter Jarods verlagertem Gewicht etwas nachgab.

"Es tut mir sehr leid", sagte Jarod ernst. Seine Stirn war leicht gerunzelt; ein deutliches Anzeichen dafür, daß ihn etwas beschäftige, das auszusprechen er sich noch scheute.

Wieder fand Miss Parker keine Antwort auf seine Worte. Was sollte sie ihm auch sagen? Wie konnte sie ihm jemals beschreiben, was sie gerade fühlte? Es war hoffnungslos. Zwischen ihnen klaffte eine Lücke, die keiner von ihnen beiden aus eigener Kraft überbrücken konnte. Vielleicht, wenn sie es darauf ankommen ließen, würden sie es gemeinsam schaffen, aber Miss Parker wußte, daß sie dazu noch nicht bereit war. Fast, aber noch nicht ganz.

Statt einer Antwort warf sie ihm einen langen Blick zu. Seine Augen, tiefbraun und voller Wärme, waren so offen, spiegelten ganz unbefangen seine Emotionen wider. Miss Parker beneidete ihn um diese Offenheit. Zeit ihres Lebens hatte sie sich immer hinter Mauern versteckt, hatte andere nur äußerst selten sehen lassen, was sie empfand. Es mußte frustrierend für Jarod gewesen sein, ständig mit ihrer aus Vorsicht aufrecht erhaltenen Verschlossenheit konfrontiert zu werden. Es war dieser Gedanke, der Miss Parker langsam begreifen ließ, was zwischen ihnen passiert war, als sie in dieser Gasse gestanden hatten.

Ich werde fallen, und du kannst mich nicht fangen.

Miss Parker blinzelte überrascht. Es waren ihren Worte; irgendwie wußte sie, daß es so war. Aber sie hatte sie nie zu Jarod gesagt...

Ohne, daß sie es verhindern konnte, sammelten sich erneut Tränen in ihren Augen. Ein paar Wimpernschläge später rollten sie bereits über ihre Wangen, folgten den Spuren, die ihr Schmerz und ihre Trauer dort bereits hinterlassen hatten.

Jarod beugte sich zu ihr vor, sein Blick so weich, daß sie sich am liebsten für immer darin verlieren wollte. Sein Mund öffnete sich, und Miss Parker ahnte, was er sagen wollte. Sie hob ihre Hand und legte ihre Finger auf seine Lippen, gerade, als sie den ersten Buchstaben ihres Namens bildeten.

"C..."

Ihre Hand verharrte an seinen Lippen, während sie den Kopf schüttelte. Es gab einen Grund dafür, warum sie ihm verboten hatte, ihren Namen auszusprechen. Jetzt, mehr denn je, würde sie es einfach nicht ertragen, die so vertrauten und gleichzeitig verhaßten Silben von ihm zu hören.

Panik wallte in ihr auf, verdrängte alles andere. Dies war ihre verletzlichste Stunde; wenn sie es jetzt zuließ, würde sie alles vor Jarod ausbreiten, würde sich ihm hilflos ausliefern. Ihre Emotionen waren in Aufruhr, und wie immer, wenn das der Fall war, übernahm ihr Überlebensinstinkt die Kontrolle über sie.

Bevor sie sich selbst stoppen konnte, hatte sie bereits ihre andere Hand gehoben und auf Jarods Schulter gelegt. Sie richtete ihren Oberkörper auf, bis nur noch wenige Zentimeter ihr Gesicht von Jarods trennten. Seine Augen weiteten sich überrascht, als er erkannte, was sie vorhatte. Widerstreitende Emotionen spiegelten sich auf seinem Gesicht wider; Zweifel und Verlangen schienen die vorherrschenden zu sein. Miss Parker ließ Jarod keine Zeit, lange über ihr Verhalten nachzudenken. Die Hand, die an seinen Lippen gelegen hatte, wanderte zärtlich über seine Wange, an seinem Hals entlang, bis sie schließlich seinen Nacken erreichte. Langsam zog sie Jarod zu sich heran, und sie schloß ihre Augen.

Als sich ihre Lippen zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen berührten, spürte Miss Parker sofort, daß es sich falsch anfühlte. Genau so, wie damals bei ihrer schicksalhaften Begegnung im Centre, als er sie erst angegriffen und dann geküßt hatte. Genau wie damals fühlte es sich aber nicht nur falsch, sondern auch äußerst gut an. So, wie sie es noch Sekunden zuvor in Jarods Gesicht gesehen hatte, mischten sich nun auch in ihr Zweifel und Verlangen.

Jarod lehnte sich näher zu ihr, gab seine passive Haltung auf. Seine Hände, die noch bis eben auf seinen Oberschenkeln gelegen hatten, umschlossen nun ihr Gesicht, veränderten sanft den Winkel zwischen ihnen. Der Pretender vertiefte den Kuß, und Miss Parker ließ ihn gewähren. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurden Jarods Zärtlichkeiten weniger zögerlich. Er ließ sich von seinen Emotionen leiten, schien ganz ausgehungert nach ihrer Nähe zu sein.

Wäre sie nicht so aufgewühlt gewesen, hätte Miss Parker vielleicht an diesem Punkt zu begreifen begonnen, daß sie noch nicht bereit war für diese Art von Nähe zu Jarod. Es stimmte, auch sie sehnte sich nach seiner Nähe, aber anders als bei den meisten Männern, mit denen sie bisher zusammengewesen war, wünschte sie sich, mit Jarod zuerst eine andere Art der Nähe zu erleben.

Ihr Herz schlug immer schneller, machte es immer schwieriger für sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie konnte sich etwas so gut und gleichzeitig so falsch anfühlen? Schwach wurde ihr bewußt, daß sie sich das schon einmal gefragt hatte, aber bevor sie dem Gedanken folgen konnte, übernahm ihr Instinkt wieder die Kontrolle. Sie ließ sich langsam nach hinten sinken, zog Jarod mit sich. Er lag nun halb auf ihr; sie spürte das wilde Schlagen seines Herzens über ihrem eigenen. Letzte Zweifel regten sich in ihr, doch sie wischte sie fort, gab sich ganz der Erregung hin, die seine Nähe in ihr auslöste.

Es war Jarod, der schließlich ihren Kuß unterbrach. Miss Parker vermutete, daß er, ebenso wie sie, das dringende Bedürfnis verspürte, tief Atem zu holen, doch nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, daß das nicht der Grund für die Unterbrechung war. Widerwillig, fast ängstlich, öffnete sie ihre Augen wieder. Jarods Gesicht war noch immer nur Zentimeter von ihrem entfernt. Seine Haut glühte, und seine Augen waren dunkler, als sie sie jemals gesehen hatte. Er atmete schwer und schien Mühe zu haben, sich auf das zu konzentrieren, was er ihr offenbar sagen wollte.

Langsam zog er seine Hände von ihr zurück, einen Ausdruck des Bedauerns in den Augen.

"Ich kann das nicht tun", sagte er entschuldigend, sah ihr dabei direkt in die Augen. "Es... es fühlt sich falsch an. Versteh mich nicht falsch, es ist nicht, daß ich das nicht tun möchte, es ist nur... wir tun das richtige aus den falschen Gründen."

Es lag etwas Bittendes in seinem Blick. Miss Parker begriff, was sein Blick zu bedeuten hatte. Nicht nur er hatte Macht über sie; auch sie hatte einen großen Einfluß auf sein Verhalten.

Sie wurde sich der Tatsache bewußt, daß sie ihn noch immer umarmte; eine ihrer Hände lag in seinem Nacken, die andere ruhte in seinem dichten, kurzen Haar. Hastig zog auch sie ihre Hände wieder an sich. Eine seltsame Mischung aus gekränktem Stolz und Erleichterung erfüllte sie. Jarod hatte sie zurückgewiesen! Doch er hatte es nicht getan, weil er sie nicht wollte - er hatte es getan, weil er sie nicht verletzen wollte.

"Es tut mir leid", wiederholte er noch einmal, griff dabei nach einer ihrer Hände und nahm sie in seine. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. "Ich weiß, was du vorhattest - und ich kann dich gut verstehen. Sex bedeutet Nähe. Nähe ist etwas, das wir beide immer gesucht haben. Wir können diese Nähe miteinander finden, aber zuerst müssen wir... Freunde werden."

Er sah aus, als hätten ihn diese Worte große Überwindung gekostet. Miss Parkers Wangen brannten. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade eine schallende Ohrfeige erhalten. Was meinte er mit seiner letzten, kryptischen Bemerkung? Hatte er ihr damit sagen wollen, daß er in ihr nur eine Freundin sah, oder vielleicht nicht einmal das? Wieso hatte er dann ihren Kuß erwidert? Sie war zu aufgewühlt, um den Sinn hinter seinem Verhalten und seinen Worten zu erkennen.

Ihr war durchaus bewußt, daß Jarod nur ausgesprochen hatte, was auch ihr durch den Kopf gegangen war, aber diese Worte von ihm zu hören... es war einfach zuviel für sie. Sie starrte ihn an, während sie darüber nachdachte, was sie beinahe getan hätte. Jarod hatte recht; in der Vergangenheit war Sex für sie immer ein willkommenes Mittel gewesen, um den Anschein von Nähe zu erwecken. Bei Tommy war das anders gewesen - aber Tommy war nun tot. Wer garantierte ihr, daß es mit Jarod anders sein würde?

Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Gerade noch war sie bereit gewesen, mit Jarod zu schlafen und jetzt wies sie den bloßen Gedanken an Nähe mit ihm weit von sich. Ihr wurde klar, daß sie niemals einen klaren Gedanken würde fassen können, solange Jarod in ihrer Nähe war. Vielleicht war Abstand genau das, was sie jetzt brauchte. Und Jarod schien doch ebenso zu empfinden, nicht wahr? Warum sonst hatte er sie darauf hingewiesen, daß sie zuerst Freunde werden mußten?

Miss Parker richtete sich auf; sie mußte hier raus, sie brauchte Freiraum zum Denken. Sie wich Jarods fragendem, irgendwie gequält wirkenden Blick aus, ließ ihren Blick über seinen Körper gleiten als wolle sie ihn sich für alle Zeiten einprägen. Seine Haut glühte noch immer, und die dunkle Färbung seiner Augen ließ ihn fast gefährlich wirken. Mehrere kurze Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn; überhaupt wirkte seine Frisur noch zerzauster als üblich. Auch sein Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, verriet, genauso offensichtlich wie der Ausdruck auf seinem Gesicht, wie sehr ihn diese Bewegung aufgewühlt und verwirrt hatte. Als sie wieder zu seinem Gesicht aufschaute, stellte sie fest, daß er den Blick gesenkt hatte, daß er nun wie gebannt auf ihre Hand sah, die noch immer in seiner ruhte. Der Pretender wirkte wie versteinert, schien genauso wenig wie sie selbst zu wissen, war er nun sagen oder tun sollte.

Ich werde noch ein paar Tage länger in der Stadt sein - falls du es dir anders überlegst.

Tommy Tanakas Worte waren ihr noch immer im Gedächtnis; im Augenblick klangen sie weit verlockender als die Alternative.

Sie überlegte nicht lange. Handeln, nicht grübeln, hieß ihre Devise. Bevor Jarod auch nur erahnen konnte, was sie vorhatte, hatte sie ihm bereits ihre Hand entzogen, war vom Bett aufgestanden und auf dem Weg zur Kommode, auf der ihre Tasche stand. Ein paar ihrer Sachen lagen zwar noch im Bad und im Wohnzimmer, aber alles Wichtige befand sich noch immer in ihrem einzigen Gepäckstück. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff sie nach ihrer Tasche und war schon auf halb auf dem Weg nach draußen, als Jarod sie eingeholt hatte. Erneut schloß sich seine Hand um ihren Arm, aber diesmal ließ er sie sofort los, als sie ihm einen auffordernden Blick zuwarf.

"Wo gehst du hin?" fragte er das Offensichtliche. Miss Parker schüttelte den Kopf, zugleich erleichtert und überrascht über ihre Selbstkontrolle.

"Ich... ich muß hier raus; ich kann einfach nicht mehr klar denken. Bitte, versteh mich", bat sie ihn.

"Du erwartest von mir, daß ich dich einfach so gehen lasse? Nach dem, was hier gerade passiert ist?"

Jarod sah sie ungläubig an; seine Miene wirkte wie versteinert.

"Passiert wäre", gab Miss Parker sanft zurück. "Du hast keine Wahl, Jarod. Es gibt nichts, was mich jetzt zurückhalten könnte."

"Nicht einmal ich?" erkundigte sich Jarod, sein Tonfall flach, gepreßt.

"Nicht einmal du."

Sie spürte, wie das Gefühl der Bedrängnis und ihre Panik langsam nachließen. Jetzt zu gehen, fühlte sich richtig an; es allein zu tun, fühlte sich richtig an.

"Du läufst also vor mir weg", stellte Jarod ruhig fest, doch seine Augen verrieten seinen inneren Aufruhr.

"Nein!" antwortete sie, verärgert über seinen offensichtlichen Versuch, sie zu provozieren. "Ich laufe nicht weg. Es ist nur, daß ich endlich mal meine Ruhe brauche. Um über alles nachzudenken. Um Entscheidungen zu treffen. Ohne irgendwelche Einmischungen, egal ob vom Centre oder von dir." Sie machte eine Pause. Es war mehr als deutlich zu sehen, daß ihre Worte ihn nicht erreichten. "Bitte, Jarod. Mach das hier doch nicht noch schwerer für mich."

Der Pretender stand nur da und sah sie an. In seinem Gesicht arbeitete es, doch er sagte nichts. Miss Parker wartete, so lange sie konnte, aber nach einer Weile hielt sie einfach nicht mehr aus. Sie drehte sich um und ging zur Tür.

"Wirst du wiederkommen?"

Seine Worte hingen lange unbeantwortet in der Luft. Die Antwort auf seine Frage war nicht einfach, und sie wollte ihn auch nicht belügen.

"Ich weiß es nicht", flüsterte sie schließlich, nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte. Zu ihm umdrehen konnte sie sich nicht; ihr fehlte einfach der Mut dazu. Ihre Hand schloß sich um die Türklinke, drückte sie entschlossen nach unten. Sie spürte mehr als daß sie hörte, wie Jarod ein paar Schritte auf sie zu machte.

"Nicht", warnte sie ihn, dann öffnete sie die Tür weit genug, um in den Flur schlüpfen zu können. Mit langen Schritten ging sie zum Aufzug, drückte auf den Rufknopf und wartete mit klopfendem Herzen darauf, daß sich die Türen endlich öffneten. Gespannt lauschte sie auf Jarod; sie wagte es noch immer nicht, sich umzudrehen. Endlich glitt die Fahrstuhltür vor ihr zur Seite. Erleichtert trat sie in die Kabine und erlaubte sich ein Seufzen, als sich die Tür ohne Zwischenfälle wieder hinter ihr schloß. Allein. In Sicherheit. Allein.

Es dauerte nur zwei Minuten, bis sie auf der Straße vor dem Appartementhaus stand. Ihre Augen glitten suchend über die Straße, blieben schließlich voller Erleichterung an der schwarzen Limousine hängen, die keine zweihundert Meter von ihr entfernt parkte. Miss Parker umfaßte den Griff ihrer Tasche fester und ging los. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen, wurde erst wieder langsamer, als sie den Wagen erreichte. Die hintere Tür ging wie von Zauberhand auf, erlaubte ihr einzusteigen, ohne dabei viel Zeit zu verlieren.

Als Miss Parker in den Wagen stieg, hörte sie Schritte hinter sich. Sie schloß die Tür mit einer heftigen Bewegung, so daß sie nur die erste Hälfte ihres Namens hörte, bevor der Wagen anfuhr. Tommy Tanaka saß ihr gegenüber, lächelte sie beruhigend an. Doch sie sah nicht wirklich sein Gesicht vor sich, und als die Limousine beschleunigte, fragte sich Miss Parker, ob sie nicht gerade ihre Zukunft hinter sich zurückgelassen hatte.









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