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Disclaimer: The characters Miss Parker, Sydney, Jarod, Broots etc. and the fictional Centre, are all property of MTM and NBC Productions and used without permission. I'm not making any money out of this and no infringement is intended.




Nicatlon-Serie
Teil 3
von Nicole




15/05/99
JFK Hospital
Los Angeles, California
04:20Uhr

Der kreischende Alarmton des Pulsoximeters ließ Jarod aus seinem Dämmerschlaf hochschrecken. Mit dem geprüften Blick eines Arztes kontrollierte er rasch alle Werte, und sank dann erleichtert auf seinen Stuhl zurück. Es war nur falscher Alarm. Doch leider bedeutete das auch, dass sich am Zustand seines Freundes noch immer nichts geändert hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte Jarod, dass er schon seit acht Stunden an Sydneys Krankenbett saß. Die Ärzte hatten ihn immer wieder vertröstet und gesagt, Sydney wäre aufgrund des hohen Blutverlustes bewusstlos. Doch Jarod wusste es besser. Die Werte, wie Puls oder Atemfrequenz, waren eindeutig. Sydney lag in abgrundtiefem Koma. Traurig blickte der Pretender seinen Mentor an. Er wirkte so hilflos, so zerbrechlich, wie er da in seinem Multifunktionsbett lag. Das monotone Brummen des Beatmungsgerätes mutete unwirklich an. Beinahe schafften es tausend Tränen, ihn zu überwältigen, doch er kämpfte sie zurück. Lange starrte er Sydney an, bis plötzlich ein Gedanke in seinem Kopf Gestalt annahm. Jarod wollte sich dagegen wehren, doch die unerwartete Simulation entglitt seiner Kontrolle. Wäre es nicht besser für Sydney, wenn jemand sein Leid beenden würde? Sollte dieser Jemand nicht er sein, der wohl älteste und engste Freund dieses alten Mannes? Mit zitternden Händen, so als würde eine unbekannte Macht seine Muskeln steuern, streichelte Jarod über die metallisch glänzende Oberfläche des Beatmungsgerätes. "Dieses Gerät schafft Leben", dachte er bei sich, "doch es betrügt auch den Tod." Es wäre so einfach gewesen, den Stecker aus der Dose zu ziehen. Alle Qual hätte ein Ende gehabt. Vorsichtig betaste er das Stromkabel. Seine Finger ballten sich zu Fäusten und nun fehlte nur noch ein kleiner Ruck. "Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Was tust Du da?", sagte ich, als ich Sydneys Zimmer betrat. Jarod stand vorn übergebeugt an einem Beatmungsgerät und fummelte an dessen Kabel herum. Als er mich bemerkte, starrte er mich an, als sähe ich aus wie ein Geist. Das etwas Leeres und Abwesendes in seinen Augen lag, bemerkte ich nicht, denn schon hatte ich meine Aufmerksamkeit auf den Patienten konzentriert. Sydney bot einen grauenvollen Anblick. Unendlich viele Schläuche ragten aus seinem Körper wie Spinnenbeine. Auf dem Monitor erkannte ich Werte, die mich beunruhigten. Traurig sah ich meinen alten Freund an. Er war immer so stark, so klug, so selbstsicher gewesen. Jetzt lag er da, und war darauf angewiesen, dass ein Gerät seinen Brustkorb hob und senkte. Das alles war so unwirklich. Jarods entgeisterte Stimme riss mich aus den Gedanken: "Was zum Teufel willst Du denn hier, Nicatlon?" Ich konnte nicht glauben, dass er mir diese Frage stellte. Jarod wusste doch ganz genau, wieviel Sydney mir bedeutete. Deshalb gab ich schnippisch zur Antwort: "Ich besuche einen alten Freund. Und damit bist garantiert nicht Du gemeint." Manchmal war dieser junge Mann für mich, wie ein Buch mit sieben Siegeln. Jarod blickte beschwichtigend nach unten, und schon wurde mein Herz weich wie Butter. Um das Gespräch nicht ausarten zu lassen, fragte ich ihn: "Was genau ist eigentlich gestern passiert? Ich habe von Parker nur erfahren, dass man ihn im Eifer des Gefechts angeschossen hat." Jarod lachte kurz höhnisch auf. Dieser kehlige Laut klang, wie aus den Tiefen der Hölle herbeigeholt. "Ha! Von wegen im Eifer des Gefechts! Willie hatte ihn mit dem Laserpoint taxiert.", sagte er bitter. Dann begann er so genau zu berichten, dass in meiner Fantasie Bilder der Szenerie wie ein Film aufflackerten.

14/05/99
Jarods Unterschlupf
Santa Monica, California
15:35Uhr

Voller Enthusiasmus sprang Jarod aus der Dusche und schlüpfte rasch in etwas Bequemes. Heute war ein wunderbarer Tag, das wusste er. Gerade hatte er seinen letzten Fall erfolgreich abgeschlossen. Es handelte sich um einen Chef, der die Geheimnisse aus der Vergangenheit seiner weiblichen Angestellten dazu benutzte, sie zu miesen Sexspielchen zu zwingen. Dem hatte er aber eine Lektion erteilt. Jarod musste schmunzeln, als ihm in den Sinn kam, wie erbärmlich der Mann gewinselt hatte. Immer wieder hatte er keuchend hervorgebracht: "Nein, bitte nicht! Vergewaltigen Sie mich nicht! Ich tue alles, was Sie wollen!" Doch Jarod war darauf nicht eingegangen. "Tja", dachte er zufrieden, "Was Du nicht willst, dass man Dir tut, das füg auch keinem andern zu!" Danach fühlte der Pretender sich schmutzig und genoss die ausgiebige Dusche. Jetzt blickte er aus dem Fenster und betrachtete die im Schein der Frühlingssonne erstrahlenden Blumen. Oh wie er seine Freiheit liebte! Einfach den azurblauen Himmel ansehen zu können, wenn einem danach zumute war. Für Jarod würde das immer ein großer Luxus bleiben. In solchen Momenten fragte er sich, wie er es all die Jahre im Centre ausgehalten hatte. Es gab noch etwas Gutes an diesem Tag. Er würde endlich seinen alten Freund und Lehrer Sydney wiedersehen. Sie telefonierten zwar fast täglich miteinander, doch das war nicht dasselbe. Fast hatte Jarod schon Sydneys Geruch oder seine Augenfarbe vergessen. Es wurde wirklich Zeit, dass sie sich mal wieder in die Arme schlossen. Nur noch eine halbe Stunde, dann war es soweit. Plötzlich wurde der Himmel um eine Nuance blauer und die Sonne strahlte heller als sonst. Die Türklingel riss Jarod aus seinen Tagträumen. Mit einer lässigen Bewegung zog er die Tür auf und begrüßte seinen Mentor mit einer herzlichen Umarmung. Sydney schien davon gar nicht begeistert zu sein, denn er erwiderte sie nicht, sondern stand nur stocksteif da. Verwirrt trat Jarod zur Seite und bedeutete Sydney Platz zu nehmen. Unverwandt platzte es aus dem Psychiater heraus: "Jarod, ich bin nicht zum Vergnügen hier. Jemand im Centre will mir den Garaus machen. Ich habe Angst. Bitte, Jarod, hilf mir!" Verdutzt starrte Jarod seinen alten Freund an. Plötzlich verwandelte sich sein Frohsinn in Zorn. Er, der Pretender, hatte Sydney immer wieder nahegelegt, das Centre zu verlassen und mit ihm zu kommen. Doch der hatte sich beharrlich geweigert. Jetzt, wo er in Schwierigkeiten steckte, war ihm Jarod also gut genug. Beinahe hätte er Sydney die Tür gewiesen, doch dann setzte er sich nur schweigend und fragte ihn: "Was ist denn eigentlich passiert?" Beschämt blickte Sydney zu Boden, als er erwiderte: "Genau genommen, noch gar nichts. Ich habe eben nur ein ungutes Gefühl. Aber mein Gefühl hat mich noch nie getäuscht." Jarod schlug vor Sprachlosigkeit die Hände vors Gesicht. Bitter erwiderte er: "Ich dachte, Du wärst hier, um deinen Sohn in Spe zu besuchen. Stattdessen platzt Du hier rein und versetzt mich in Angst und Schrecken für nichts und wieder nichts." Zornig funkelte Sydney ihn an. "Na schön, dann gehe ich eben wieder. Dir ist doch sowieso egal, was mit mir geschieht!", versetzte er. Seine Stimme bebte fast vor Erregung. Dennoch hätte er den Gedanken nicht aussprechen dürfen. Jarods Stimme war zu einem empörten Keifern mutiert, als er schrie: "Ich war immer um Dein Wohl besorgt. Doch das beruht anscheinend nicht auf Gegenseitigkeit, sonst hättest Du mich wohl kaum dreißig Jahre lang gefangengehalten!" Damit hatte er Sydneys wunden Punkt getroffen. Obwohl der alte Mann, ebenso wenig wie Jarod, wusste, warum sie sich eigentlich stritten, wollte er nicht der erste sein, der nachgibt. Ihm stieg die Röte ins Gesicht, wie einem trotzigen Kind. Er wollte gerade zum Gegenschlag ausholen, als beide erschrocken inne hielten. Das Quietschen von Reifen vor dem Haus hatte sie abrupt zum Schweigen gebracht. Eine schwarze Limousine, Männer in schwarzen Anzügen und eine hübsche Blondine; die beiden wussten nur zu gut, was das zu bedeuten hatte: Das Centre war im Anmarsch! Augenblicklich war ihr Streit vergessen. Jetzt galt es, sich in Sicherheit zu bringen. Jarod prüfte rasch die möglichen Fluchtwege. Die Eingangstür und die Feuertreppe, einen anderen Ausweg gab es nicht. Unter der Feuertreppe parkte allerdings die Limousine. Sydney warf Jarod einen wissenden Blick zu und stürmte zur Haustür. In dem Moment stieß Sam die Tür auf, die Sydney genau im Gesicht erwischte. Benommen taumelte der Psychiater zurück. Blut schoss aus seiner Nase wie aus einem Wasserhahn. Jarod registrierte verwirrt, dass der Sweeper stocksteif dastand und beinahe reumütig dreinblickte. "In ihm finde ich im Notfall vielleicht einen Verbündeten.", dachte Jarod. Nur Sekunden später stürmten weitere Sweeper die Wohnung. Unter ihnen war - wie könnt es anders sein - auch Bridgitte. Der Pretender verabscheute dieses lüsterne Weibsbild mit dem Lolli im Mund. Als Ms. Parker noch auf ihn angesetzt war, hatte die Flucht beinahe Spaß gemacht. Parker war so herrlich naiv; es hatte ihm keine Mühe bereitet, ihr immer zwei Schritte voraus zu sein. Doch bei Bridgitte war das was anderes. Sie war scharfsinnig und hätte ihn fast schon beim ersten Versuch erwischt. Die eisige Stimme der Blondine holte Jarod zurück in die Gegenwart: "Bringt Jarod in den Wagen und bringt Sydney um!" Jarod traute seinen Ohren nicht. Dass sie ihn zurückbringen wollte, leuchtete ihm ein, aber warum wollte sie Sydney töten? Erschrocken blickte er seinen Mentor an, der nun ebenfalls entsetzt aufhorchte. Warum hatten sie sich gestritten? Jarod wusste es nicht mehr. Oh Gott, würde er die Chance bekommen, sich mit seinem väterlichen Freund auszusöhnen? Jarod hatte keine Zeit zum Nachdenken, denn schon kam Willie mit festen Schritten auf ihn zu. Der Pretender wich zürück, doch nicht schnell genug. Schon hatte der durchtrainierte Sweeper Jarod am Arm gepackt. Sydney verfolgte die Szenerie, unfähig einzugreifen. Es war sein Freund - nein, es war sein Sohn! -, dem da gerade Leid zugefügt wurde, und er konnte nichts dagegen tun. Plötzlich spürte der alte Mann einen Lichtpunkt auf seiner Brust. Als er an sich in hinunterblickte, identifizierte Sydney diesen als den Ziellaser einer Maschinenpistole. Sydney schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Auch Jarod hatte die Absicht des fremden Sweepers bemerkt, war aber zu sehr in Willies Gewalt, um etwas unternehmen zu können. Mit flehenden Augen blickte er Sam an. Dieser gutmütige Mann war jetzt Sydneys einzige Hoffnung. Dann geschah alles gleichzeitig. Ein ohrenbetäubender Knall zerriß die Luft im Raum in tausend Fetzen. Sam hastete zu dem, der geschossen hatte und riss ihm die Hand mitsamt der Waffe in die Luft. Leider einen Tick zu spät. Die Kugel hatte sich bereits gelöst und durchpflügte den Raum wie ein Torpedo, als sie zielstrebig auf Sydney zusteuerte. Der war wie gelähmt vor Schreck. Er hätte sich auf den Boden werfen können, doch in dem Moment starrte er nur mit weit aufgerissenen Augen auf das näherkommende Geschoss. Dann durchfuhr ein tosender Schmerz seine Brust und breitete sich rasend schnell im ganzen Körper aus. Sydney dachte verzweifelt: "Hoffentlich kommt Jarod ohne mich zurecht." Dann wurde er von einer allumspannenden Dunkelheit gierig aufgesogen. Dem Pretender entfuhr ein entsetzter Aufschrei, als sein Freund langsam zu Boden sank und dort regungslos liegen blieb. Er mobilisierte seine letzten Kräfte und schlug so heftig auf Willie ein, dass dieser ihn überrascht losließ. Selbst dieser abgebrühte Sweeper hätte nicht gedacht, dass die Bindung zweier Menschen so stark sein kann. Jarod flitzte zu Sydney und kniete sich neben ihn. Er war zu aufgewühlt, zu wütend, zu traurig, um den Puls oder die Atmung kontrollieren zu können, geschweige denn, Erste Hilfe zu leisten. Und so nahm er einfach nur Sydneys Hand und drückte sie in seine. Das Blut, das aus der Nase des alten Mannes gequollen war, war bereits getrocknet und wirkte grotesk im Vergleich zu der riesigen Blutlache, in der Sydney jetzt lag. Tränen schossen über Jarods Gesicht. Er legte seinen Kopf auf die Brust seines Mentors und flüsterte mit einer Stimme, gebrochen vor Schmerz: "Zuflucht! Bitte, beendet die Simulation! Bitte, Sydney! Zuflucht!" Niemand im Raum sagte etwas oder rührte sich. Die heißen Emotionen Jarods hatten selbst Bridgitte in andächtiges Schweigen versetzt. Doch das hielt nicht lange an. "Worauf wartet ihr? Bringt endlich Jarod in die Wagen und beseitigt die Leiche!", rief sie in befehlendem Ton. Jetzt flammte Zorn in Jarods Augen auf. Das war keine Leiche, das war sein bester Freund! Wie sich ein Tiger von seine Jungen stellt, stellte er sich vor Sydney und funkelte die Angreifer böse an. In der Ferne ertönte eine Polizeisirene. Die Blondine wollte gerade ihre Waffe ziehen, als Sam einwarf: "Mam, die Polizei wird gleich hier sein. Wie wollen Sie denen das erklären? Wir sollten besser verschwinden!" Bridgitte war offenbar verärgert über diese Anmaßung, gab dann aber den andern das Zeichen zu verschwinden. Nur Jarod blieb zurück. Bevor Sam die Tür von außen schloss, flüsterte er leise, sodass es nur Jarod hören konnte: "Tut mir leid, mein Freund. Mehr konnte ich nicht tun." "Wenn der wüsste, wie viel er getan hat.", dachte Jarod und lächelte dankbar. Dann wandte er sich wieder Sydney zu. Er sah so friedlich aus. Wäre das Blut nicht gewesen, hätte man meinen können, er schläft. Niedergeschlagen lauschte Jarod auf das anschwellende Sirenengeheul der Ambulanz. Doch, dass Sydneys letzter klar gefasster Gedanke der Sorge um sein Wohlergehen galt, das...ja, das wusste der Pretender nicht.

15/05/99
JFK Hospital
Los Angeles, California
07:30Uhr

Es dauerte über eine Stunde, bevor sich Jarods von Weinkrämpfen geschüttelter Körper wieder beruhigte. Er lag an mich gekuschelt wie ein Kind. Immer wieder fuhr ich ihm sanft durchs Haar und flüsterte beruhigende Worte. Sein Bericht war so heißblütig gewesen, dass es auch mir die Tränen in die Augen trieb. Immerhin kannte ich Sydney schon länger als ihn. Schließlich rückte der Pretender von mir ab und sah mir tief in die Augen. Sein Gesicht war so unergründlich wie der Ozean. "Vielleicht sollten wir das alles beenden. Es hat doch sowieso keinen Sinn mehr.", sagte er resigniert. Obwohl ich nicht recht verstand, was Jarod meinte, überkam mich doch ein ungutes Gefühl. Als er meinen skeptischen Blick sah, verdrehte er vor Ungeduld die Augen. Flehend bat er mich: "Bitte Nicatlon, lass uns die lebenserhaltenden Geräte abschalten! Sydney hat dieses Siechtum nicht verdient." Entsetzt starrte ich den Pretender an. Es war, als säße mir ein völlig fremder Mensch gegenüber. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Jarod mit dem Gedanken spielte, seinen besten Freund umzubringen. Keuchend brachte ich hervor: "Das kann nicht Dein Ernst sein! Du bist ja verrückt!" "Nein, verdammt! Es ist verrückt, ihn so leiden zu lassen. Ich liebe Sydney wie einen Vater und kann das nicht verantworten. Sieh ihn Dir doch an!", schrie Jarod. Er war aufgesprungen und wies zur Untermauerung seiner Argumente auf das Krankenbett. Der kraftlose Körper des alten Mannes sah tatsächlich schrecklich aus. Dennoch würde ich nie die Hoffnung aufgeben, und erwartete von Jarod das Gleiche. Unversehens packte Jarod mich am Kragen meiner Bluse und riss mich in die Höhe. Er schüttelte mich hin und her und brüllte dabei irgend etwas von Erlösung und Gerechtigkeit. Als er endlich von mir abließ, trat ich einige Schritte zurück. Ich hatte ihn noch nie so außer sich vor Wut erlebt. Er hatte mir keine Schmerzen zugefügt, nicht wirklich, aber er hatte mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Ich stand da und starrte ihn an. War er nun zu dem Monster geworden, das das Centre immer haben wollte? Mich interessierte es kaum. Selbst wenn er sich in eine reißende Bestie verwandelt hätte, hätte ich keine Angst vor ihm gehabt. Ich ging auf ihn zu und berührte sanft seine glühende Wange. Er senkte den Blick, wahrscheinlich ebenso beschämt wie verwirrt. Seine Stimme zitterte und brach fast unter dem Druck der Tränen, als er flüsterte: "Ich kann nicht an seinem Bett sitzen und zusehen, wie er leidet. Diese Hilflosigkeit macht mich wahnsinnig!" Jetzt war er wieder der Jarod, den ich kannte.

15/05/99
The Centre Abhörbüro des Towers
Blue Cove, Delaware
08:10Uhr

Zufrieden über diese aufschlussreichen Informationen sank Raynes in seinen Lehnstuhl und blickte Lyle erwartungsvoll an. Es war seine Idee gewesen, in Sydneys Krankenzimmer eine Wanze zu installieren, und er erwartete ein gebührendes Lob. Lyle aber starrte den Glatzkopf an und bemerkte: "Nun gut, jetzt wissen wir also, dass die kleine Laborratte mit dem Gedanken spielt, dem Alten den Stecker zu ziehen. Aber was haben wir davon?" Raynes konnte soviel Unverständnis nur schwer ertragen und verdrehte zum Zeichen der Ungeduld die Augen. Wusste dieser junge Schnösel wirklich nicht, wie gefährlich Sydney werden konnte? Raynes hatte das schon schmerzlich erfahren müssen. Zwar hatte er keine Beweise, dass Sydney auf die Sauerstoffflasche geschossen hatte, doch es war innerhalb des Centres ein offenes Geheimnis. Dennoch war er vorsichtig mit Anschuldigungen und sagte zu Lyle gewandt: "Sydney agiert wie ein Tiger und scheint doch eine zahme Katze zu sein. Eben diese Fähigkeit und sein großes Wissen über das Centre macht ihn gefährlich. Wenn wir es schaffen, dass Jarod ihn eliminiert, werden wir ihn los und müssen uns nicht mal die Finger schmutzig machen." Jetzt begann auch Lyle zu lächeln. Seine schneeweißen Zähne blitzten für den Bruchteil einer Sekunde auf. "Und das dürfte ja kein Problem sein, mit dem kleinen Ass in unserem Ärmel.", erwiderte er schelmisch lächelnd. Auch Raynes grinste und blickte sich um, um ihr "Ass im Ärmel" genauer zu betrachten. Emily, Jarods Schwester. Sie hockte handlich verschnürt in der im Zwielicht liegenden Ecke des Zimmers. Ihr Blick huschte furchtsam zwischen den beiden Männern hin und her. Lyle stand langsam und ging in die Richtung der verängstigten jungen Frau. Während er seine Hose öffnete, flüsterte er beinahe einschmeichelnd: "Keine Angst, Kleines. Wenn Du stillhältst, geht es ganz schnell." Raynes verabscheute Lyles Vorgehen, doch um des lieben Friedens Willen sagte er nichts. Emily starrte die näherkommende Gestalt mit weiten Augen an, und harrte der Dinge, die da kamen.

17/05/99
JFK Hospital
Los Angeles, California
14:25Uhr

"Ich fürchte, ich kann mich hier bald einquartieren.", dachte Jarod zynisch, als er die Linie des EKGs betrachtete. Keine Veränderung, viel zu lange schon. Er griff nach seinem Kaffeebecher und schlürfte die abgestandene Brühe. Wieder kam ihm in den Sinn, was er vor zwei Tagen hatte tun wollen. Gott sei Dank, hatte Nicatlon ihn aufgehalten. Sie hatte recht. Wollte er tatsächlich aufgeben? Nein, das würde nie geschehen. Doch allein der Gedanke daran erschreckte Jarod. Er kam sich vor, als hätte er Sydneys Freundschaft verraten. Während er so im Gedanken versunken dasaß, wurde plötzlich die Tür geöffnet. Der Pretender fuhr herum und starrte den Besucher mit aufgerissenen Augen an. Lyle! Was zum Teufel wollte er hier? Wie hatte er Jarods Versteck ausfindig gemacht? Und warum hatte er keine Sweeper bei sich? Letzteres überraschte den Pretender am meisten. Jarod war kräftig gebaut und durchaus wehrhaft gegenüber einer einzelnen Person. Lyle sah die Verwirrtheit in Jarods Augen und lächelte zufrieden. Er trat langsam an Sydneys Bett und machte einen recht traurigen Eindruck. Dieser war jedoch so aufgesetzt, dass die Falschheit in seinen Zügen Jarod förmlich anlachte. Schließlich konnte es Jarod nicht länger ertragen und drängte sich schützend zwischen Lyle und das Krankenbett. Mit heuchelndem Mitgefühl begann Lyle zu sprechen: "Ach ja, es ist schon ein Jammer! Er sieht so hilflos aus. Wissen Sie, er war immer der von mir am meisten geschätzte Kollege." Jarod konnte kaum noch an sich halten. Nicht nur, dass dieser Psychopath in der Vergangenheitsform über seinen besten Freund sprach; nein, er log auch noch wie gedruckt. Er brachte nur ein Zischen zustande, als er sagte: "Was wollen Sie hier, Lyle?" "Oh, ich will, dass Sie ihren begonnenen Gedankengang zu Ende führen. Beenden Sie sein Leiden! Es hat doch sonst alles keinen Sinn mehr.", antwortete dieser mit einem schelmischen Grinsen. Jarod war wie vom Donner gerührt. Woher wusste Lyle davon? Konnte er Gedanken lesen? Unwahrscheinlich. Vielleicht war das Zimmer verwanzt. Es rasten immer noch tausend Gedanken durch Jarods Kopf, als er erwiderte: "Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihren Befehl ausführe? Ich bin Sydney gegenüber absolut loyal." Das Grinsen auf Lyles Gesicht wurde breiter, höhnischer. Er griff in seine Jackentasche und zog ein Foto hervor. Jarod nahm es vorsichtig entgegen und betrachtete es. Das Bild zeigte eine junge Frau, die gefesselt und geknebelt in einer Ecke kauerte. Ihre Augen waren schreckensstarr und anormal leer. Jarod erschauderte, als er die Frau als seine Schwester identifizierte. Er blickte Lyle beinahe furchtsam an. Dieser sprach: "Nun, wie Sie sehen können, geht es ihr noch relativ gut. Wenn Sie wollen, dass das so bleibt, dann... wie soll ich sagen... seien Sie gnädig und beenden Sie Sydneys Leid." Jarod zitterte vor Aufregung. Er machte sich keine Illusion darüber, was geschehen würde, wenn Sydney erst mal beseitigt war. Lyle und Raynes hätten freie Bahn. Emily würde entweder getötet oder eingesperrt werden; was übrigens auch für ihn selbst galt. Und dennoch... Hatte er denn eine andere Wahl? Schließlich kam Jarod zu dem Schluss, dass es vorerst das Beste war, Lyle im Glauben zu lassen, er hätte sein Ziel erreicht, bis ihn etwas Besseres einfiel. Zögernd begann er zu sprechen: "Ich habe Prioritäten gesetzt. Meine Familie ist mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Na schön, Lyle, ich werde es tun. Aber ich entscheide wann und wie." "Sie haben achtundvierzig Stunden Zeit. Das dürfte zum Abschiednehmen reichen. Sobald Sydney tot ist, ist Emily frei.", erwiderte Lyle. Dann wandte er sich zur Tür und trat hinaus. Wie betäubt stand Jarod da und starrte die halb- offene Tür an. Man verlangte von ihm, zu wählen. Zu wählen zwischen seinem liebsten Freund und seiner einzigen Schwester. Sein Blick wanderte zurück zum Krankenbett. Um einen klaren Gedanken fassen zu können, zwang er sich innerlich zur Ruhe. Vielleicht musste man sich manchmal im Leben entscheiden, auch wenn es noch so schwer fiel. Mit einer flüchtigen Handbewegung streifte Jarod Sydneys Schulter, bevor er tränenüberströmt aus dem Zimmer rannte.


17/05/99
Jarods Unterschlupf
Santa Monica, California
21:30Uhr

Als ich die Tür zu Jarods Apartment öffnete, sah ich ihn apathisch wippend auf dem Boden kauernd. Mein erster Gedanke war: "Sydney ist tot." Doch das konnte nicht sein. Jarod sah nicht traurig oder unter Schock stehend aus. Er schien über etwas angestrengt nachzudenken. Ich kniete mich neben ihn und berührte ihn an der Schulter. Wie aus tiefer Trance wachte er auf, blinzelte unsicher und sah mich dann überrascht an. Er sah aus wie ein Kind und ich musste lächeln. "Wo warst Du gerade?", fragte ich lachend. Doch Jarods ernster Blick ließ mich rasch verstummen. "Ich habe eine Simulation gemacht. Weißt Du, im Krankenhaus hat mich heute jemand besucht.", erklärte er ruhig. Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte, und so blickte ich ihn fordernd an. Jarod wandte den Blick ab und trat ans Fenster. Die Dunkelheit umschlung ihn und machte seine Worte noch mysteriöser. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Was geschah hier? Bekam ich etwa Angst vor jemandem, den ich schon seit seiner Kindheit kannte? Jarods Stimme riss mich aus meinen Gedanken, als er sprach: "Lyle war dort. Er hat Emily entführt und mir ein Ultimatum gestellt. Wenn ich Sydney töte, ist meine Schwester frei. Ich weiß natürlich, dass das nicht stimmt, aber ich habe keine Wahl." Ich starrte Jarod entgeistert an. Erst langsam nahm ich diese Information in mir auf. Emily entführt! Sydney töten! Doch es war nicht diese Hiobsbotschaft, die mich so schockierte. Nein, es war Jarods Stimme. Er klang so ruhig, so gefasst. Es schien, als hätte er seine Entscheidung bereits getroffen. Und dabei sollte Sydney wohl den Kürzeren ziehen. Plötzlich schienen Jarods sonst so sanfte Augen kalt und herzlos. Eine eisige Flamme brannte in ihnen. Es war, als hätte ich nicht meinen alten Freund, sondern einen völlig Fremden vor mir. War er tatsächlich dazu imstande, seinen Mentor umzubringen? Erst jetzt bemerkte ich, dass Jarod mich aufmerksam ansah und offenbar auf eine Antwort wartete. Ich schloss kurz die Augen, um mein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Dann fuhr ich auf: "Das kann nicht dein Ernst sein. Du willst ihn umbringen, deinen besten und ältesten Freund. Ich kann verstehen, dass Dir deine Schwester wichtig ist, aber, mein Gott Jarod, Du kennst sie nicht einmal. Wir müssen versuchen, beide zu retten. Einen dem anderen vorzuziehen, das ist doch keine Lösung." Er sah mich verständnislos an. Dann wandte er kopfschüttelnd den Blick ab und wollte aus dem Zimmer laufen. Ich sprang auf und stellte mich ihm in den Weg. Meine Augen blitzten zornig auf, als ich zischte: "Ich werde das nicht zulassen." "Du stellst Dich mir in den Weg? Ausgerechnet Du, Nicatlon?", erwiderte er spöttisch. Oh, was war ich blind gewesen! Schon als er mich im Krankenhaus am Kragen gepackt hatte, hätte ich stutzig werden müssen. Das war keine Affekthandlung aus Verzweiflung gewesen. Nein, Jarod hatte sich von Grund auf verändert. Ich musste ihn aufhalten. Seine drohende Stimme riss mich aus den Gedanken: "Wenn Du mir nicht sofort aus dem Weg gehst, vergesse ich mich." "Niemals!", dachte ich, hielt mich aber zurück. Es wäre unklug gewesen, Jarods Zorn herauf zu beschwören. Immerhin konnte die Sache gefährlich werden. Ich zwang mich, Jarod nicht als durchdrehenden Freund, sondern als potenziellen Mörder zu sehen. Vorsichtig wählte ich meine Worte: "Jarod, ich kenne Sydney schon so viel länger als Dich. Ach, verdammt, wir sind zusammen im KZ gewesen. Hätte ich ihn und Jacob damals nicht gehabt, wäre ich verrückt geworden. Wir beide sind gute Freunde, Jarod. Ich liebe Dich wie einen Sohn. Doch wenn Du mich zwingst, zwischen Dir und ihm zu wählen, werde ich garantiert an seiner Seite sein. Und, glaub mir, ich bin ein gefährlicher Gegner." Diese Ansprache hatte ihn scheinbar eingeschüchtert. Dennoch loderte immer noch dieses eiskalte Feuer in seinen Augen, auch wenn es unter dem Schleier der Erinnerung zu ersticken drohte. Einer Erinnerung, die ihn scheinbar in seine eigene Kindheit führte, als die Beiden noch wie Vater und Sohn füreinander gewesen waren. Eine innige Liebe trat in Jarods Augen, doch wurde sie von zornigen Tränen fortgespült. Für einen kurzen Moment jedoch war er wieder der Alte gewesen, und in mir keimte Hoffnung auf. Dann stieß er mich zur Seite und rannte aus dem Zimmer. Ich sank zu Boden und begann - ebenso wie Jarod vorhin - apathisch zu wippen. Ich musste mich jetzt konzentrieren.

18/05/99
JFK Hospital
Los Angeles, California
19:50Uhr

"Tut mir leid, Sir, die Besuchszeit ist schon zuende.", sagte eine Schwester, als sie den jungen Mann mit der Frau den Flur entlanggehen sah. Sie hatte nur den Mann angesprochen, weil die Frau etwas verwirrt wirkte. "Ich bin kein Besucher.", erwiderte der Mann. Ohne auf die Einwände der Schwester einzugehen, setzte Lyle seinen Weg fort. Er schob Emily vor sich her, jedoch immer darauf bedacht, dass niemand die Waffe an ihrem Rücken sah. Als die Beiden Sydneys Zimmer erreicht hatten, atmete Lyle noch einmal tief durch. Er wusste um Jarods gefährliche Schläue, und auch wenn Raynes Sydney für weitaus bedrohlicher hielt, hätte Lyle ihn am Leben gelassen, nur um jetzt nicht hier sein zu müssen. Ein wenig verunsichert öffnete Lyle die Tür. Jarod saß auf einem Stuhl an Sydneys Bett und musterte die beiden herein kommenden Gestalten eingehend. Lyle schob die Pistole aus Emilys Rücken langsam nach oben bis an ihren Hals, sodass Jarod sie sehen konnte. Emily erschauderte bei dieser Berührung. Jarod sprang auf und wollte einschreiten, doch sein Gegner ließ ihn durch einen wütenden Blick erstarren. Drohend sagte er: "Wenn Sie sich noch mal so einen Ausrutscher erlauben, Jarod, ist die Kleine tot. Und jetzt erfüllen Sie ihren Teil unserer kleinen Abmachung!" Jarod senkte eingeschüchtert den Kopf und trat an das noch immer brummende Beatmungsgerät. Wie schon einmal vor ein paar Tagen fuhren seine Finger über die leicht vibrierenden Schläuche. Nur diesmal ging es nicht darum, Sydney von seinem Leid zu erlösen, sondern darum, seine Schwester vor diesem psychopathischen Killer zu beschützen. Ach, verdammt, er liebte sie doch beide! So angestrengt er auch darüber nachgedacht hatte, er hatte keine Möglichkeit gefunden, beide zu retten. Nun konnte er nur noch hoffen, dass Nicatlon ihr Versprechen halten würde; nämlich ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er selbst war dazu nicht mehr in der Lage.

18/05/99
JFK Hospital
Los Angeles, California
20:00Uhr

Ich rannte die Treppe zur Intensivstation hinauf und hoffte inständig, dass es noch nicht zu spät war. Als ich die gläserne Doppeltür aufstieß, rempelte ich aus Versehen eine Schwester an, die mir einen bösen Blick zuwarf. Dann murmelte sie: "Mein Gott, der Besucherstrom reißt heute ja überhaupt nicht mehr ab! Aber ich werde mich nicht aufregen." Langsam schlich ich zu Sydneys Zimmer und begann an der Tür zu horchen. Gedämpfte Stimmen drangen nach draußen. Lyle war schon da. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch immer nicht, wie ich eigentlich vorgehen wollte. Ich hatte keinen Plan und konnte für Sydney und mich nur auf die Gnade der Fortuna hoffen. Hastig blickte ich mich nach einem Gegenstand um, den ich als Waffe benutzen konnte. Schließlich entdeckte ich einen Feuerlöscher und riss ihn von der Wand. Mir selbst Mut zusprechend öffnete ich die Tür einen Spaltbreit. Lyle stand mit dem Rücken zu mir und verdeckte Emily mit seinem Körper. Jarod stand mit dem Blick zur Tür an Sydneys Krankenbett und fingerte an den Schläuchen herum. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als ich bemerkte, wie heftig der innere Kampf in ihm tobte. Er tat mir fast leid, aber vor solchen Gefühlen musste ich mich in Acht nehmen. Schließlich war es für ihn ein Konflikt zwischen Familienbindung und Freundschaft, und ich konnte mir an fünf Fingern abzählen, was dabei wichtiger war. Dennoch brauchte ich ihn als Verbündeten, sonst hätte ich keine Chance gehabt. Ich streckte eine Hand durch den Türspalt und begann in Gebärdensprache auf Jarod einzureden: "Ich bin's, Nicatlon. Um Lyle auszuschalten, brauche ich deine Hilfe. Wir können es schaffen. Vertrau mir!" Jarods Blick, der bisher Lyle taxiert hatte, änderte sich kaum merklich, um die Sprache meiner Hand zu verstehen. Lyle registrierte diese Veränderung offenbar nicht. Ich fuhr mit meiner wortlosen Sprache fort: "Bitte Lyle jetzt, Sydney zum Abschied den Kopf zu streicheln!" Ich konnte Jarods verständnislosen Gesichtsausdruck verstehen, wusste ich doch selbst noch nicht recht, was ich damit erreichen wollte. Doch vorhin hatte ich Fortuna um ein Zeichen gebeten, und vielleicht war sie es, die mir jetzt die Hand führte, als ich sagte: "Stell keine Fragen, Jarod! Tu es einfach!" Sein Blick wanderte zurück zu Lyle. Dann beugte er sich hinunter zu Sydney und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Für mich sah das wie ein Abschiedskuss aus, und meine Hand begann zu zittern. Schließlich sagte Jarod: "Nun Lyle, hatten Sie nicht behauptet, Sydney wären von Ihnen ein hochgeschätzter Kollege? Dann erweisen Sie ihm jetzt die letzte Ehre und berühren Sie zum Abschied seine Wange. Ich spreche währenddessen ein Gebet. Los doch, oder ich ziehe den Stecker nicht!" Ein Kilo schwerer Felsbrocken fiel mir vom Herzen. Ich konnte also auf Jarod zählen. Lyle schien ein wenig überrascht zu sein von dieser seltsamen Bitte, doch er schickte sich an, den Auftrag auszuführen. Er ging auf Sydney zu und schob dabei Emily sorgsam vor sich her. Anscheinend hatte er Angst, Jarod könnte eine Waffe ziehen. Doch dass die Gefahr in Form von meiner Person bereits hinter ihm lauerte, wusste er nicht. Vorsichtig trat ich ins Zimmer und wartete auf meine Chance. Jarods Blick weitete sich, wurde jedoch von Lyle nicht wahrgenommen. Dieser beugte sich nach vorn, um trotz des vor ihm befindlichen Körpers der jungen Frau, Sydneys Gesicht mit der Hand erreichen zu können. Dann nahm er seine waffenfreie Hand und berührte die Wange von Jarods Mentor. Jarod verzog vor Ekel das Gesicht. In diesem Moment riss ich den Feuerlöscher in die Luft und ließ ihn auf Lyle niedersausen. Dieser jedoch wich unvermittelt zur Seite aus, sodass mein Schlag Emily im Nacken erwischte. Jarod schrie entsetzt auf, als seine Schwester bewusstlos zu Boden sank. Lyle fuhr schwungvoll herum und hielt mir eine 9mm an den Kopf. Triumphierend blitzte sein kaltes Lächeln, als er befahl: "Rüber zu Jarod! Sofort! Und Sie bringen endlich zuende, was Sie begonnen haben!" Nachdem ich an Jarods Seite getreten war, sagte dieser entschuldigend: "Tut mir leid, Nicatlon, aber ich habe mich entschieden." Entgeistert starrte ich den Pretender an. Er wollte es tatsächlich tun. Er wollte Sydney töten. Ich konnte ihn zwar verstehen, aber dennoch.... Das durfte einfach nicht geschehen! Hilflos sah ich zu, wie er das Kabel des Beatmungsgerätes in beide Hände nahm. Nur noch ein kleiner Ruck trennte Sydney von der Schwelle in den Tod. Ich wollte schreien, wollte um meinen Freund kämpfen, doch ich stand nur wie gelähmt da und starrte auf das Kabel. Und dann war es geschehen. Jarod hatte den Stecker gezogen. Es dauerte nur Sekunden und auf dem EKG zeichnete sich eine gerade Linie ab. Der piepsende Dauerton wirkte entgültig. Jetzt hielt mich nichts mehr. Ich rannte zu Sydney, warf mich auf das Bett und schluchzte. Meine ganze Seele hing in Fetzen. Ich schrie und heulte so sehr, dass ich nicht bemerkte, wie Jarod Lyle mit drohenden Worten einschüchterte, sodass dieser das Krankenhaus ohne Gefangene verließ. Es interessierte mich nicht. Ob Jarod zurück ins Centre kam oder Emily an ihren Verletzungen starb, was spielte das noch für eine Rolle? Sydney war tot! Allein das zählte; und die Tatsache, dass Jarod ihn umgebracht hatte. Plötzlich hörte mein Schluchzen auf. Er würde büßen. Er soll sterben für seine Tat. Ich wollte gerade aufspringen und Jarod an die Kehle gehen, als dieser mich sanft an der Schulter berührte und anlächelte. Wie konnte er es wagen?! Außer mir vor Wut schüttelte ich seinen Arm ab und brüllte ihn an: "Ich bring Dich um, Du verdammter Hurensohn! Ich schwöre, Du bist so gut wie tot." Sein Lächeln wurde breiter. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was ging hier vor? Schließlich sagte er ruhig: "Bevor Du diese wilde Mordabsicht in die Tat umsetzt, dreh Dich doch mal um und sieh Dir Sydney an." Völlig überrascht und verwirrt folgte ich seiner Weisung. Sydney bewegte sich leicht und stöhnte dann unter einer Schmerzwelle auf. Doch das war egal. Er lebte! Mein Blick huschte nach oben, wo das EKG noch immer eine gerade Linie anzeigte. Ungläubig starrte ich Jarod an. Wie war das möglich? Der Pretender verdrehte die Augen und begann stolz zu berichten: "Meine Güte, Nicatlon, sei doch nicht so begriffsstutzig! Das Beatmungsgerät hat natürlich eine Batterie. Was meinst Du, was geschehen würde, wenn es hier mal einen Stromausfall gibt? Ich brauchte nur den Herzmonitor mit dem Beatmungsgerät so zu verbinden, dass exakt bei Einschalten der Batterie eine gerade Linie erscheint. Außerdem habe ich die Atemfrequenz schneller, die Atemtiefe aber geringer, eingestellt, sodass der Brustkorb sich nur wenig hebt. Na, bin ich nicht genial?" Aus seinem Lächeln wurde ein breites Grinsen. Er war genial. Doch eine Frage blieb noch, bis ich sie stellte: "Warum hast Du mich nicht eingeweiht?" "Ich musste sichergehen, dass ich Lyle täuschen könnte. Du warst sozusagen mein Versuchskaninchen.", gab er lächelnd zur Antwort. Ich war unendlich erleichtert. Aber als ich Emily so am Boden liegen sah, beschlichen mich Schuldgefühle. Reumütig flüsterte ich: "Es tut mir leid. Ist sie in Ordnung?" Jarod erwiderte: "Ich hab schon untersucht. Es ist nur eine leichte Gehirnerschütterung." Der Pretender trat an Sydneys Bett und strich dem alten Mann eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er tat das so liebevoll. Jeder sah, dass die Beiden mehr verband, als nur eine Freundschaft. Ich lächelte glücklich. Wie konnte ich nur an ihm zweifeln? Sie gehörten einfach zusammen. Schwerfällig schlug Sydney die Augen auf und fixierte Jarod mit seinem Blick. "Willkommen im Leben, mein toter Freund!", rief Jarod nach einem freudigen Auflachen. Ich sah die beiden Freunde lange und eindringlich an. Für das Centre war Sydney tot. Das bot ganz neue Möglichkeiten. Er würde nicht einfach werden, doch gemeinsam waren wir stark. Für uns alle begann nun ein neues Leben; ein Leben jenseits von Schuld und Lügen. Ein Leben, in dem das Centre mit all seinen dunklen Geheimnissen nur noch einen verblassenden Schatten im Nebel der Zeit darstellte.


Ende Teil 3









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