Kostbare Momente by Miss Bit
Summary: Meine Vorstellung davon, wie es in der vierten Staffel weitergehen könnte, wenn ich irgendeinen Einfluß darauf hätte, *seufz*...
Categories: German Characters: All the characters, Other Non-Centre Related Character
Genres: Action/Adventure, Drama, Romance
Warnings: None
Challenges: None
Series: None
Chapters: 19 Completed: No Word count: 103884 Read: 105706 Published: 16/09/05 Updated: 16/09/05

1. Part 1 by Miss Bit

2. Part 2 by Miss Bit

3. Part 3 by Miss Bit

4. Part 4 by Miss Bit

5. Part 5 by Miss Bit

6. Part 6 by Miss Bit

7. Part 7 by Miss Bit

8. Part 8 by Miss Bit

9. Part 9 by Miss Bit

10. Part 10 by Miss Bit

11. Part 11 by Miss Bit

12. Part 12 by Miss Bit

13. Part 13 by Miss Bit

14. Part 14 by Miss Bit

15. Part 15 by Miss Bit

16. Part 16 by Miss Bit

17. Part 17 by Miss Bit

18. Part 18 by Miss Bit

19. Part 19 by Miss Bit

Part 1 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM und NBC (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.

Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel (auch wenn ich das große Finale noch gar nicht gesehen habe...).

Zur Handlung: Meine Vorstellung davon, wie es in der vierten Staffel weitergehen könnte, wenn ich irgendeinen Einfluß darauf hätte, *seufz*...




Kostbare Momente
von Miss Bit





Die langen Korridore des Centres wirkten verlassen, als Miss Parker ziellos durch das riesige Gebäude strich. Sie sollte eigentlich längst zu Hause sein, aber es gab nichts, was sie dorthin zurückzog.

Ohne Eile schritt sie von einem langen Flur zum nächsten, tief in Gedanken versunken. Hier unten, wo es keine Fenster gab, verlor die Zeit an Bedeutung. Es herrschte immer dasselbe, kalte Licht, so daß es weder Tag noch Nacht gab.

Miss Parker verzichtete darauf, den Lift zu benutzen, als sie ins Erdgeschoß zurückkehrte. Das Treppenhaus war so gut wie unbenutzt, wirkte genauso steril wie der Rest des Centres. Nur selten machte sich jemand die Mühe, die langen Treppenfluchten hinauf - oder hinabzusteigen.

Sie verließ das Treppenhaus und betrat die große Eingangshalle. Erst als sie draußen den Mond sah, warf Miss Parker einen Blick auf ihre Uhr. Fast Mitternacht. Zeit, nach Hause zu gehen.

aaaaaaaaaaaaaa

Bevor sie das Centre verlassen konnte, mußte sie allerdings noch etwas erledigen. Mit energischen Schritten ging sie in ihr Büro und nahm den Bericht, der dort auf ihrem Schreibtisch lag. Ihr Vater hatte sie darum gebeten, und sie wollte ihn in sein Büro bringen, damit er ihn gleich am Morgen lesen konnte.

Es dauerte nicht lange, bis sie sein Büro erreichte. Überrascht stellte sie fest, daß unter der geschlossenen Tür einen schmaler Lichtstreifen in den dunkleren Flur fiel. Miss Parker kniff die Augen zusammen. Wer konnte sich um diese Zeit im Büro ihres Vaters herumtreiben? Und wieso? Mit einer schnellen Bewegung vergewisserte sie sich, daß ihre Waffe an ihrem Platz war, dann nahm sie die Akte in ihre linke Hand und öffnete die schwere Doppeltür.

"Daddy!"

Erstaunt sah sie ihren Vater an, der im Licht der Schreibtischlampe in seinem Sessel saß. Er sah auf und lächelte kurz.

"Du siehst überrascht aus. Wen hast du denn erwartet?"

Sie schüttelte leicht den Kopf.

"Ich dachte, du wärst schon längst zu Hause", erwiderte sie ruhig. Dann ließ sie die Tür hinter sich zufallen und ging zu ihm.

"Hm, ich hatte noch zu arbeiten", erklärte er mit einem Blick auf mehrere Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Miss Parker musterte ihn besorgt. Er sah nicht besonders gut aus.

"Hier, ich wollte dir den Bericht geben, um den du mich gebeten hast", sagte sie. Ihr Vater nahm die Akte mit einem Nicken entgegen.

"So schnell hatte ich gar nicht damit gerechnet", erwiderte er in einem seltsamen Tonfall. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte leicht.

"Ich hatte ja sonst nichts zu tun", meinte sie leise. Es war nicht als Vorwurf gemeint, trotzdem sah ihr Vater auf, sein Blick schuldbewußt. Er streckte die Hand nach ihr aus. Miss Parker ging näher zu ihm und ergriff sie.

"Wie geht es deiner Schulter?" erkundigte sich ihr Vater. Sie glaubte beinahe, echte Sorge in seiner Stimme zu hören. Ihr Blick schweifte kurz zu der Schlinge, die sie noch immer tragen mußte, dann sah sie wieder ihren Vater an.

"Viel besser. Eigentlich merke ich kaum noch etwas davon."

Er nickte, aber es wirkte irgendwie abwesend. Sein Blick ruhte immer noch auf ihr, und er blinzelte heftig, bevor er weiter sprach.

"Du siehst müde aus, mein Liebes. Geht es dir gut?"

Miss Parker betrachtete ihren Vater mit einer Mischung aus Verwunderung und Wärme. Es war lange her, seit sie ungestört so einen vertrauten Moment geteilt hatten. Ihr Vater schien an diesem Abend in einer sehr merkwürdigen Stimmung zu sein, und trotz allem, was sie wegen ihm durchgemacht hatte, sorgte sie sich jetzt um ihn. Was auch immer passiert sein und er getan haben mochte - er blieb doch ihr Vater.

"Mit mir ist alles in Ordnung, Daddy. Mir fehlt nur etwas Schlaf." Sie musterte ihn genauer. Auch er sah müde aus; dadurch wirkte er auf einmal viel älter. Ihr fielen neue Falten in seinem Gesicht auf, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie dort lange nicht mehr gesehen hatte. Seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. "Und was ist mit dir?"

Ihre Stimme hatte einen warmen Klang angenommen. Er drückte ihre Hand, und Miss Parker spürte, daß sie einen jener seltenen Augenblicke erlebte, in denen sie sich mit ihrem Vater verbunden fühlte.

"Mir geht es gut", sagte er leise und schloß für einen Moment die Augen. In seinem Gesicht zuckte es kurz. Als er sie wieder ansah, lächelte er beruhigend. Sie wußte, daß es ein falsches Lächeln war, aber diesmal nahm sie es ihm nicht übel, weil er ihr damit ihre Sorge nehmen wollte.

"Wieso fährst du nicht nach Hause? Du siehst aus, als könntest du etwas Ruhe gebrauchen. Und ich bin sicher, Brigitte wüßte es auch zu schätzen, wenn sie etwas mehr von dir hätte, besonders im Moment."

Miss Parker war selbst erstaunt, wie aufrichtig ihre Worte klangen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten sie wie ein Witz geklungen und außerdem den Schmerz über die jüngsten Entwicklungen in ihrer Familie wieder aufflammen lassen, aber für den Augenblick waren sie nur ein Ausdruck ihrer Sorge.

Noch einmal zuckte es kurz im Gesicht ihres Vaters, als er ihren Blick erwiderte.

"Oh, ich weiß nicht. Ich glaube, Brigitte ist ganz froh, wenn ich nicht im Haus bin. Weißt du, schwangere Frauen sind manchmal nicht ganz einfach..."

Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. Miss Parker unterdrückte ein Seufzen.

"War es mit Mom auch so?" fragte sie, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Überrascht sah sie, wie ein ganz ungewöhnliches Leuchten seine Augen für ein paar Sekunden erhellte, während er sich an glücklichere Zeiten erinnerte.

"Oh nein", antwortete er mit Nachdruck und schüttelte den Kopf. "Catherine war so glücklich, und sie hat dieses Glück mit mir geteilt." Er schwieg, und sein Blick richtete sich für ein paar Augenblicke ins Leere. "Sie hat ihre Schwangerschaft nie als Belastung betrachtet."

Nicht zum ersten Mal hatte Miss Parker auf einmal das Gefühl, daß Brigitte nur als schlechter Ersatz für ihre Mutter diente. Sie verdrängte den Gedanken und beschloß, das Thema zu wechseln. Schon seit ein paar Tagen wollte sie mit ihrem Vater über etwas reden. Dieser Moment war dafür vermutlich günstiger als der nächste Morgen.

"Daddy?" Sanft entzog sie ihm ihre Hand und legte sie auf seine Schulter. "Kann ich mit dir über etwas reden?"

Er kehrte aus der Welt seiner Erinnerungen zurück, bedachte sie mit einem leichten Lächeln.

"Sicher, mein Engel. Worum geht es?"

Miss Parker zögerte kurz. Das würde ihm nicht gefallen.

"Wie geht es Jarod? Hat er sich etwas beruhigt?"

"Mhm. Raines hat ihn ruhig gestellt. Aber das ist nicht mehr deine Sorge." Ihr Vater bedachte sie mit einem forschenden Blick. "Jarod ist jetzt wieder in der sicheren Obhut des Centres. Dein Auftrag ist erledigt." Plötzliches Verstehen leuchtete in seinen Augen, und Miss Parker beeilte sich, seiner nächsten Frage zuvorzukommen.

"Nein, es geht mir nicht um unser Abkommen. Ich werde weiter für das Centre arbeiten - fürs erste." Noch einmal machte sie eine Pause, bevor sie fortfuhr. "Ich möchte ihn sehen."

Wie sie vermutet hatte, reagierte ihr Vater mit Ablehnung. Er runzelte die Stirn.

"Wieso denn? Du mußt dir seinetwegen keine Sorgen mehr machen. Raines ist jetzt für ihn verantwortlich."

Diesmal erlaubte sie sich einen kleinen Seufzer.

"In den letzten drei Jahren war ich ausschließlich damit beschäftigt, Jarod hinterher zu jagen. Er ist sozusagen ein Teil meines Lebens geworden. Um mit der Vergangenheit abzuschließen, muß ich ihn noch einmal sehen, verstehst du?"

"Nein, ich fürchte, das verstehe ich nicht", erwiderte ihr Vater nachdenklich, und sie wollte schon protestieren, als er ihr mit einer sanften Geste bedeutete ihm zuzuhören. "Wenn ich nur an all die Lügen denke, die er dir erzählt hat! Aber wenn es dir so wichtig ist..."

Er wandte sich von ihr ab und schaltete einen kleinen Monitor ein, der am Rand seines Schreibtisches stand. Es dauerte einen Moment, bis das Bild klar genug geworden war, um etwas zu sehen, doch dann erkannte Miss Parker, daß es sich um das Bild der Überwachungskamera in Jarods Raum handelte. Sie warf ihrem Vater einen erstaunten Blick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte.

Noch einmal sah sie zurück auf den Monitor. Das Zimmer, in dem sich Jarod befand, war halb dunkel. Er lag auf einem Bett, offenbar nicht bei Bewußtsein. Vermutlich schlief er, betäubt von was auch immer Raines ihm injiziert hatte. Von Sam wußte sie, daß Jarod sich nach seiner Gefangennahme wie ein wildes Tier gebärdet hatte. Erst drei von Raines' kräftigsten Sweepern hatten es geschafft, ihn so ruhig zu halten, daß einer der Ärzte ihm ein Beruhigungsmittel spritzen konnte.

Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Was wollt ihr jetzt mit ihm machen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß er je wieder mit dem Centre zusammenarbeiten wird", sprach sie den Gedanken aus, der sie seit ein paar Tagen beschäftigte.

Ihr Vater zuckte mit den Schultern.

"Jarod braucht etwas Zeit, um sich wieder einzugewöhnen. Und Raines wird schon eine Motivation für ihn finden."

Ihr gefiel die Richtung nicht, die das Gespräch nahm. Es erinnerte sie daran, daß Jarod hier ein Gefangener war, der ausgenutzt wurde. Und sie hatte geholfen, ihn in sein verhaßtes Gefängnis zurück zu schaffen.

"Ich möchte zu ihm", sagte sie sehr sanft.

Nun war es ihr Vater, der seufzte.

"Er ist gefährlich. Bis jetzt hat er jeden angegriffen, der ihm zu nahe gekommen ist. Ich möchte nicht, daß er dich verletzt."

"Glaub mir, Daddy, das möchte ich auch nicht. Aber ich bin sicher, daß er mir nichts tun wird." Sie war nicht wirklich sicher, aber das war ihr Problem, nicht das ihres Vaters.

Erst nach langem Zögern antwortete er ihr.

"Na schön, wenn du es unbedingt willst." Sein Blick glitt kurz zu ihrer verletzten Schulter, und wieder einmal hatte sie das Gefühl, daß er hauptsächlich aus Schuldgefühlen ihr gegenüber handelte - schließlich war sie von der Kugel verletzt worden, die für ihn bestimmt gewesen war. "Aber ich möchte, daß du jemanden zu deinem Schutz mitnimmst. Sam vielleicht und..."

"Das wird nicht nötig sein", wiegelte sie ab. "Sieh ihn dir doch an. Im Moment könnte er nicht einmal für Raines gefährlich werden."

Sie lächelte humorlos. Dann fiel ihr noch etwas ein.

"Es gibt noch etwas, um das ich dich bitten möchte, Daddy."

"Hm?"

"Sydney. Laß ihn wieder zu Jarod. Ich weiß, daß Raines ihn von Jarod ferngehalten hat. Aber Sydney ist wichtig für Jarod. Wenn ihn jemand dazu überreden kann, wieder für das Centre zu arbeiten, dann ist es Sydney. Und selbst wenn ihm das nicht gelingt, so kann er Jarod vielleicht wenigstens beruhigen. Ihr könnt ihn doch nicht ständig sedieren."

Miss Parker konnte sehen, wie ihr Vater über ihre Bitte nachdachte.

"Raines wird das nicht gefallen. Aber was kümmert uns das? Sag Sydney, daß er Jarod morgen früh sehen kann. Wenn das Treffen gut verläuft, kann ich vielleicht dafür sorgen, daß er ihn häufiger sehen kann."

"Danke, Daddy."

Ehrlich erleichtert küßte sie ihn auf die Stirn. In der letzten Zeit war es selten vorgekommen, daß sie spontane Zuneigung zu ihm empfunden, und noch seltener, daß sie sie gezeigt hatte.

"Schon gut, mein Schatz", erwiderte er sanft. Er stand auf und zog sie kurz an sich. "Und jetzt sollten wir uns beide auf den Weg nach Hause machen."

"Nein, ich möchte erst noch zu Jarod."

"Was, jetzt?"

"Mhm. Je schneller ich das hinter mich bringe, desto eher kann ich mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt."

Ihr Vater nickte. "Na gut, dann sorge ich dafür, daß du jetzt gleich zu ihm kannst."

"Gute Nacht, Dad."

"Schlaf gut, Liebes."

Zum Abschied bedachte er sie noch einmal mit einem Lächeln, und während sie sein Büro verließ, wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie so einen kostbaren Moment mit ihrem Vater wohl nicht noch einmal erleben würde.

Sie wartete, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, bevor sie zu den Aufzügen ging. Bevor sie zu Jarod ging, wollte sie erst noch in Sydneys Büro eine Nachricht hinterlassen.

Zum zweiten Mal an diesem späten Abend erlebte sie eine Überraschung, als sie Sydneys Büro erreichte. Auch dort brannte noch Licht. Miss Parker klopfte leise an die angelehnte Tür.

"Syd?"

"Ah, Miss Parker. Kommen Sie rein."

Leicht beunruhigt folgte sie seiner Aufforderung. Wie ihr Vater saß er bei schwachem Licht hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm standen eine volle Flasche Whiskey und ein leeres Glas.

"Ist das Ihre erste Flasche?" erkundigte sie sich. Sydney sah sie mit einem schwachen Funkeln in den Augen an.

"Ja."

"Ich verstehe."

Er musterte sie, als wollte er ihre Äußerung in Frage stellen, doch dann nickte er leicht. Sydney wußte, wieviel sie in den letzten Wochen und Monaten durchgemacht hatte.

"Wieso sind Sie noch hier, Miss Parker?"

Sie zuckte ganz leicht mit den Schultern, sosehr es ihre Verletzung zuließ.

"Ich hatte noch das ein oder andere zu erledigen", erklärte sie. "Unter anderem wollte ich Ihnen eine Notiz schreiben."

Sydney hob die Brauen. "Diese Mühe können Sie sich ja jetzt sparen."

Miss Parker lehnte sich gegen den Türrahmen.

"Sie sollten nach Hause fahren und sich ausruhen. Schließlich wollen Sie morgen doch bestimmt ausgeruht sein."

Seine Brauen kletterten noch weiter in die Höhe.

"Wofür? Einen weiteren nutzlosen Tag hier im Centre?"

"Ah, Syd, seit wann sind Sie so zynisch? Außerdem sollten Sie nicht so egoistisch sein. Immerhin gibt es hier im Centre jemanden, der Sie braucht, schon vergessen?"

Er schnaubte abschätzig, und Miss Parker beschloß ihm endlich zu sagen, wieso sie gekommen war.

"Sie können morgen früh zu Jarod. Wenn Sie das wollen."

Sydney sah sie fassungslos an, dann verengten sich seine Augen.

"Darüber würde ich keine Scherze machen, Sydney. Ich hoffe, das wissen Sie", kam sie seinem unausgesprochenen Vorwurf zuvor. "Mein Vater ist der Meinung, daß Sie Jarod vielleicht zur Vernunft bringen können."

"Ihr Vater?"

Miss Parker lächelte.

"Allerdings, ja. Er mag stur sein, aber er ist nicht dumm. Kommen Sie schon, Syd. Glauben Sie's ruhig."

"Das tue ich, Miss Parker." Seine Lippen verzogen sich zu einem zögerlichen Lächeln. "Morgen früh?"

"Mhm. Gute Nacht, Sydney."

Sie drehte sich um, machte sich auf den Weg nach draußen. Ihr war nicht die Freude in seinen Augen entgangen, als sie ihm die gute Neuigkeit übermittelt hatte. Hoffentlich war die Freude groß genug, um die Angst zu überwinden, die Sydney offenbar ebenfalls empfand.

"Miss Parker?"

Noch einmal drehte sie sich zu ihm um, sah ihn nur fragend an.

"Ich danke Ihnen."

"Wofür denn, Sydney?"

Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich von ihm, dann verließ sie sein Büro. Blieb nur noch Jarod übrig. Nur noch.

Auf dem Weg nach unten warf sie erneut einen Blick auf die Uhr. Zwanzig Minuten nach Mitternacht. Ein neuer Tag hatte begonnen. Mit ein bißchen Glück würde er genauso gut beginnen wie der letzte aufgehört hatte.

Miss Parker brauchte fast zehn Minuten, um den Raum zu erreichen, wo Jarod untergebracht war. Raines war auf Nummer Sicher gegangen und hatte Jarod nicht nur ruhig stellen lassen, sondern ihn auch noch so weit wie möglich von der Erdoberfläche entfernt eingesperrt. Diesmal sollte es dem Pretender nicht so leichtfallen, aus dem Centre zu entkommen.

In Miss Parkers Augen war diese Maßnahme sinnlos. Wenn Jarod es wirklich darauf anlegte, noch einmal zu entwischen, würde er es auch schaffen.

Die letzten Meter legte sie eher widerstrebend zurück. Raines' Sweeper ließen sie kommentarlos passieren, so daß sie sich ganz auf ihre Überlegungen konzentrieren konnte.

Es war nicht so, daß sie sich auf diese Begegnung freute. Eigentlich sollte sie froh sein, daß Jarod wieder im Centre war. Nicht nur, daß sie jetzt von Jarods kleinen 'Präsenten' verschont bleiben würde - sie hatte außerdem ihren Teil des Handels erfüllt und konnte das Centre jederzeit verlassen. Zumindest theoretisch. Allerdings hatte sie nicht vor zu gehen, bevor sie Tommys Mörder gefunden hatte.

"Miss Parker."

Sie sah auf. Sam stand vor ihr und sah sie erwartungsvoll an.

"Hat mein Vater dich geschickt?"

Ihr Sweeper nickte nur.

"Dachte ich mir. Na gut, ich möchte, daß du hier draußen wartest und nur rein kommst, wenn ich dich rufe. Und so lange ich da drin bin, bleiben alle anderen hier draußen, klar?"

"Ja, Miss Parker."

Miss Parker holte tief Luft, dann ging sie durch die Tür, die Sam für sie geöffnet hatte. Sobald sie den Raum betreten hatte, schloß Sam die Tür wieder hinter ihr.

Es war dunkel, dunkler als es vor ein paar Minuten auf dem Monitor gewirkt hatte. Sie blieb noch eine Weile direkt vor der Tür stehen, bis sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten.

Jarod lag noch immer auf dem Bett, genauso, wie sie ihn vorhin gesehen hatte. Langsam ging sie auf ihn zu. Ein paar Schritte vor dem Bett blieb sie stehen.

'Er hat sich aufgeführt wie ein wildes Tier. Wenn wir nicht zu dritt gewesen wären, hätten wir ihn nicht festhalten können. Erst als Mr. Raines ihm die Spritze gegeben hat, hat er sich etwas beruhigt. Trotzdem hat er Willie drei Rippen gebrochen.'

Miss Parker verzog kurz das Gesicht, als sie sich an das erinnerte, was Sam ihr erzählt hatte. Nur auf ihren Befehl hin hatte er ihr erzählt, was er wußte - so, als sei es ihm unangenehm, überhaupt darüber zu reden.

Ihre Augen gewöhnten sich immer besser an die Dunkelheit. Sie sah Jarod an. Er wirkte erschöpft, ausgemergelt. Die wenigen Tage im Centre hatten genügt, ein körperliches Wrack aus ihm zu machen. Noch ein paar Tage mehr, und nur Gott mochte wissen, was aus seinem Verstand wurde...

Langsam ging sie noch näher zu ihm. 'Bis jetzt hat er jeden angegriffen, der ihm zu nahe gekommen ist.' Als sie jetzt noch einmal über die Worte ihres Vaters nachdachte, glaubte sie beinahe, so etwas wie widerwilligen Respekt in seiner Stimme gehört zu haben. Respekt, den sie nie bekommen hatte.

Gedankenverloren betrachtete sie den Mann, der sie drei Jahre lang verfolgt hatte. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Er würde das mit Sicherheit genau anders herum sehen. Aber während sie ihm dicht auf den Fersen gewesen war, war er immer tiefer in ihre Seele vorgedrungen, hatte gnadenlos alle dunklen Ecken ausgeleuchtet. Vermutlich hatte er das nur getan, um sich zu verteidigen - aber war das wirklich der einzige Grund gewesen? Jetzt war es zu spät, das herauszufinden. Ihr Vater hatte recht: Jarod war nicht mehr ihr Problem.

Miss Parker überlegte, ob sie ihn wecken sollte. Ein Gespräch mit ihr war sicherlich das letzte, was er im Moment wollte. Und was war, wenn er sie angriff? Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, daß er...

Sie bekam keine Chance, den Gedanken zu beenden. Mit einer unglaublich schnellen Bewegung schoß Jarod auf einmal nach oben, prallte gegen sie und stieß mit ihr an die nächste Wand.

Der Aufprall preßte ihr die Luft aus den Lungen, und nur deshalb schrie sie nicht vor Schmerz auf, als ihre verletzte Schulter hart mit der Wand kollidierte. Zu allem Überfluß hielt Jarod sie auch noch an beiden Armen fest.

So plötzlich, wie er sie angegriffen hatte, lockerte sich sein Griff an ihrer Schulter, sobald er die Schlinge fühlte. Er hielt sie noch immer so fest, daß sie sich nicht losreißen konnte, aber der Schmerz ließ etwas nach.

"Miss Parker, was für eine... Überraschung", sagte er, die Stimme rauh vor Erschöpfung und Anstrengung. "Wieso sind Sie hier?"

Sie stöhnte vor Schmerz auf, als er sie für einen Moment wieder härter gegen die Wand preßte.

"Ich... weiß nicht. Vielleicht... quäle ich... mich einfach nur gern... selbst", brachte sie hervor. Es war nicht nur Jarods fester Griff, der ihr die Kehle zuschnürte. Sie hatte Angst. Er stand so dicht vor ihr, daß sie nicht in seine Augen sehen konnte. Seine Stimme war ihr einziger Anhaltspunkt für seine Stimmung. Das hier war nicht der Jarod, der vor drei Jahren aus dem Centre entkommen war. Miss Parker hatte es mit dem dunklen Jarod zu tun - dem Mann, den sie nicht kannte. Mit ihm gab es keine Spielchen, keine Sticheleien. Hier ging es nur um Macht und Kontrolle.

Erleichtert registrierte sie, daß sich sein Griff weiter lockerte und er ein wenig von ihr zurücktrat. Aber sie war noch immer gefangen zwischen ihm und der Wand.

"Sie hätten nicht herkommen sollen, Miss Parker", erwiderte er, mit einem nachdenklichen Unterton in der Stimme. "Hat Ihr Vater Sie denn nicht vor mir gewarnt?"

Es tat ihr fast gut, den beißenden Spott zu hören, mit dem er sie jetzt bedachte.

"Das hat er. Aber ich lasse mir nichts vorschreiben - auch von ihm nicht."

Sie spürte mehr als daß sie sah, wie er sich anspannte. Noch einmal näherte er sich ihr, drängte sie wieder härter gegen die Wand.

"Wieso sind Sie hier, Miss Parker?"

Da war er wieder, dieser drängende Tonfall, den sie in den letzten Jahren so oft von ihm gehört hatte. Ungebetene Gedanken hinterließen breite Risse in ihrer eisernen Selbstbeherrschung, unterdrückte Gefühle bahnten sich unaufhaltsam einen Weg nach draußen.

"Sie haben mir weh getan, Jarod", keuchte sie, und ein leichtes Schwanken ihrer Stimme verriet ihren inneren Aufruhr. Beinahe augenblicklich ließ er sie los, benutzte statt dessen seine körperliche Überlegenheit, um sie unter Kontrolle zu halten.

Dankbar holte sie Luft, ignorierte den dumpf pochenden Schmerz, der noch immer in ihrer Schulter pulsierte.

"Das habe ich nicht gemeint", sagte sie dann. Jarod neigte den Kopf leicht zur Seite, musterte sie aus seinen dunklen Augen, dann zuckte er mit den Schultern. Dieses Mal kam er langsamer näher, so nah, daß sie seinen Herzschlag spüren konnte. Sein Blick bohrte sich in ihren, erschütterte die letzten Reste ihrer Kontrolle.

"Miss Parker, Miss Parker."

Sie spürte, wie sein Atem über ihre Wange strich, als er in ihr Ohr flüsterte. Etwas an seinem Tonfall kam ihr merkwürdig vor; so, als paßte es nicht zu dieser bizarren Situation.

"Sie verwirren mich", fuhr er leise fort. "Ich weiß nicht, ob ich sie erwürgen soll, oder..."

Obwohl ihre Lage nicht ungefährlich war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen.

"Oder was?" wisperte sie heiser.

Seine Hände schlossen sich um ihren Hals, ohne jeglichen Druck, machten aus einer bedrohlichen Geste eine Liebkosung. Nach endlos erscheinenden Sekunden glitten sie weiter, bis er ihr Gesicht in seinen Händen hielt.

Wieder bewegte Jarod sich fast unheimlich schnell. Er küßte sie, rauh und hart, preßte sie dabei noch stärker an die Wand.

Ein unfaßbar intensives Gefühl schoß wie ein Blitz durch ihren Körper, so daß sie glaubte, ihr Herz wäre für eine Sekunde stehengeblieben. Viel zu deutlich spürte sie seinen muskulösen, angespannten Körper, der sich so eng gegen ihren preßte, daß er ihr wie seine Lippen den Atem nahm.

Wieder regte sich der Eindruck in ihr, daß sich irgend etwas völlig falsch anfühlte. Wut flammte in ihr auf, vermischte sich mit der kühlen Stimme ihres Instinktes. Verärgert, und unter Aufbietung all ihrer Kräfte, stieß sie ihn von sich fort.

Die Lücke, die zwischen ihnen enstand, war nur wenige Zentimeter breit. Jarod lachte dunkel und sah sie beinahe amüsiert an.

"Schüchtern, Miss Parker?"

Sie wollte ihn schlagen, aber er sah ihre Absicht voraus und hielt sie mühelos fest.

"Mistkerl!" zischte sie wütend. In seinen Augen blitzte es, und plötzlich war ihr klar, daß er das alles mit Absicht machte - um sie wütend zu machen. Die Worte ihres verhaßten Bruders schossen ihr durch den Kopf. 'Sie sind wunderschön, wenn Sie wütend sind.'

"Lassen... Sie mich... los!"

Wieder verzogen sich seine Lippen zu einem humorlosen Lächeln.

Er beugte sich ganz nah zu ihr, seine Stimme nur ein kaum hörbares Flüstern.

"Jetzt, wo ich Sie habe", wisperte er, "werde ich Sie doch nicht wieder gehen lassen. Wie fühlt es sich an, gefangen zu sein?"

Miss Parker bekam keine Gelegenheit, seine Frage zu beantworten. Seine Lippen preßten sich hart auf ihre, so selbstbewußt und fordernd. Anstelle des Chaos, das sie halb erwartet hatte, herrschte plötzlich Leere in ihrem Kopf. Nur ein einzelner Gedanke formte sich quälend langsam. 'Etwas stimmt hier nicht.'

Sie gab dem Druck seiner Zunge auf ihren Lippen nach, öffnete den Mund. Was passierte hier nur?

Es war falsch, aber es fühlte sich gut an. Für einen Moment, nur für einen winzigen Augenblick, gab sie sich ihren Gefühlen hin, genoß dieses groteske Vergnügen. Erst viel später erkannte sie, daß es dieser Moment gewesen war, der alles verändert hatte. Nur dadurch hatte sie endlich die Wahrheit erkannt.

Ihre Wut kehrte zurück, um ein Vielfaches stärker. Jetzt wußte sie, was hier nicht stimmte. Jarod versuchte, die Kontrolle über sie zu erlangen, aber das konnte er nicht als er selbst. Sie hatte es mit Jarod, dem Pretender zu tun. Ihn kannte sie fast genauso gut wie den kleinen, naiven Jungen, von dem noch so viel in ihm steckte.

Miss Parker beschloß, die Sache zu beenden. Ihre Zunge glitt über seine Unterlippe, langsam, verheißungsvoll. Er ließ für einen Moment in seiner Wachsamkeit nach, und sie biß ihn, fest genug, um ihn zurückweichen zu lassen.

Diesmal gelang es ihr, ihn weiter von sich fort zu stoßen. Bevor er sich von ihrem überraschend kräftigen Stoß erholen konnte, hob sie die Hand und schlug ihn kräftig ins Gesicht. Noch einmal stieß sie ihn von sich weg, so daß er stolperte und rückwärts auf das Bett fiel.

"Du widerlicher Bastard!" fauchte sie. Jarod stand auf, kam aber nicht näher. Er schien zu spüren, daß sie wirklich zornig war.

"Was glaubst du, was du hier tust?" fuhr sie fort. Ihr fiel nicht einmal auf, daß sie die förmliche Anrede aufgegeben hatte. Ohne große Anstrengung fiel sie in ihre alte Rolle zurück. "Willst du vor laufender Kamera über mich herfallen? Und ich mache dabei mit, überwältigt von deinem gewaltigen Charme? Oder spielt es gar keine Rolle, was ich dazu sage? Wenn das da draußen aus dir geworden ist - dann ist es wirklich besser, daß Raines dich wieder hier unten eingesperrt hat!"

Sie konnte nicht sagen, ob ihre Worte irgend einen Einfluß auf ihn hatten. Der Pretender stand einfach nur da und starrte sie an, wischte sich mit einer Hand das Blut von der Lippe. Schließlich ließ er die Hand sinken.

"Sehr bewegend, wirklich." Er fuhr sich mit der Zunge über seine verletzte Lippe, machte daraus eine laszive Geste. "Deswegen bist du doch hergekommen. Das ist es, was du immer von mir gewollt hast."

"Vorsicht, Jarod", warnte sie ihn, aber er ignorierte sie, gefangen in seinem eigenen Spiel.

"Jetzt wo Tommy fort ist, brauchst du jemanden, um dich über ihn hinweg zu trösten."

Die Worte trafen sie härter als jeder Schlag es je gekonnt hätte. Ihre Wut verrauchte, machte erstickendem Schmerz Platz. Seine Miene veränderte sich, und sein Wunsch, die Worte zurückzunehmen, war fast greifbar für sie. Doch dafür war es unwiederbringlich zu spät. Er hatte sein besonders Talent mißbraucht, um ihr weh zu tun, so sehr wie niemand sonst es konnte. Nur einen Sekundenbruchteil später war die Maske wieder da, die er sich in dieser Nacht aufgesetzt hatte und von Bedauern war keine Spur mehr zu entdecken, nicht einmal in seinen Augen.

Miss Parker schloß den Mund, preßte ihre Lippen fest aufeinander. Sie fand nicht einmal die Kraft, ihm all die Dinge an den Kopf zu werfen, die ihr durch den Kopf schossen, und die ihn doch nie so verletzen konnten wie seine unbedachte Äußerung.

Ohne ein einziges Wort drehte sie sich um und ging zur Tür. Nach einem lauten Klopfen öffnete Sam ihr fast sofort die Tür. Miss Parker ging an ihm vorbei und verspürte nicht einmal den Wunsch, sich ein letztes Mal umzudrehen. Sollte er doch hier unten verrotten.

aaaaaaaaaaaaaa

Am nächsten Morgen fiel es Miss Parker schwerer als gewöhnlich, ins Centre zurückzukehren. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, gegen ihre Tränen angekämpft und erfolglos versucht, Jarods Worte aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

Und dann gab es da noch diesen kleinen, flüsternden Zweifel. Miss Parker gestattete sich nicht einmal, ihn wahrzunehmen, geschweige denn, darüber nachzudenken. Aber so sehr sie es auch versuchte - sie konnte ihn nicht verdrängen. 'Was, wenn er recht hat?'

"Guten Morgen, Miss Parker."

Es war Broots, der sie aus ihren Grübeleien riß. Einen Augenblick lang starrte sie ihn nur an.

"Ich dachte, Sie hätten zwei Wochen Urlaub genommen", sagte sie anstelle einer Begrüßung. Broots trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

"Man hat mir nur eine Woche bewilligt", erklärte er, aber es war deutlich, daß ihn etwas ganz anderes belastete. Miss Parker war sich sicher, daß sie überhaupt nicht hören wollte, was er zu sagen hatte, aber was sie in seinen Augen sah, zwang sie, danach zu fragen. Er verließ sich auf sie. Sein erleichterter Blick machte deutlich, daß er auf ihre Fähigkeit vertraute, das Problem zu lösen.

"Was ist los, Broots?"

Sie versetzte ihm einen leichten Schubs und gemeinsam verließen sie die Eingangshalle in Richtung ihres Büros.

"Es ist Sydney", flüsterte der Techniker und sah sich verstohlen um.

"Das hier ist kein schlechter Agentenfilm, Broots", erinnerte ihn Miss Parker. "Reißen Sie sich zusammen." Ihrer Stimme fehlte jegliche Schärfe, und Broots nickte nur geistesabwesend.

Als er nach einer Minute noch immer nichts gesagt hatte, seufzte Miss Parker lautlos.

"Was ist mit Syd?" drängte sie ihn.

"Ich weiß es nicht", stieß Broots hervor, nun deutlich besorgt. "Als ich heute morgen hergekommen bin, habe ich mich nur kurz mit ihm unterhalten, und alles schien in Ordnung zu sein. Vor einer halben Stunde ist er dann ohne ein Wort an mir vorbeigegangen und..."

Broots zögerte, doch dann gab er sich einen Ruck. "Er hat sich in seinem Büro eingeschlossen", beendete er seinen Satz.

Miss Parker blieb stehen und sah ihn lange an, dann setzte sie ihren Weg fort, schneller als zuvor. "Ich rede mit ihm."

Sie ließ Broots hinter sich zurück. Kurz darauf erreichte sie Sydneys Büro. Ihr Blick ruhte eine volle Minute auf der verschlossenen Tür, bevor sie leise anklopfte.

"Sydney? Ich bin's. Wenn Sie mir nicht die Tür aufmachen, zwingen Sie mich, das Schloß aufzuschießen - aber vielleicht hole ich auch nur jemanden, der einen Generalschlüssel hat. In jedem Fall wird's hier einen Riesenaufstand geben. Das wollen Sie doch nicht, oder?"

Es blieb eine ganze Weile still. Miss Parker übte sich in Geduld und wurde bald darauf mit dem Geräusch von Schritten belohnt, die sich der Tür näherten. Ein leises Klicken verriet ihr, daß Sydney die Tür aufgeschlossen hatte. Schließlich öffnete er sie und sah ihr erstaunlich ruhig entgegen.

"Miss Parker, das war armselige Psychologie", meinte er leise. "Aber kommen Sie trotzdem herein."

"Es hat funktioniert", erwiderte sie mit einem Schulterzucken, während sie eintrat. Sie ging bis zu seinem Schreibtisch, drehte sich dann zu ihm um.

"Was soll das, Syd? Das ist so gar nicht Ihre Art."

Er seufzte.

"Ich wollte nur einen Augenblick allein sein."

"Und das im Centre. Nicht sehr clever, Sydney. Auf diese Weise ziehen Sie erst recht Aufmerksamkeit auf sich."

Jarods ehemaliger Mentor musterte sie aufmerksam.

"Ich fürchte, Ihre Methode ist auch nicht viel besser", hielt er dagegen.

Ihr war sofort klar, worauf er hinauswollte. Sydney spielte auf ihr Treffen mit Jarod an. Vermutlich hatte mittlerweile jeder im Centre das Überwachungsband gesehen. Zum Teufel mit Jarod.

"Quid pro quo, Sydney. Zuerst sind Sie dran. Was ist passiert?"

Er ging zum Fenster und sah hinaus.

"Ich war heute morgen bei Jarod. Er wollte mich nicht sehen. So einfach ist das."

Das war noch nicht alles. Sowohl Sydneys Haltung, als auch sein Tonfall ließen das deutlich werden. Trotz dieser Erkenntnis nickte Miss Parker nur.

"Merkwürdig - wieso überrascht mich das gar nicht? Ich nehme an, Sie wissen schon, was mir mit ihm passiert ist?"

Auch Sydney nickte nur, drehte sich aber wieder zu ihr um.

"Ich bin mir nicht sicher, was mit ihm los ist. Das da unten ist nicht der Jarod, den Sie mal gekannt haben. Er zieht irgend eine verrückte Nummer ab. Warum, weiß ich nicht, und es kümmert mich auch nicht. Was mich betrifft, kann Raines mit ihm machen, was er will."

"Miss Parker!" Echtes Entsetzen ließ Sydneys Stimme vibrieren. "Das meinen Sie nicht ernst."

"So ernst wie das, was er zu mir gesagt hat", antwortete sie, ohne sich selbst damit zu überzeugen.

Sydney sah sie eindringlich an.

"Sie haben gesagt, daß Jarod uns etwas vorspielt?"

"Kommen Sie, Syd, das wissen Sie so gut wie ich. Ich..."

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.

"Ja?" fragte Sydney automatisch. Willie, Raines' persönlicher Sweeper, kam herein. Seine Verbände erinnerten Miss Parker unwillkürlich an Sams Schilderungen.

"Miss Parker, Mr. Raines möchte, daß Sie unverzüglich hinunter zu Jarod kommen", informierte er sie.

Sie starrte ihn an, für ein paar Sekunden sprachlos.

"Nein", stellte sie dann fest.

"Mr. Raines würde nur ungern Ihren Vater in die Sache hineinziehen."

Miss Parker holte tief Luft, besann sich aber eines besseren. Ihren Zorn an Willie zu verschwenden, war sinnlos; sie würde ihn sich lieber für Raines aufheben.

"Ich komme", sagte sie gepreßt. Was hatte Raines jetzt schon wieder vor? Und wieso wollte er, daß ausgerechnet sie zu Jarod kam?

Willie wandte sich zum Gehen, während Miss Parker mit einem trockenen Lächeln zu Sydney sah.

"Vielleicht ist Ihre Methode ja doch besser", sagte sie fast sanft. In Sydneys Blick lag eine Mischung aus Sorge und Mitgefühl. Er nickte beinahe unmerklich, und seine Lippen deuteten den Hauch eines Lächelns an.

"Vielleicht", hörte sie seine leise Antwort, als sie schon halb zur Tür hinaus war.

Der Weg zu Jarods Unterkunft kam ihr dieses Mal noch länger vor. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um die Frage, was Raines vorhatte. Aber fast noch mehr fragte sie sich, was Jarod damit zu tun haben mochte.

Es dauerte nicht lange, bis sie zum zweiten Mal vor der Tür stand, die zu Jarods Zimmer führte. Sam war nicht da; an seiner Stelle öffnete ihr einer von Raines' Sweepern die Tür.

Mit einiger Überwindung betrat sie den kleinen Raum. Hier unten war die Erinnerung an die schmerzhaften Worte viel deutlicher, der nagende Zweifel ungleich lauter. 'Was, wenn er recht hat?'

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich jetzt nicht von so etwas ablenken lassen.

"Hallo, Miss Parker."

Es war Jarod, der sie begrüßte, nicht Raines. Miss Parker durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Er saß an einem Tisch, einen selbstgerechten Ausdruck in den Augen. Jetzt, im Licht, sah er noch schlimmer aus als in der letzten Nacht.

"Wo ist Raines?" wollte sie wissen.

"Hm, nicht hier."

"Das sehe ich selbst", brachte sie mühsam beherrscht hervor. "Warum bin ich hier?"

Jarod stand auf.

"Ah, eine gute Frage. Weißt du, es ist einsam hier." Er machte eine Pause und musterte sie auf eine Weise, die sie viel zu sehr an ihr letztes Treffen erinnerte. Nach einer kleinen Ewigkeit fuhr er fort. "Raines war großzügig. Als Gegenleistung für meine Dienste als Pretender hat er mir ein paar... Vergünstigungen zugestanden."

"Und ich bin eine davon", schloß Miss Parker und lachte laut auf. "Du hast ja wohl den Verstand verloren, wenn du glaubst, daß ich mich darauf einlasse."

Der Pretender erwiderte ihren Blick mit einer Gelassenheit, die sie fast noch wütender machte als das, was er gerade gesagt hatte. Jarod neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Vielleicht interessiert es dich, daß dein Vater ein Teil meines Handels mit Raines ist."

Seine Worte reizten sie genug, um sie jegliche Vorsicht vergessen zu lassen. Voller Wut bewegte sie sich auf ihn zu. Ihre Geschwindigkeit war groß genug, um ihn von den Füßen zu reißen. Wie schon einmal prallten sie gegen die Wand gegenüber der Tür, doch diesmal war sie es, die ihn gegen den harten Stein drängte. Miss Parker preßte ihren rechten Arm gegen seine Kehle und starrte ihn zornig an.

"Nicht einmal für meinen Vater lasse ich mich auf diese Weise benutzen!" zischte sie.

"Deine Schulter", erinnerte er sie, sein Tonfall auf einmal weich. Verwirrt wich sie einen Schritt zurück, um in seine Augen zu sehen. Das seltsame Gefühl, das sie in der Nacht schon einmal gespürt hatte, kehrte zurück - und sie hatte genug davon.

"Was zum Teufel ist hier los?" fragte sie, und der eisige Unterton in ihrer Stimme machte deutlich, daß sie keine weiteren Ausflüchte akzeptieren würde. Sie sah in Jarods Augen, versuchte darin zu lesen, wie sie es als Kind so oft getan hatte.

Letzte Nacht war es dafür zu dunkel gewesen; deshalb hatte seine Scharade auch funktioniert. Denn genau das war es gewesen, das begriff Miss Parker jetzt, als sie das Mitgefühl und die stumme Bitte um Entschuldigung in seinem Blick sah.

"Jarod?"

Ihre Stimme war leise, spiegelte deutlich ihre Verwirrung wider. Nur am Rande war sie sich der Tatsache bewußt, daß sie knapp außerhalb des Erfassungsbereichs der beiden Kameras standen - anders als letzte Nacht.

Jarod sah sie noch immer an.

"Es tut mir leid", wisperte er, beinahe unhörbar leise. Dann beugte er sich vor, kam ihr dadurch wieder näher. Seine Haltung hatte nichts Drohendes, wirkte eher besänftigend. Mit der rechten Hand strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, ließ seine Fingerspitzen dann über ihre Stirn und ihre Wange gleiten. Die andere Hand legte er ganz leicht auf ihre verletzte Schulter.

Miss Parker konnte nur dastehen und ihn ansehen. Das Gefühl, daß etwas falsch lief, war verschwunden. Dieses Mal fühlte sich alles... richtig an. Sie betrachtete ihn eingehend, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, seine zerzausten Haare und den Ausdruck in seinen Augen. Etwas Verzweifeltes lag darin, so, als suche er etwas, das zwar in Sichtweite war, das er aber nicht erreichen konnte. Bevor sie sich näher mit dem Gedanken befassen konnte, spürte sie die Berührung seiner Lippen auf ihren.

Dieser Kuß diente nicht dazu, Macht oder Kontrolle zu erlangen. Jarod küßte sie sanft, zärtlich, voller Wärme. Seine Gefühle waren echt, soviel wußte Miss Parker mit Sicherheit. Trotzdem machte Jarods Verhalten für sie keinen Sinn.

Ihre Gedanken zerstoben, als Jarod den Kuß vertiefte. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten, verlor sich für einen kostbaren Moment in der wundervollen Wärme, die sie durchströmte. Dann löste sie sich von ihm, aus Angst, was sonst passieren mochte.

Miss Parker trat einen Schritt zurück und musterte den Pretender mit gefurchter Stirn. Mehrere Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber sie stellte keine davon. Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf, drehte sich dann um und ging zur Tür.

"Miss Parker."

Sie drehte sich nicht um, zögerte aber kurz, bevor sie die Hand hob und einmal kräftig an die Tür klopfte. Nur Sekunden später hatte sie den Raum verlassen. Auf ihrem Weg zurück ins Erdgeschoß des Centres hörte sie immer wieder das Geräusch, mit dem die schwere Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war.

aaaaaaaaaaaaaa

"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen etwas Gesellschaft leiste, Miss Parker?"

Es war fast Mittag, als Sydneys ruhige Stimme sie aufsehen ließ. Sie saß am Rand einer der Springbrunnen, von denen es im Eingangsbereich des Centres gleich mehrere gab. Das leise Plätschern hatte sie für eine Weile abgelenkt, und später hatte sie hin und wieder kleine Steine in das klare Wasser geworfen. Noch immer hielt sie einige in ihrer Hand.

"Sie haben ja Ihr Büro verlassen", stellte sie das Offensichtliche fest.

"Man kann sich nicht für immer einschließen. Nicht in seinem Büro, und auch nicht an dem Ort, an den Sie sich zurückgezogen haben."

Erst jetzt begegnete sie seinem Blick.

"Wie philosophisch", entgegnete sie mit einem feinen Lächeln. "Oder sollte ich sagen 'psychologisch'?"

Sie deutete auf den marmornen Rand des Springbrunnens, und Sydney folgte ihrer unausgesprochenen Einladung, ließ sich neben ihr nieder.

"Wo haben Sie Ihre Schlinge gelassen?" erkundigte er sich.

Miss Parker lächelte humorlos.

"Ich habe versucht, Jarod damit zu erwürgen", erklärte sie und wünschte sich beinahe, es wäre die Wahrheit.

Abwesend ließ sie einen weiteren Stein ins Wasser fallen. Nachdenklich betrachtete sie die winzigen Wellen, die sich auf der Oberfläche ausbreiteten. Ein weiterer Stein folgte dem ersten, erzeugte ebenfalls Wellen. Komplizierte Muster entstanden auf der Wasseroberfläche, als sich die Wellen gegenseitig verstärkten und auslöschten.

Genauso war es auch immer mit Jarod, überlegte Miss Parker. In ihrem Leben hatte sie immer die Auswirkungen seines Handelns zu spüren bekommen. Sein Tun hatte ihr Leben beeinflußt, mal stärker, mal schwächer, aber immer erkennbar.

"Was glauben Sie, was mit Jarod los ist?" erkundigte sie sich nach einer Weile bei Sydney. "Sie kennen ihn doch."

"Genau wie Sie. Vielleicht sogar nicht ganz so gut", erwiderte er nachdenklich.

Miss Parker ließ ihren Atem mit einem Seufzen entweichen.

"Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. Wenn Sie mich fragen, hat Raines ihm nicht nur Beruhigungsmittel verabreicht. So, wie er sich aufführt, würde ich viel eher auf LSD tippen."

Sydney verzog das Gesicht.

"Vielleicht haben Sie recht. Gott, wenn Raines irgend welche Experimente mit Jarod macht..."

"Beruhigen Sie sich, Syd", sagte Miss Parker. "Ich bezweifle, daß Raines ihm Schaden zufügen wird, schließlich braucht er ihn noch."

Sie schwieg, starrte nachdenklich ins Leere. Wieso verhielt sich Jarod so merkwürdig? Zuerst tat er alles, um sie zu verletzen, und beim nächsten Treffen verhielt er sich völlig gegensätzlich. Miss Parker fühlte Sydneys Blick auf sich ruhen.

"Sagen Sie mir, was er von mir will", bat sie ihn. "Ich werde nicht schlau aus ihm."

"Jarod sucht menschliche Zuwendung. Ich glaube, er vermißt Ihre Wärme."

Miss Parker lachte ungläubig.

"Ja, genau."

Sydney sah sie an, und in seinem Blick lag nichts als Ernsthaftigkeit.

"Denken Sie doch mal für einen Moment darüber nach, Miss Parker", forderte er sie auf. "Das Centre hat ihn von seiner Familie getrennt, an die er sich kaum erinnern kann. Er ist hier allein aufgewachsen - ohne Familie, und mit nur ganz wenigen Freunden. Die einzige Person, von der er jemals menschliche Wärme erfahren hat, sind Sie."

"Wenn es wirklich das ist, was er will", erwiderte sie nachdenklich, "dann kommt er ein paar Jahre zu spät. Damals waren wir doch noch Kinder. Was wußte ich schon von ihm oder dem Centre?"

'Genug', flüsterte ihre innere Stimme, als sie über Sydneys Worte nachdachte. Sie erinnerte sich an den merkwürdigen Ausdruck in Jarods Augen, kurz bevor er sie geküßt hatte. So, als würde er etwas suchen, das nah und gleichzeitig unerreichbar fern war. Konnte Sydney recht haben? Der Gedanke erschien ihr abwegig. Selbst wenn es stimmte, dann wünschte sich Jarod etwas, das nicht erfüllbar war. Er vermißte das Mädchen, das sie vor so vielen Jahren gewesen war. Aber die Zuwendung, die er von diesem Mädchen erfahren hatte, konnte er nicht von der erwachsenen Frau bekommen. Oder vielleicht doch?

"Sie haben mit mir nie darüber gesprochen, Miss Parker, deshalb kann ich nur vermuten, wie Sie Ihre Beziehung zu Jarod sehen. Aber was Jarod angeht... In den letzten drei Jahren hat er Kontakt zu Ihnen gehalten, und er hat Ihnen geholfen, mehr über sich selbst und über Ihre Vergangenheit herauszufinden. Halten Sie es nicht für möglich, daß eine Verbindung zwischen Ihnen existiert?"

Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite, betrachtete ihre Spiegelung in der Wasseroberfläche. Nach ein paar Sekunden tauchte sie ihre Hand ins Wasser, zerstörte das ruhige Bild. Angespannt sah sie auf die Wellen, während sie überlegte, was sie auf Sydneys Frage antworten sollte. Früher hatte sie hin und wieder darüber nachgedacht, aber seit Tommys Tod beschäftigten sie andere Dinge. Sie lächelte humorlos. Es war immer einfacher gewesen, nicht über Jarod nachzudenken.

"Miss Parker?"

Sydneys Tonfall veranlaßte sie, sich ihm wieder zuzuwenden. Er musterte sie kurz, dann lächelte er warm.

"Kommen Sie, ich lade Sie zum Mittagessen ein. Es wird uns beiden guttun, etwas Zeit außerhalb des Centres zu verbringen."

"Okay, warum nicht", stimmte sie zu und erwiderte das Lächeln, gerade lang genug, daß er es bemerken konnte.

aaaaaaaaaaaaaa

"...glaube ich nicht, daß Raines Jarod irgendwie dazu bewegen kann, wieder für das Centre zu arbeiten. Er wird sicher..."

Eine Weile hatte sich Miss Parker wirklich bemüht, Sydneys Ausführungen zu folgen, aber ihr gingen einfach zu viele Gedanken im Kopf herum. Zu viele Probleme verlangten ihre Aufmerksamkeit. Wieso verhielten sich plötzlich alle Leute so merkwürdig? Zuerst ihr Vater, dann Jarod, und auch Sydney schien nicht ganz er selbst zu sein. Oder lag es vielleicht an ihr? War sie diejenige, die sich anders benahm als sonst? Aber vielleicht nahm sie nur alles anders wahr als üblich.

Sie seufzte lautlos und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Syd hatte sie in eins der besseren Restaurants von Blue Cove eingeladen, und normalerweise fühlte sie sich hier sehr wohl. Im Moment allerdings hatte sie weder einen Blick für die geschmackvolle Einrichtung, noch für die eleganten Kunstwerke, die in dem großen Raum ausgestellt waren. Ihr Blick reichte ins Leere, während sie versuchte, ihre Gefühle zu analysieren oder wenigstens einige von ihnen zu benennen.

"Miss Parker?"

Überrascht sah sie auf. Erst jetzt fiel ihr auf, daß Sydney sie schon zweimal leise angesprochen hatte.

"Sie haben nicht ein Wort von dem gehört, was ich in den letzten fünf Minuten gesagt habe, habe ich recht?" erkundigte er sich, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Statt dessen klang er eher besorgt.

"Tut mir leid", antwortete Miss Parker mit gerunzelter Stirn. Es gefiel ihr selbst nicht, daß sie sich einfach nicht auf Sydney konzentrieren konnte. Normalerweise entschied sie sich aus freien Stücken dazu, jemandem nicht zuzuhören.

"Ich schätze, ich muß nur einfach mal wieder ausschlafen", erklärte sie mit einem leichten Schulterzucken. Jetzt legte auch Sydney die Stirn in Falten.

"Vermutlich wollen Sie das gar nicht hören, aber ich geben Ihnen trotzdem einen ärztlichen Rat. Ich kann sehen, wie erschöpft Sie sind. Mir ist das schon früher aufgefallen - seit Tommy gestorben ist."

"Ermordet wurde", berichtigte sie ihn scharf. Er neigte nur leicht den Kopf zur Seite.

"Wie auch immer. Bis jetzt habe ich nichts gesagt, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, selbst mit allem fertig zu werden. Schließlich weiß ich, was sie von Einmischungen halten. Aber jetzt bin ich der Meinung, daß Sie meine Hilfe annehmen sollten - oder wenigstens meinen Rat."

Miss Parker musterte ihn. Ihr war klar, daß er nur um sie besorgt war, und außerdem hatte er nicht unrecht. Sie wurde tatsächlich nur schwer mit allem fertig.

"Also, wie lautet Ihr Rat?" fragte sie sanft. Sydney erwiderte ihren Blick, wirkte gleichermaßen erstaunt und erleichtert.

"Urlaub. Machen Sie Urlaub. Lassen Sie das Centre hinter sich, wenigstens für eine Weile. Das wird besser für Sie sein, als Sie sich jetzt vielleicht vorstellen können. Wenn Sie etwas Abstand von allem gewinnen, werden Sie einiges klarer sehen."

Später fragte sie sich, ob es seine Worte oder einfach nur sein Tonfall gewesen waren, die sie überzeugt hatten. Wahrscheinlich die Kombination aus beidem. Die Idee war wirklich verlockend. Und sie wußte auch schon genau, wo sie ihren Urlaub verbringen wollte.

"Eigentlich klingt das gar nicht so übel. Mein letzter Urlaub ist schon lange her. Wenn mich mein Vater gehen läßt, dann werde ich mir ein paar Tage frei nehmen."

"Machen Sie eine ganze Woche daraus. Oder besser noch zwei", schlug Sydney enthusiastisch vor. Miss Parker hob amüsiert eine Braue.

"Wollen Sie mich loswerden?" Sie senkte die Stimme. "Lassen Sie mich raten, Sie wollen Jarod bei der Flucht aus dem Centre helfen, und dazu wollen Sie mich aus dem Weg schaffen."

Sydney lächelte schwach.

"Im Moment glaube ich nicht, daß er meine Hilfe annehmen würde", erwiderte er viel zu ernst. Miss Parker verspürte einen Stich der Mißbilligung. Das war noch etwas, das sie Jarod übelnahm. Syd hatte es von allen Menschen in Jarods Leben am wenigsten verdient, daß er ihn so behandelte. Schließlich hatte Sydney es immer nur gut gemeint.

Jetzt war es Sydney, der abwesend wirkte, aber schon nach ein paar Sekunden sah er wieder auf. Er nickte leicht in Richtung ihres Tellers, auf dem sich noch immer der größte Teil ihres Mittagessens befand.

"Mir ist aufgefallen, daß sie kaum noch etwas essen", sagte er ruhig. Mit einer sanften Bewegung legte er seine Hand auf ihre. "Sie müssen besser auf sich achten, besonders nach Ihrer Verletzung. Sonst werden Sie sich nie besser fühlen."

"In letzter Zeit glaube ich das auch häufig", erwiderte sie, und ihr Tonfall war nur halb so düster, wie sie sich fühlte.

aaaaaaaaaaaaaa

Ihr Büro wirkte merkwürdig leer, als Miss Parker am Nachmittag dorthin zurückkehrte. Sie hatte mit ihrem Vater gesprochen. Er hatte ihr gesagt, daß er sich ebenfalls Sorgen um sie machte, und daß er froh wäre, wenn sie sich etwas erholen würde. Sein Einverständnis hatte sie ein wenig überrascht, aber sie schob sein Verhalten auf die Schuldgefühle, die er offenbar noch immer hatte.

Mit einem gedankenverlorenen Lächeln schob sie die Gedanken an ihren Vater fort, wandte sich statt dessen endlich ihren Urlaubsplänen zu. Sie griff nach ihrem Handy und wählte eine Nummer, die sie zwar so gut wie nie benutzte, die ihr aber trotzdem vertraut war. Es dauerte fast eine Minute, bis sich am anderen Ende jemand meldete.

"Hallo?"

"Hallo, Ben", begrüßte sie ihn warm.

"Miss Parker! Wie schön, etwas von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen?"

Einen Moment lang war sie versucht, ihm von Tommy zu erzählen, von Major Charles, von ihrer Verletzung. Dann entschied sie sich dagegen, ihren ganzen Ballast einfach bei ihm abzuladen. Vielleicht konnte sie ihm alles persönlich erzählen.

"Es geht", erwiderte sie ausweichend. "Was ist mit Ihnen?"

"Oh, hier ist alles prächtig", antwortete Ben in seinem ruhigen Tonfall. Als er eine kurze Pause machte, versuchte sie, sich sein Gesicht vorzustellen, besonders die warmen Augen, die sie für all die Kälte entschädigten, die sie so oft bei ihrem Vater gesehen hatte. "Gibt es einen bestimmten Grund für Ihren Anruf? Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?"

Miss Parker lächelte. Bei ihm fiel es ihr leicht, ihn um etwas zu bitten.

"Das können Sie tatsächlich. Ich... würde Sie gerne für ein paar Tage besuchen, wenn Sie nichts dagegen haben. Meinen Urlaub bei Ihnen verbringen."

Gespannt wartete sie auf seine Antwort.

"Natürlich, Miss Parker, sehr gerne", sagte er sofort, und sie konnte hören, daß die Freude über ihre Bitte in seiner Stimme echt war. Doch kurz darauf schlich sich ein enttäuschter Tonfall ein. "Oh, aber das habe ich ganz vergessen. Ich muß für drei oder vier Tage wegfahren und kann das leider nicht verschieben. Können Sie nicht etwas später kommen? Es sind doch nur ein paar Tage."

Sie bemühte sich, nicht enttäuscht zu sein, aber es gelang ihr nicht.

"Das... ist schon in Ordnung", entgegnete sie, bemüht, sich nichts anhören zu lassen.

"Nein, das ist es nicht. Ich würde Sie gerne wiedersehen. Hören Sie, kommen Sie einfach her, wann immer Sie wollen. Ich werde Ihnen einen Schlüssel dalassen. Ehrlich gesagt wäre ich ganz froh, wenn jemand auf das Haus aufpassen würde, solange ich weg bin."

Miss Parker konnte beinahe sein verschmitztes Lächeln sehen.

"Okay, ich wollte ohnehin so bald wie möglich aufbrechen. Und Sie wollen mir wirklich Ihr Haus anvertrauen?"

Er lachte leise.

"Natürlich, Miss Parker. In gewisser Weise ist es ja auch Ihr Haus", erinnerte er sie sanft.

"Danke, Ben", erwiderte sie voller Wärme. "Ich freue mich schon sehr darauf, Sie wiederzusehen."

"Das tue ich auch. Fühlen Sie sich bitte ganz wie zu Hause. Bis in ein paar Tagen, Miss Parker."

"Auf Wiedersehen, Ben."

aaaaaaaaaaaaaa

Es begann schon dunkel zu werden, als Miss Parker ihren Wagen die Auffahrt zu Ben Millers Haus hinauf lenkte. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie so etwas wie Entspannung, und ihre Gedanken drehten sich ausnahmsweise nicht ums Centre.

Selbst im Zwielicht der Dämmerung sah das Haus gemütlich, fast heimisch aus. Sie parkte den Wagen, stellte den Motor aus und stieg aus dem Auto. Vom Rücksitz nahm sie ihre Reisetasche, bevor sie die Zentralverriegelung aktivierte und zum Haus ging.

Ben hatte versprochen, ihr einen Schlüssel dazulassen - leider hatte er nicht gesagt, wo er ihn versteckt hatte. Miss Parker lächelte. Sicher war er nicht zu gut versteckt, schließlich lebte Ben in einer sicheren Gegend. Eigentlich war es ja nicht einmal nötig, daß sie auf das Haus aufpaßte, aber sie freute sich über die Gelegenheit, etwas Zeit hier zu verbringen. Ihre Mutter hatte sich hier so wohl gefühlt. Möglicherweise gelang ihr das ja auch.

Nach einer kurzen Suche entdeckte sie den Schlüssel schließlich unter einem Blumentopf neben der Haustür. Mit einem Kopfschütteln nahm sie ihn an sich und schloß auf.

aaaaaaaaaaaaaa

Es war sehr viel später, als Miss Parker das nächste Mal auf die Uhr sah. Überrascht kniff sie die Augen zusammen. Schon fast halb vier Uhr morgens. Wo war die Zeit geblieben?

Trotz ihrer Müdigkeit hatte sie sich dagegen entschieden, ins Bett zu gehen und es sich statt dessen in Bens Wohnzimmer bequem gemacht. Dort saß sie jetzt auf dem Sofa, locker in eine Decke gehüllt, ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Wenn sie ehrlich war, dann konnte sie sich an kaum etwas von dem erinnern, was sie in den letzten Stunden gelesen hatte. Zu oft waren ihre Gedanken von der ohnehin nur dünnen Handlung abgeschweift.

Seufzend schloß sie das Buch und legte es vor sich auf den niedrigen Couchtisch. Das Feuer im Kamin mußte schon vor einer ganzen Weile ausgegangen sein; sie hatte es nicht einmal bemerkt. Beinahe verärgert runzelte sie die Stirn. Sie mußte endlich etwas gegen ihre Unaufmerksamkeit unternehmen. Früher oder später konnte Unachtsamkeit im Centre unangenehme Folgen haben, die meisten davon endgültiger Natur.

Miss Parker wehrte sich nicht, als ihr die Augen zufielen. Einschlafen würde sie sowieso nicht, dafür waren ihre Gedanken viel zu unruhig. Weitaus schwerer fiel es ihr, sich mit einigen dieser Gedanken auseinanderzusetzen. Besonders eine Frage beschäftigte sie, und das schon seit ihrem Gespräch mit Sydney.

Die Situation zwischen ihr und Jarod war bei ihrem ersten Treffen mehr als gespannt gewesen, und viel zu deutlich erinnerte sie sich noch an die Angst, die sie für eine Weile in ihrem lähmenden Griff gehalten hatte. Es war nicht Jarod gewesen, der ihr angst gemacht hatte, sonder vielmehr ihr eigenes Verhalten. Im Nachhinein gesehen, hatte sie sich mehr als unklug verhalten. Nicht nur, daß sie unvorsichtig gewesen war - sie hatte Jarod außerdem erlaubt, die Kontrolle zu erlangen.

Wieso hatte sie Sam nicht hereingerufen?

Diese Frage stellte sie sich immer wieder, aber bis jetzt hatte sie sich geweigert, die einzige Antwort zu akzeptieren, die ihr plausibel erschien. 'Weil du weißt, daß Jarod dir nie wehtun würde', flüsterte die leise Stimme in ihrem Hinterkopf, die sich nie völlig unterdrücken ließ.

Genau das war der springende Punkt. Bis gestern war sich Miss Parker völlig sicher gewesen, daß Jarod sie nicht absichtlich verletzen würde. Doch er hatte es getan, nicht physisch, aber emotional. Ein Teil des Schmerzes, den sie noch immer deswegen empfand, war aus ihrem verletzten Vertrauen zu Jarod entstanden. Er hatte eine Grenze überschritten und mit diesem Schritt etwas tief in ihr erschüttert.

Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihm noch immer vertraute. Was er bei ihrem nächsten Treffen gesagt und getan hatte, hatte ihre Zweifel nur verstärkt, den Schmerz nur noch weiter vertieft. Wenn doch nur...

"Ich weiß, daß du nicht schläfst."

Miss Parker riß die Augen auf, als sie die dunkle, ruhige Stimme hörte. Er konnte unmöglich hier sein. Raines hatte ihn tief unter dem Centre eingesperrt; er war absolut sicher verwahrt. Die Erleichterung, die sie erfüllte, als sie niemanden sah, war schon fast hysterisch. Natürlich war er nicht hier. Sie entspannte sich wieder. Nur einen Augenblick später spannte sie sich jedoch wieder an. Ein Geräusch ließ sie herumfahren.

Dort stand er, direkt hinter der Couch. Jarod sah noch verwahrloster aus als bei ihrer letzten Begegnung. Allein seine Augen wirkten wach und aufmerksam wie immer, musterten sie angespannt, abwartend.

"Du bist entkommen", wisperte sie, als sie sich endlich von ihrer Überraschung erholt hatte. Eine merkwürdige Mischung aus Bewunderung, Wut und Resignation breitete sich in ihr aus, machte es ihr noch schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Er zuckte mit den Schultern.

"Nichts könnte mich dazu bringen, je wieder im Centre zu leben. Ich würde alles riskieren, um das zu verhindern."

Seine Stimme hatte einen spröden Klang, der seine tiefe Erschöpfung und auch seine emotionale Anspannung verriet. Miss Parker fühlte Mitleid in sich aufsteigen und tat alles, um die ungebetene Emotion im Keim zu ersticken. Jarod hatte ihr Mitleid nicht verdient, nicht nachdem er Sydney und auch sie selbst so sehr verletzt hatte. Vorsichtig straffte sie ihre Schultern, erwiderte seinen Blick so unbewegt wie möglich.

"Dann geh. Verschwinde von hier und lauf. Ich habe dich hier nie gesehen. Du hast einen Vorsprung, bis mich das Centre offiziell über deine Flucht informiert", sagte sie entschieden.

Sein Blick ruhte noch immer auf ihr, als er den Kopf zur Seite neigte. Er schien ihr Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

"Deswegen bin ich nicht hergekommen", erwiderte er schließlich.

"Das ist mir egal", fuhr sie auf. "Ich habe es satt. Drei Jahre habe ich damit verschwendet, dich zu jagen. Jetzt ist Schluß damit! Ich will, daß du gehst. Ich will, daß du mich in Ruhe läßt. Und ich will dich nie wiedersehen."

Die Härte in ihrer Stimme erstaunte sie fast selbst. Sie benutzte ihre Worte, um ihm damit so weh zu tun, wie er es mit der einen Äußerung getan hatte, die noch immer zwischen ihnen stand.

"Das meinst du nicht ernst", sagte Jarod sehr sanft. Der verletzliche Ausdruck in seinen Augen verlieh seinen Worten eine unerwartete Tiefe.

Miss Parker lachte leise auf, aber es klang nicht im mindesten amüsiert.

"Komisch, plötzlich scheint jeder außer mir selbst besser zu wissen, was ich empfinde und denke." Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, sich mit ihm auf eine Unterhaltung einzulassen, aber sie hatte Angst vor dem Schmerz, den Jarod in ihr zu erwecken vermochte.

"Geh jetzt", sagte sie einfach.

"Ich kann nicht", entgegnete er. "Noch nicht."

Sie spürte, daß ihre Geduld bald zur Neige gehen würde - und dann war da noch der Schmerz, der irgendwo in ihr lauerte, stark genug, um sie zu zerstören. Ihr fiel nur eine wirksame Waffe dagegen ein; dieselbe, die sie seit Jarods erster Flucht vor drei Jahren immer wieder benutzt hatte.

"Verschwinde", zischte sie verärgert, verwendete ihre Wut als Schutz gegen ihn.

Überrascht registrierte sie, wie auch Jarods Gesicht für einen Moment einen wütenden Ausdruck annahm.

"Verdammt! Ich bin nur hier, um mich bei dir zu entschuldigen! Wieso kannst du mir nicht einfach für einen Augenblick zuhören?" fuhr er auf. Nur Sekunden später schien er seinen Ausbruch bereits wieder zu bereuen.

Miss Parker musterte ihn lange, während sie überlegte, was sie tun sollte. Der Gedanke, von ihm eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten zu bekommen, war durchaus verlockend. Aber das hier war Jarod; sie konnte also nicht sicher sein, was er wirklich vorhatte. Schließlich gab sie ihre Vorsicht auf und entschied, ihm wenigstens zuzuhören. Nur ein winziger Teil von ihr war erstaunt darüber, daß sie ihm noch immer vertraute.

"Okay, ich werde dir zuhören", sagte sie mit einem Seufzen. "Wenn du mir schwörst, daß du mich dann endlich in Ruhe lassen wirst."

Er sah sie mit einem undeutbaren Ausdruck in den Augen an.

"Wenn du darauf bestehst", meinte er dann mit einem Schulterzucken. Jarod ging zu einem der Sessel, die zu beiden Seiten des Kamins standen, und setzte sich auf die Lehne. Nur für einen Sekundenbruchteil glitt sein Blick von ihr fort, ruhte kurz auf seinen Händen. Dann sah er ihr wieder in die Augen.

Miss Parker hielt unwillkürlich den Atem an. Mehr denn je wirkte er plötzlich wieder wie ein kleiner Junge, sah verloren, beinahe hilflos aus.

"Es tut mir wirklich leid", begann er leise, und in seiner Stimme vibrierte echter Schmerz. "Was in den letzten Tagen passiert ist... Ich hätte das nie tun dürfen - aber ich habe keinen anderen Weg mehr gesehen."

"Verrätst du mir vielleicht auch, was du meinst?" erkundigte sich Miss Parker und stellte leicht verblüfft fest, daß ihre Stimme sanft, fast weich klang. Eigentlich hatte sie ihre Frage in einem schneidenden Tonfall stellen wollen.

Jarod schloß ganz kurz die Augen, bevor er weiter sprach.

"Ich... hätte das nie sagen dürfen. Vor allem, weil ich es nicht so gemeint habe, aber auch, weil ich wußte, wie weh ich dir damit tun würde."

"Du kannst mir nicht weh tun. Niemand kann das, weil ich es nicht zulasse", stellte sie fest, aber sie wußten beide, daß es nicht stimmte. Einen Herzschlag lang lächelte er traurig.

"Es tut mir leid", wiederholte er. "Leider kann ich nicht ungeschehen machen, was ich gesagt habe, aber vielleicht läßt du es mich wiedergutmachen."

Noch einmal schweifte sein Blick fort von ihr, länger diesmal. Er schluckte schwer und schien mit sich zu ringen. Schließlich sah er sie doch wieder an.

"Ich möchte mich auch für das entschuldigen, was ich getan habe", erklärte er sehr sanft.

Miss Parker sah ihn nur fragend an, auch wenn sie ahnte, worauf er hinauswollte.

"Thomas ist erst seit kurzem tot. Ich hätte nicht... hätte mich dir nicht auf diese Weise nähern dürfen", brachte er hervor. Es klang fast so, als wäre er erleichtert, daß er es endlich ausgesprochen hatte. Die ganze Sache mußte ihn also ebenfalls belastet haben. Diese Erkenntnis erleichterte Miss Parker mehr, als sie erwartet hätte.

"Du sprichst von deinem Angriff auf mich?" hakte sie nach.

"Nein! Ja..." Verwirrung zeichnete sich für einen Moment in seinen Zügen ab, vermischt mit Verlegenheit. "Du weißt, was ich meine. Der Kuß..."

"Ja", erwiderte Miss Parker leise, nachdenklich. Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, und sie sprach ihn aus, ohne lange darüber nachzudenken. "Welcher Kuß tut dir leid?" fragte sie ihn, hauptsächlich aus Neugier.

Er zögerte recht lange, bevor er ihre Frage beantwortete.

"Beide", sagte er dann. "Aber nicht beide auf dieselbe Weise."

Erst jetzt bemerkte Miss Parker, daß sie sich angespannt nach vorne gebeugt hatte. Ihre verletzte Schulter brachte sich schmerzhaft in Erinnerung, deshalb lehnte sie sich wieder zurück, versuchte bewußt, sich zu entspannen.

"Nicht auf dieselbe Weise?"

Jarod nickte langsam, wirkte jetzt nicht mehr verlegen, sondern eher erleichtert darüber, daß sie versuchte, ihn zu verstehen. Er atmete tief ein und wieder aus, schien ebenfalls zu versuchen, sich zu entspannen.

"Als du gestern nacht zu mir gekommen bist... Ich wußte, daß du es bist, von der Sekunde an, als du den Raum betreten hast."

"Der Angriff war also geplant", folgerte sie. "Soweit verstehe ich dich ja noch. Aber was ist mit dem Rest? Warum der Kuß?"

"Ich... bin nicht sicher", erwiderte er ausweichend.

"Jarod."

Angespannt ließ er seinen Atem entweichen.

"Kontrolle", sagte er. "Ich wollte die Kontrolle, wenigstens über diese eine Situation. Aber... ich war nicht ich selbst."

"Ich weiß."

Miss Parker gab sich für den Moment mit seiner Erklärung zufrieden, aber sie war sich fast sicher, daß noch mehr dahintersteckte. Die Tatsache, daß seine Erklärung sich weitgehend mit ihren Vermutungen deckte, ließ sie glauben, daß er ihr nur das erzählte, was sie hören wollte. Aus irgend einem Grund verschwieg er ihr seine wahren Beweggründe.

Und was das zweite Treffen anging... Da war Jarod er selbst gewesen, hatte nicht seine besonderen Talente benutzt. Was das anging, war sie absolut sicher. Bevor sie ihm eine entsprechende Frage stellen konnte, fuhr er von sich aus fort.

"Ich habe die ganze Nacht über das nachgedacht, was ich gesagt und getan hatte. Ein Teil von mir war noch immer überzeugt davon, daß ich dich auf diese Weise beeinflussen könnte, deshalb habe ich mit Raines einen Handel abgeschlossen. Ich wollte, daß er dich zu mir schickt. Aber als ich dich dann gesehen habe..." Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. "Mir ist klar geworden, daß ich einen Fehler gemacht habe", schloß er dann.

Miss Parker schwieg, dachte über seine Worte nach. Trotz der ehrlichen Absicht, die hinter seinen Worten steckte, fühlte sie plötzlich Wut in sich aufwallen. Was er über Tommy - und damit auch über sie - gesagt hatte, hatte sie sehr verletzt. Außerdem hatte er ihr Vertrauen in ihn schwer erschüttert, und diese Tatsache schmerzte sie fast noch mehr.

"Verdammt, Jarod!" platzte es aus ihr heraus. "Denkst du vielleicht, mein Schmerz wäre nicht groß genug? Denkst du, ich brauche dich, um alles noch schlimmer zu machen? Um mir wehzutun?"

Sie hatte nichts davon sagen wollen, aber der Druck ihrer Gefühle war einfach zu groß. Ihr war egal, daß sie sich gerade selbst widersprochen hatte, daß sie zugegeben hatte, wie sehr er sie verletzt hatte. Auch wenn sie in den letzten Jahren auf zwei verschiedenen Seiten gestanden hatte, so hatte sie doch immer gewußt, daß sie ihm vertrauen konnte. In der letzten Nacht hatte er ihr diese einzige Gewißheit in ihrem Leben weggenommen, und plötzlich fühlte sie sich so hilflos und verraten wie zuletzt nach dem Tod ihrer Mutter.

Jarod sah sie betroffen an.

"Bitte entschuldige, Parker", wisperte er und stand auf, um zu ihr zu kommen. Aber Miss Parker hielt ihn auf Distanz, sowohl mit einer abwehrenden Geste, als auch mit ihrem Blick. Sie schüttelte den Kopf, versuchte auf diese Weise, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Es gelang ihr nicht annähernd so gut, wie sie gehofft hatte, aber es mußte genügen.

Miss Parker beschloß, das Thema zu wechseln, um sich damit etwas Zeit zu verschaffen.

"Was sollte die Sache mit Sydney?" wollte sie wissen. Ihr Blick ging ins Leere, doch ihre Aufmerksamkeit ruhte trotzdem auf Jarod. Der Pretender seufzte leise.

"Ich wollte nicht mit ihm reden", entgegnete er schlicht.

"Das hat er mir auch erzählt. Die Frage ist nur: warum nicht?"

"Weil..." Er zögerte nur kurz, aber sein Tonfall veranlaßte sie, ihn wieder anzusehen. "Weil ich Angst hatte, daß ich ihn vielleicht auch verletzen könnte. Unsere Beziehung hat sich verändert, seit..."

"Seit du deinen Vater getroffen hast", beendete sie den Satz für ihn. Es fiel ihr nicht schwer, Jarod in dieser Beziehung zu verstehen. Sein ganzes Leben lang war Sydney eine Art Ersatzvater für ihn gewesen, der ihm allerdings so gut wie nie irgend welche Gefühle gezeigt hatte. Jetzt, wo er seinem richtigen Vater begegnet war, hatte sich Jarods Beziehung zu Sydney verändert. Er brauchte Sydney nun nicht mehr auf dieselbe Weise wie früher. Auch wenn sich diese Veränderung schon länger abgezeichnet hatte, war die aktuelle Situation für keinen von ihnen leicht.

Jarod nickte und ein zögerliches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.

"Es ist schon erstaunlich", sagte er, und Miss Parker glaubte, einen Hauch von Belustigung in seiner Stimme zu hören. "Wenn du dir nur etwas Mühe gibst, kannst du mich besser verstehen als jeder andere Mensch. Trotzdem hast du es nicht geschafft, mich ins Centre zurückzubringen."

Miss Parker konnte nicht anders - sie lächelte leicht, wußte sie doch, wieviel Wahrheit Jarods scherzhafte Worte enthielten.

"Wer sagt denn, daß ich versucht habe, dich zu verstehen?" erwiderte sie und stand auf, um ans Fenster zu gehen. Von dort konnte man fast den ganzen See überblicken. Als sie hinaussah, stellte sie erstaunt fest, daß auf der anderen Seite des Sees bereits die Sonne aufging. Für einen Moment vergaß sie Jarod und die widerstreitenden Gefühle, die er in ihr weckte, ließ sich einfach von der Schönheit des Augenblicks gefangennehmen.

Sie verließ das Wohnzimmer und trat hinaus auf die Veranda, wo sie sich leicht gegen das Geländer lehnte. Die ersten Strahlen der Sonne tauchten die Landschaft in goldenes Licht, tasteten sanft über ihr Gesicht und wärmten ihre Haut. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie, wusch für einen kostbaren Augenblick alles andere fort. Nur die Erinnerung an ihre Mutter begleitete dieses Gefühl, doch damit kehrten auch die Zweifel wieder zurück.

"Deine Mutter muß hier sehr glücklich gewesen sein", sagte Jarod plötzlich neben ihr, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

"Ich hoffe es", erwiderte sie beinahe unhörbar leise. Sein wortloses Verständnis tat ihr gut, auch wenn sie sich das lange nicht eingestanden hatte. Nur einen Herzschlag später spürte sie, wie er seine Hand leicht auf ihre unverletzte Schulter legte.

"Ich bin nicht nur hergekommen, um mich zu entschuldigen."

"Ach nein?"

Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Nein. Ich wollte mich auch davon überzeugen, daß es dir besser geht. Von Angelo habe ich nicht allzu viel erfahren."

"Angelo?"

Sie drehte sich überrascht zu ihm um und verspürte kurzes Bedauern, als er seine Hand wieder von ihr zurückzog. Er hatte sie immer auf eine besondere Weise berührt, respektvoll, sanft und... Nein, sie war noch nicht bereit, die Emotion zu benennen, die sie mit seiner Berührung verband.

"Nicht lange, nachdem Raines mich ins Centre zurückgebracht hatte, hat Angelo mich besucht. Er hat mich mit Informationen versorgt. Wenn ich ihn nach dir gefragt habe, hat er immer nur gesagt 'Miss Parker hat Schmerzen'. Ich war nicht ganz sicher, wie er das gemeint hat."

"Du hast ihn nach mir gefragt?"

Jarod lachte leise auf.

"Komm schon, Parker. Hast du nicht auch langsam genug von diesem Versteckspiel? Wieso sind wir zur Abwechslung nicht einfach mal ehrlich zueinander?"

Miss Parker sah ihn kurz an, versuchte, in seinen dunklen Augen zu lesen.

"Du fängst an", meinte sie, gespannt, was er ihr zu sagen hatte. Sie wandte sich ihm ganz zu und musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht.

"Ich weiß nicht, wie es in Zukunft weitergehen wird", begann Jarod. "Aber du sollst wissen, daß du in mir immer einen Freund haben wirst. In der Vergangenheit habe ich versucht, dir so gut zu helfen, wie ich es konnte, und das werde ich auch weiterhin tun. Wenn du mich brauchst, werde ich immer für dich da sein."

"Jarod, ich..."

Er schüttelte den Kopf.

"Daraus ergeben sich keine Verpflichtungen für dich. Ich erwarte keine Gegenleistung von dir. Mir ist klar, daß du für das Centre arbeitest, aber..."

Jarod streckte ihr seine Hand entgegen.

"Freunde?" fragte er in einem Tonfall, der jede Ablehnung in ihr im Keim erstickte. Warum eigentlich nicht? Sie ergriff seine Hand und drückte sie, fühlte die angenehm sanfte Berührung seiner warmen Finger.

"In Ordnung. Ich bin allerdings nicht überzeugt davon, daß das funktionieren wird. Wir sind einfach zu verschieden."

"Abwarten, Miss Parker. Abwarten", erwiderte mit einer Zuversicht, die sie gerne geteilt hätte. Beinahe widerwillig lies sie seine Hand wieder los und drehte sich wieder so, daß sie den See und die aufgehende Sonne im Blick hatte. Mit Jarod an ihrer Seite betrachtete sie den Sonnenaufgang über dem Lake Catherine, erfüllt von einer Wärme, die nichts mit der Sonne auf ihrer Haut zu tun hatte.


Ende?



Ich möchte mich an dieser Stelle bei Nicolette bedanken und hoffe, daß sich ihre Idee von einer Sammlung mit deutschen Pretender-Fanfics verwirklichen läßt!
Part 2 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.

Ein kleiner Hinweis in eigener Sache: Kostbare Momente ist die letzte Geschichte, die ich auf Deutsch schreiben werde – es sei denn, irgend jemand da draußen protestiert dagegen...

Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel.

Zur Handlung: Miss Parker muß eine schwierige Entscheidung treffen...




Kostbare Momente
Teil 2

von Miss Bit






"Was wirst du jetzt tun?" erkundigte sich Miss Parker nachdenklich, nachdem sie eine ganze Weile schweigend die aufgehende Sonne betrachtet hatte. Als Jarod nach einer Minute noch nichts darauf erwidert hatte, drehte sie sich zu ihm um – um überrascht festzustellen, daß er gar nicht mehr da war.

Es irritierte sie ein wenig, daß sie sein Verschwinden nicht bemerkt hatte, aber ein Teil von ihr war auch froh, daß er fort war. Auf diese Weise hatte sie etwas Zeit für sich, konnte in Ruhe über alles nachdenken.

"Nervensäge", murmelte sie lächelnd, während sie einen letzten Blick auf den glitzernden See warf. Dann ging sie zurück ins Haus, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf nachzuholen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Gegen Mittag wurde Miss Parker von leisen Geräuschen aus ihrem leichten Schlaf geweckt. Unwillig öffnete sie die Augen und lauschte angestrengt. Was sie hörte, schien aus der Ferne zu kommen, vermutlich aus dem Erdgeschoß. Zuerst vernahm sie ein kurzes Rumpeln, dann ein gedämpftes Klappern und schließlich eine verärgert klingende Stimme. Obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte, war sie sich doch ziemlich sicher, daß jemand seinem Ärger Luft machte.

Nach einem kurzen Zögern entschloß sie sich, nach dem Rechten zu sehen. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, daß ein Einbrecher sich so ungeschickt anstellte, aber es konnte nicht schaden, der Sache auf den Grund zu gehen. Schließlich hatte Ben sie gebeten, auf sein Haus zu achten.

Sie zog sich ihren Morgenmantel über, zog ihre Waffe aus der Reisetasche und machte sich auf den Weg nach unten. Leise stieg sie die Treppe herunter und hielt inne, als sie die Stimme erneut hörte. Miss Parker lächelte – sie kannte diese Stimme. Hastig kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um ihre Waffe wegzulegen, dann ging sie nach unten in die Küche. Wortlos blieb sie in der Tür stehen, lehnte sich an den Rahmen.

Die Küche bot ein Bild der Verwüstung. Einer der Stühle war umgefallen; direkt daneben lag ein kleiner Koffer, dessen Inhalt nun teilweise den Boden bedeckte. Mehrere der Töpfe, die normalerweise neben der Hintertür an der Wand hingen, waren heruntergefallen und lagen überall auf dem Boden verstreut. Ben stand mitten in dem Chaos und hatte Miss Parker den Rücken zugewandt. Sie unterdrückte ein amüsiertes Lächeln.

"Willkommen zu Hause, Ben", sagte sie herzlich, und er fuhr erstaunlich schnell herum. Sein Gesichtsausdruck änderte sich übergangslos von verärgert zu erfreut, als er sie sah. "Kann ich Ihnen vielleicht beim Aufräumen helfen?"

"Miss Parker!"

Er kam zu ihr und musterte sie für einen Sekundenbruchteil unschlüssig, dann schloß er sie in seine Arme, drückte sie kurz an sich, bevor er sie wieder losließ und einen Schritt zurücktrat. Erst jetzt schien er zu bemerken, daß sie nur einen Morgenmantel und darunter ihren Pyjama trug.

"Oh, habe ich Sie geweckt? Das tut mir leid."

"Ist schon gut", erwiderte sie sofort. "Ich wäre sowieso bald aufgestanden. Was ist hier passiert?"

Ben lächelte verschmitzt. "Nur eine kleine... Ungeschicklichkeit meinerseits."
Einen Moment lang schwieg er, sah sie nur an, und sie glaubte, Besorgnis in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

"Möchten Sie vielleicht etwas essen?" fragte er dann, nichts als Wärme und Herzlichkeit in seinem Blick. Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite, während sie überlegte.

"Gerne", nahm sie sein Angebot an. "Ich will nur kurz duschen und mich umziehen."

"In Ordnung. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich muß ohnehin erst mal hier aufräumen", erklärte er mit einem gutmütigen Zwinkern. Sie lächelte ihn warm an, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte und kurz darauf im Badezimmer verschwand.

Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in Bens gemütlicher, kleiner Küche. Miss Parker hatte des Essen sehr genossen, besonders wegen Bens unaufdringlicher Gesellschaft. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl und konnte das Centre lang genug vergessen, um sich zu entspannen. Wie gut ihr das tat, spürte sie besonders an ihrer verletzten Schulter, die zum ersten Mal seit Tagen nicht mehr schmerzte, obwohl sie keine Schmerztablette genommen hatte.

"Geht es Ihnen gut?"

Ben hatte sich besorgt vorgebeugt, sah sie fragend an. Sie runzelte erstaunt die Stirn, dann erinnerte sie sich daran, wie gut er ihre Mutter gekannt hatte. Vermutlich fiel es ihm nicht allzu schwer, zu erahnen, was sie beschäftigte – oder ob sie etwas belastete. Miss Parker seufzte leise. Es gab einiges, was sie Ben gerne erzählt hätte, aber hatte sie das Recht, ihn damit zu belasten?

"Ja. Ja... ich..." Ihr fiel selbst auf, wie unaufrichtig ihre Antwort klang. Mit einem langgezogenen Seufzen schüttelte sie den Kopf.

"Ich will Ihnen nicht meine Probleme aufdrängen", erklärte sie und sah Ben fest an. Er erwiderte ihren Blick voller Mitgefühl, dann lächelte er warm und griff nach ihrer Hand.

"Miss Parker, ich bin sehr froh, Sie wiederzusehen. Aber ich kann sehen, daß Sie mit Ihren Gedanken ganz woanders sind. Sie können mir alles erzählen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen. Ich wäre froh, wenn ich Ihnen helfen könnte."

"Vielen Dank, Ben."

Sie drückte seine Hand und fühlte sich erleichtert, allein schon durch seine verständnisvolle Reaktion.

"Es ist einiges passiert, seit meinem letzten Besuch bei Ihnen..."

aaaaaaaaaaaaaaaa

Drei Tage später saß Miss Parker auf der Veranda. Ihr Blick ruhte auf dem See, in dem sich die untergehende Sonne spiegelte.

"Ich dachte, Sie wären hier, um mich zu besuchen", ertönte auf einmal Bens leise, amüsiert klingende Stimme von der Tür her. "Und jetzt sitzen Sie schon wieder allein hier draußen."

Miss Parker wandte sich halb zu Ben um und nickte in die ungefähre Richtung der Sonne.

"Es ist so friedlich hier. Ich kann mir keinen besseren Platz vorstellen, um sich einen Sonnenuntergang anzusehen", erklärte sie. Ben lächelte.

"Ihre Mutter hat oft hier gesessen. Sie konnte stundenlang auf den See hinaussehen."

Einen Moment lang nahm sein Gesicht einen gedankenverlorenen Ausdruck an, dann kehrte seine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück und ein Lächeln vertrieb die Sorge aus seinen Augen.

"Wissen Sie, Miss Parker", sagte er nachdenklich, "als Ihre Mutter nicht mehr wiedergekehrt ist, wußte ich sofort, daß etwas nicht stimmt. Mir war klar, daß ich sie nie wiedersehen würde. In den darauffolgenden Jahren war mein Leben lange nur von einem Gefühl der Trauer bestimmt, und ich habe viel gegrübelt. Eins habe ich in dieser Zeit gelernt – man sollte nicht zuviel nachdenken. Manchmal ist besser, einfach nur zu leben."

Miss Parker erwiderte Bens Blick, während sie über seine Worte nachdachte. Ihr war klar, was er ihr damit sagen wollte. In den letzen beiden Tagen hatten sie viel über Tommy und über den Schmerz gesprochen, den sein Tod bei ihr verursacht hatte. Ben hatte diese Erfahrung ebenfalls gemacht und nun wollte er sie an dem teilhaben lassen, was er daraus gelernt hatte. Es hatte ihr gut getan, endlich mit jemandem zu sprechen, der wirklich verstand, wie sie sich fühlte.

"Das sind weise Worte, Ben", erwiderte sie schließlich leise. "Aber im Moment bin ich noch nicht ganz sicher, ob ich danach leben kann."

Ben legte ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter.

"Ich verstehe", sagte er nur. "Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen später einige Fotos Ihrer Mutter. Sie wissen ja, wo Sie mich finden."

Als er sich umdrehte, um ins Haus zurückzukehren, griff Miss Parker nach seiner Hand und drückte sie leicht.

"Vielen Dank, Ben. Das würde ich sehr gerne tun. Ich komme gleich nach."

"In Ordnung, Miss Parker", antwortete Ben voller Wärme, dann ging er zurück ins Haus.

Miss Parker stand auf und streckte sich, stand einen langen Augenblick unschlüssig auf der Veranda, dann entschied sie sich, noch einen kurzen Abstecher hinunter zum See zu machen, bevor sie wieder hineinging, um Ben Gesellschaft zu leisten.

Sie folgte dem kleinen, gewundenen Pfad, der bis zum See und ein Stück am Ufer entlang führte. Ihre Mutter mußte oft hier entlang gegangen sein. Ob es für Ben wohl schwer war, nun sie statt Catherine hier zu sehen? Bisher hatte sie sich das nie gefragt, aber nach ihren vielen Gesprächen in den letzten Tagen war Miss Parker bewußt geworden, wie sehr Ben ihre Mutter noch immer vermißte.

Aber im Gegensatz zu ihr hatte er es geschafft, mit dem Schmerz zu leben, dem Leben auch wieder positive Seiten abzugewinnen. Plötzlich fiel ihr wieder etwas ein, das Ben gestern zu ihr gesagt und das sie sehr beeindruckt hatte. 'Der Schmerz über den Verlust Ihrer Mutter hat mich fast erstickt. Ich habe viel zu lange gebraucht, um festzustellen, daß sie nicht wirklich fort ist. Auch wenn ich sie nie wiedersehen werde, so bleiben mir doch immer noch die Erinnerungen an all die schönen Dinge, die wir geteilt und zusammen erlebt haben. Es mag für Sie jetzt unbegreiflich klingen, Miss Parker, aber diese Erkenntnis hat mir sehr dabei geholfen, meinem Leben wieder eine positive Richtung zu geben.'

Bens Worte gingen ihr noch immer durch den Kopf, als sie sich auf eine kleine Bank am Seeufer setzte. Urplötzlich erschien ein Bild von Tommy vor ihrem inneren Auge, aber anders als in den letzten Wochen versuchte sie nicht, es zu verscheuchen. Sie hielt es fest, erfreute sich an der Wärme, mit der es sie erfüllte. Mit einem Mal verstand sie, was Ben ihr die ganze Zeit zu sagen versuchte. Tommy würde immer ein Teil von ihr sein, weil er ihr ein einzigartiges Geschenk gemacht hatte. Durch ihn hatte sie den Teil von sich selbst wiedergefunden, den sie vor so vielen Jahren verloren hatte. Der Teil, den sie immer versteckt hatte, sogar vor sich selbst, und der sie ihrer Mutter ähnlicher machte als sie je zu hoffen gewagt hatte.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, spiegelte die Wärme wider, die sie in diesem Moment empfand. Miss Parker schloß die Augen und konzentrierte sich auf das Bild von Tommy, das ihr nun Trost spendete und sie nicht mehr mit Trauer erfüllte.

"Danke, Tommy", wisperte sie und ließ einen großen Teil des Schmerzes los. Es war noch immer schlimm für sie, daß er nicht mehr da war, aber jetzt hinderte ihr Schmerz sie nicht mehr daran, sich an der Erinnerung an Tommy zu erfreuen.

Nach einer Weile öffnete Miss Parker die Augen wieder und erhob sich. Für einen langen Moment starrte sie noch auf den See hinaus, dann machte sie sich auf den Rückweg zu Bens Pension.

Sie hatte gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt, als auf einmal ihr Handy klingelte. Überrascht zog sie es aus ihrer Tasche und aktivierte die Verbindung. Ihr Vater hatte ihr versprochen, daß sie während ihres Urlaubs ganz ungestört sein würde. Andererseits hatte sie sich bisher nie wirklich auf seine Versprechungen verlassen können, dachte sie in einem Anflug von Bitterkeit.

"Ja?" fragte sie und schüttelte leicht verärgert über sich selbst den Kopf. Es war ihr nicht einmal für eine Sekunde in den Sinn gekommen, das Telefon einfach klingeln zu lassen.

"Miss Parker?"

Broots' Stimme, und sein Tonfall weckte eine dunkle Ahnung in Miss Parker.

"Ja, ich bin's", entgegnete sie knapp. Beunruhigt runzelte sie die Stirn, als sie kurz darauf auch noch Sydneys Stimme hörte.

"Wir stören Sie wirklich nur ungern, Miss Parker, aber es ist sehr wichtig."

"Was ist los?"

"Sie müssen sofort zurück ins Centre kommen!" flüsterte Broots drängend. Sydney fügte etwas lauter, aber nicht weniger beschwörend hinzu: "Es geht um Major Charles. Und, was noch wichtiger für Sie sein dürfte, um den Mörder von Thomas Gates."

Die Neuigkeiten verschlugen ihr für ein paar Sekunden die Sprache.

"Was zum Teufel ist bei Ihnen eigentlich los?" wollte sie dann wissen, erfüllt von einer Mischung aus Verwirrung und dem Instinkt, sofort mit der Jagd nach Tommys Mörder zu beginnen.

"Wir können Ihnen übers Telefon nicht mehr sagen", erklärte Sydney. "Raines hat..."

Er unterbrach sich, und Miss Parker hörte Schritte im Hintergrund, dann Lyles unverwechselbare Stimme.

"Schon was Neues von Jarod? Mit wem telefonieren Sie da?"

"Uh – mit niemandem", sprudelte Broots hastig hervor und unterbrach dann die Verbindung. Miss Parker starrte auf ihr Handy. Auch wenn sie nur wenige Informationen hatte – sie würde auf Broots und Sydney hören. Schon allein deshalb, weil ihre Besorgnis sie dazu drängte.

Mit eiligen Schritten kehrte sie zum Haus zurück, um Ben Bescheid zu sagen und ihre wenigen Sachen zu packen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Ostvadt
Grönland
17:23

Der Schnee knisterte leise unter Jarods Stiefeln, als er in Gedanken versunken über die verlassen wirkende Hauptstraße des kleinen Ortes ging. Um diese Zeit waren die meisten Einheimischen schon zu Hause und die wenigen, die es nicht waren, beeilten sich nun, dorthin zu kommen. Ein Sturm lag in der Luft, und Jarod war sich absolut sicher, daß sie mindestens für einen Tag, wenn nicht sogar länger, von der Außenwelt abgeschnitten sein würden.

Er ging schneller, hielt direkt auf das kleine Haus zu, das ihm die Firma, für die er hier arbeitete, zur Verfügung gestellt hatte. Seine Finger schlossen sich fester um das Notizbuch, das er in der rechten Hand hielt. Trotz der dicken Handschuhe, die er trug, hatte er kaum noch Gefühl in den Fingerspitzen.

Als er hier angekommen war, hatte es ihm nichts ausgemacht, daß sein Haus etwas außerhalb lag. Doch jetzt, als er sich durch das dichte Schneetreiben kämpfte, wünschte er sich, er würde etwas näher an seinem Arbeitsplatz wohnen. Endlich erreichte er das Haus und schüttelte sich, um wenigstens einen Teil des Schnees von seiner Kleidung zu lösen. Dann schlug er die fellbesetzte Kapuze seiner dunklen Thermojacke zurück und zog widerstrebend einen seiner Handschuhe aus, um die Tür aufzuschließen.

Nach ein paar Sekunden schaffte er es, die Tür zu öffnen und hastete fröstelnd nach drinnen. Erleichtert genoß er für einen Moment die angenehme Wärme, bevor er schließlich den anderen Handschuh, seine Jacke und die Stiefel auszog. Mit dem Notizbuch in der Hand ging er in die Küche, um eine heiße Schokolade zu trinken, während er seine nächsten Schritte überdachte.

Ein paar Minuten später saß er am Küchentisch, versunken in seine Gedanken. Bisher hatte er weder eine Spur von seinem Vater noch von dem Klon gefunden, obwohl er seit seiner erneuten Flucht aus dem Centre unermüdlich nach den beiden gesucht hatte. Jarod war deswegen ziemlich beunruhigt. Bestimmt versuchte sein Vater ebenfalls, ihn zu finden, doch trotzdem hatten sie bis jetzt noch nichts voneinander gehört. Aber wahrscheinlich glaubte Major Charles, daß Jarod noch immer im Centre gefangen gehalten wurde; und natürlich war es für ihn im Moment unmöglich, auch nur in die Nähe des Centres zu kommen.

Mit einem lautlosen Seufzen wandte sich Jarod dem Notizbuch zu, das vor ihm auf dem Tisch lag. Vor ein paar Tagen war er bei seinen Nachforschungen zufällig auf etwas gestoßen, das sein Interesse geweckt hatte. Trotz seines Wunsches, so bald wie möglich seinen Vater wiederzusehen, hatte er sich entschlossen, sich der Sache anzunehmen.

Er schlug das Buch auf, überflog die drei Zeitungsartikel, die er hineingeklebt hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war lange her, seit er so ein Notizbuch angelegt hatte. Nur einen Herzschlag später wurde er wieder ernst, als er erneut den letzten Artikel las. Darin ging es um eine Ölfirma, die nur etwa zwei Meilen entfernt von der Stadt ein neues Vorkommen entdeckt hatte. Nach mehreren Untersuchungen durch örtliche Behörden war schließlich eine Bohrgenehmigung erteilt worden. Doch kurz nach Beginn der Arbeiten waren mehrere Männer unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, und Jarod war hergekommen, um herauszufinden, was hier passiert war.

Er hatte sich von der Firma als Umweltexperte engagieren lassen. Gemeinsam mit dem Sicherheitsexperten hatte er dann die ganze häßliche Geschichte aufgedeckt. Bei dem Gedanken an die Kaltblütigkeit der Morde verzog Jarod verärgert das Gesicht. Trotz allem, was er bisher erlebt hatte und trotz seiner Fähigkeiten als Pretender war er doch nicht in der Lage, so etwas nachzuvollziehen.

Gewaltsam verdrängte er diesen Gedanken, starrte statt dessen auf das Notizbuch herab. Was sollte er damit machen? Noch vor einem Jahr hätte er sich das nicht gefragt. Vor einem Jahr hätte er es zurückgelassen, als ein 'Geschenk' für Miss Parker, als kleine Erinnerung daran, daß das Centre nicht länger sein Leben kontrollierte.

Miss Parker.

Sein schlechtes Gewissen plagte ihn noch immer wegen ihr. Er würde alles dafür geben, die Worte zurückzunehmen, die sie so sehr verletzt hatten, und von denen er fürchtete, daß sie in Zukunft mehr als alles andere zwischen ihnen stehen würden. Und dann der Kuß. Den Kuß wollte er nicht rückgängig machen, wenigstens nicht den zweiten. Was den ersten anging, war er sich da nicht so sicher.

Ein leises Piepsen unterbrach seine Grübeleien. Für einen Moment sah sich Jarod verwirrt um, dann identifizierte er das Geräusch. Er stand auf, um nach seinem Laptop zu sehen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Das Centre
Blue Cove, Delaware
18:07

Obwohl sie eine lange Fahrt hinter sich hatte, war Miss Parker direkt zum Centre gefahren. In Gedanken war sie noch immer in Maine, voller Bedauern darüber, daß sie nicht mehr Zeit mit Ben hatte verbringen können.

Entschlossen schüttelte sie diese Überlegungen für den Moment ab und versuchte statt dessen, sich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Vage Aufregung vibrierte in ihr, als sie daran dachte, daß sie nun vielleicht zum ersten Mal eine Spur von Tommys Mörder gefunden hatte. Irritiert nahm sie zur Kenntnis, daß auch Sorge um Major Charles sie erfüllte. Eigentlich sollte er für sie doch völlig nebensächlich sein.

Sie legte die letzten Meter zum Technikraum zurück, gespannt auf die Neuigkeiten, die Sydney und Broots für sie haben mochten.

Als sie den kleinen Raum betrat, stellte sie erleichtert fest, daß sowohl Sydney als auch Broots dort waren. Beide Männer drehten sich zu ihr um, als sie sie kommen hörten. Auf Sydneys Gesicht lag ein besorgter Ausdruck, während Broots einfach nur übernächtigt aussah.

"Gut, daß Sie da sind, Miss Parker", sagte Sydney, aber es klang eher düster als wirklich erfreut. Miss Parker runzelte die Stirn. Die gedrückte Stimmung in diesem Zimmer war fast greifbar.

"Was ist los?" fragte sie daher nur knapp.

Broots griff nach einer DSA-Diskette und hielt sie hoch.

"Das hier sollten Sie sich lieber ansehen", erklärte er mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme.

Obwohl die Geheimniskrämerei der beiden sie reizte, ließ sich Miss Parker wortlos auf einen Stuhl sinken, den Blick erwartungsvoll auf den Bildschirm gerichtet, der neben Broots stand. Der Techniker legte die Diskette in das Abspielgerät, und kurz darauf wurde der Bildschirm hell. Gespannt beugte sich Miss Parker vor, vergaß für den Augenblick Sydney und Broots.

Raines tauchte auf dem Bildschirm auf. Er saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem zwei dicke Aktenmappen lagen. Sein Blick reichte ins Leere, bis nach ein paar Sekunden ein Klopfen zu hören war.

"Herein", sagte Raines leise, weniger keuchend als gewöhnlich. 'Vermutlich strengt es ihn nicht so sehr an, einfach nur dazusitzen', überlegte Miss Parker, und verzog noch während dieses Gedankens das Gesicht. Verdammt, wenn es nach ihr ginge, könnte Raines jederzeit ganz mit dem Atmen aufhören. Sie konzentrierte sich wieder auf die Ereignisse auf dem Bildschirm.

Jemand hatte das Büro betreten, war aber außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera stehengeblieben. Die Kamera! Erst jetzt fiel Miss Parker auf, was ihr schon von Anfang an so seltsam an diesem Video vorgekommen war. Raines' Büro wurde mit Sicherheit nicht von Kameras überwacht – und selbst wenn das doch der Fall sein sollte, gab es garantiert keine Möglichkeit, an die Bänder heranzukommen. Außerdem stimmte der Winkel der Kamera nicht. Miss Parker hatte lange genug in der Sicherheitsabteilung gearbeitet, um das zu erkennen.

Mit einiger Mühe schob sie ihre Beobachtungen zur Seite, um das Gespräch zwischen Raines und seinem Besucher zu verfolgen.
"Sie wollten mich sprechen, Mr. Raines?" sagte der Unbekannte gerade. Seine Stimme kam Miss Parker vage bekannt vor. Wahrscheinlich handelte es sich um einen von Raines' Sweepern.

"Ich dachte, ich hätte mich in Bezug auf Ihren Auftrag klar genug ausgedrückt", erwiderte Raines mit einiger Schärfe, ohne auf die Äußerung seines unsichtbaren Besuchers einzugehen.

"Es haben sich unerwartete Probleme ergeben."

"Erzählen Sie mir nichts von Problemen!" fuhr Raines auf, diesmal mit einem deutlich hörbaren, rasselnden Atemgeräusch. "Wenn Sie nicht bald einen Erfolg zu vermelden haben, werde ich Ihr Problem für Sie lösen, und zwar endgültig."

"Ich verstehe", antwortete Raines' Gegenüber erstaunlich ruhig. Zwar stieß Raines häufiger solche Drohungen aus, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten machte er sie wahr, wann immer er konnte. Wenn man für Raines arbeitete, gehörte das zum Berufsrisiko.

"Das will ich hoffen", sagte Raines grimmig. "Jetzt zu dem anderen Grund, aus dem ich Sie sprechen wollte. Nachdem sich das Thomas Gates Problem für uns erledigt hat", Miss Parker zuckte unwillkürlich zusammen und fühlte heiße Wut in sich aufwallen, als sie die Kälte und Gleichgültigkeit in Raines' Stimme hörte, "müssen Sie diese Papiere an einen sicheren Ort bringen. Sollten sie in die falschen Hände geraten, könnten sich dadurch unangenehme Konsequenzen für uns ergeben."

Raines schob einen der beiden Aktenordner ein Stück von sich weg und deutete dann auf den anderen.

"Was Major Charles angeht – es ist alles für seinen kleinen 'Unfall' arrangiert. In 72 Stunden wird unser jüngstes Projekt wieder sicher in der Obhut des Centres sein."

Der zufriedene Tonfall in Raines' Stimme widerte Miss Parker an. Erst langsam wurde ihr die volle Bedeutung seiner Worte bewußt. Offenbar schwebte Jarods Vater in höchster Gefahr. Fast gegen ihren Willen spürte sie Sorge um ihn in sich aufsteigen. Verärgert bemühte sie sich, diese Emotion zu unterdrücken. Schließlich war das hier die Chance, auf die sie so lange gewartet hatte – die Chance, endlich Tommys Mörder zu finden.

"Das Triumvirat wird sicher hocherfreut sein, das zu hören", ließ sich Raines' Gesprächspartner vernehmen. Erstaunt sah Miss Parker, wie Raines beinahe unmerklich zusammenzuckte, als das Triumvirat erwähnt wurde. Sehr interessant. Vermutlich hatte er einiges zu hören bekommen, als Jarod ein weiteres Mal die Flucht aus dem Centre gelungen war. Ganz offenbar war Raines doch nicht so unbeteiligt, wie er sich meistens gab.

"Zweifelsohne", entgegnete Raines kurzangebunden, während er sich langsam erhob. Er nahm die beiden Aktenstapel und reichte sie seinem Besucher. Miss Parker unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte gehofft, wenigstens einen kurzen Blick auf den Unbekannten erhaschen zu können.

"Machen Sie sich jetzt an die Arbeit", wies Raines den anderen Mann an, der daraufhin das Büro zu verlassen schien. Raines kehrte mit schweren, schleppenden Schritten zu seinem Schreibtisch zurück. Der Bildschirm wurde wieder dunkel.

In einer schnellen Bewegung stand Miss Parker auf. Binnen weniger Minuten im Centre war all die Anspannung zurückgekehrt, die während ihres kurzen Urlaubs von ihr abgefallen war. Ihre Schulter schmerzte wieder leicht, aber sie ignorierte den Schmerz. Leider gelang ihr das nicht halb so gut mit dem emotionalen Schmerz, den Raines Worte in ihr ausgelöst hatten.

"Miss Parker...", begann Sydney, aber sie unterbrach ihn scharf.

"Wo zum Teufel ist das hergekommen?"

Broots sah sie mit deutlichem Unbehagen an.

"Wir sind uns nicht ganz sicher."

Miss Parkers Augen verengten sich, aber sie zwang sich, nicht über Broots herzufallen. Schließlich versuchte er nur, ihr zu helfen.

"Ich will wissen, woher diese Aufzeichnung stammt", sagte sie in einem leisen, ruhigen Tonfall. Alle Farbe wich aus Broots Gesicht.

"Von irgendwem hier aus dem Centre", erwiderte er tonlos, offenbar in sein unvermeidliches Schicksal ergeben.

"Was soll das heißen? Ich brauche einen Namen, Broots."

"Es tut mir leid, Miss Parker, ich habe getan, was ich konnte, aber..."

"Miss Parker, hören Sie", begann Sydney noch einmal. Sein ruhiger Tonfall erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich, und ihr wurde klar, daß sie sich beruhigen mußte, wenn sie irgendwelche Ergebnisse erzielen wollte. Sie nickte stumm, dann wandte sie sich von den beiden Männern ab und entfernte sich ein paar Schritte von ihnen.

Mit geschlossenen Augen atmete sie ein paarmal tief durch, erinnerte sich an die Erkenntnisse, die sie in Maine gewonnen hatte. Tommy hätte nicht gewollt, daß sie sich von ihrem Wunsch nach Rache treiben ließ. Dadurch verlor sie womöglich das, was sie durch ihn erst wiedergewonnen hatte. Zwei verschiedene Wünsche rangen in ihr um die Vorherrschaft, und schließlich traf Miss Parker eine Entscheidung.

Sie öffnete die Augen wieder und kehrte zu Broots und Sydney zurück.

"Also schön, mir ist klar, daß Sie mich nicht hierher gerufen haben, damit ich kopflos hinter Tommys Mörder herjage. Ich glaube vielmehr, daß Sie darauf gehofft haben, daß ich mich um Jarods Vater kümmere. Und versuchen Sie gar nicht erst, das abzustreiten", sagte sie mit einem schnellen Seitenblick zu Sydney, der den Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, daß sie mit ihrer Vermutung durchaus richtig lag. Er schloß den Mund wieder, die Andeutung eines Lächelns in den Augen. Miss Parker holte tief Luft.

"Möglicherweise haben Sie damit recht", fuhr sie fort und bemühte sich zu überhören, wie Broots überrascht nach Luft schnappte. "Damit will ich nicht sagen, daß ich Tommys Mörder nicht mehr schnappen will. Aber das wird warten müssen. Jarods Vater ist noch am Leben – für ihn können wir also noch etwas tun." Sie machte eine kurze Pause und wandte sich dann an Broots. "Sagen Sie mir, was Sie wissen."

Broots zögerte nur kurz.

"Jemand aus dem Centre hat uns dieses Band zugespielt – viel mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen."

"Großartig", seufzte sie. "Diese Aufzeichnung könnte genauso gut eine Falle von Raines sein, um uns von etwas abzulenken, das er vorhat – oder um uns einfach nur loszuwerden."

"Miss Parker, das ist ziemlich paranoid", meldete sich Sydney zu Wort. "Ich glaube nicht, daß Raines so vorgehen würde. Außerdem wissen wir, daß schon früher jemand aus dem Centre Informationen nach draußen weitergegeben hat, wenn auch vorwiegend an Jarod. Wir sind uns wohl alle einig, daß niemand von uns dafür verantwortlich war."

Miss Parker zog spöttisch eine Augenbraue nach oben und sah Sydney an. Sie alle hatten am einen oder anderen Punkt mit Jarod zusammengearbeitet, aber Sydney war mit Sicherheit derjenige von ihnen, der Jarod mit den meisten Informationen versorgt hatte. In einem Anflug von Großzügigkeit beschloß sie, seine Äußerung einfach hinzunehmen.

"Vergessen wir für einen Moment das Wer. Von wann stammt diese Aufnahme? Raines hat von 72 Stunden gesprochen."

Broots reichte ihr wortlos einen kleinen, flachen Gegenstand.

"Das ist die Hülle, in der wir die Diskette gefunden haben", erklärte er. Miss Parker las die Zahlen, die jemand fein säuberlich in Druckbuchstaben auf die Hülle geschrieben hatte.

"Gestern abend", sagte sie nachdenklich. "Das läßt uns noch etwa zwei Tage Zeit."

"Ich könnte die Schrift analysieren lassen", schlug Broots vor, aber Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Dauert zu lange. Außerdem sind Druckbuchstaben nie sehr aufschlußreich." Plötzlich fiel ihr etwas ein, das Jarod zu ihr gesagt hatte. Angelo hatte ihn mit Informationen versorgt, nachdem man ihn wieder ins Centre gebracht hatte. Natürlich! Der Empath war nicht nur Jarods Freund, er besaß außerdem noch die Kenntnisse und die Ausrüstung, um Jarod diese Informationen zu schicken. Aber warum hatte er ihnen ebenfalls eine Kopie überlassen? Wieder keimten Zweifel in Miss Parker. Falls Jarod dieses Band ebenfalls hatte, würde er sich um Major Charles kümmern. Dann konnte sie die Spur von Tommys Mörder verfolgen.

"Möglicherweise weiß ich, woher die Aufzeichnung stammt. Ich bin gleich wieder da."

"Was haben Sie vor, Miss Parker?"

Sie ignorierte Sydneys Frage und verließ mit raschen Schritten den Technikraum.

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Ostvadt
Grönland
18:17

"Verdammt!"

Jarod starrte frustriert auf den Bildschirm. Seit fast einer Stunde versuchte er jetzt schon, eine stabile Verbindung zum Centre herzustellen. Der Sturm hatte an Intensität noch weiter zugenommen und störte die Leitungen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ganz zusammenbrechen würden.

"Komm schon", wisperte Jarod drängend. "Nur ein paar Minuten, länger brauche ich nicht."

Konzentriert versuchte er, wenigstens Teile der Datei zu retten, die Angelo ihm zu schicken versuchte. Wenn er sie jetzt nicht bekam, würde er warten müssen, bis der Sturm vorüber war, und das hieß mindestens ein bis zwei Tage.

Nach einer weiteren Viertelstunde mußte er hilflos mitansehen, wie die Leitung endgültig zusammenbrach. Großartig. Was auch immer Angelo ihm hatte mitteilen wollen, war jetzt für die nächsten Tage unerreichbar für ihn.

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Das Centre
Blue Cove, Delaware
18:49

Angelos Zimmer war beinahe dunkel, wurde nur erhellt vom trüben Licht mehrerer Computerbildschirme. Miss Parker blieb in der Tür stehen und klopfte nach einem kurzen Zögern leise an den Rahmen. Sie wollte nicht einfach so in Angelos Reich platzen.

Er drehte sich zu ihr um, und für einen Moment ließ das seltsame Licht sein Gesicht fast unheimlich aussehen. Dann wandte er sich wieder einem der Bildschirme zu, während er rasch mehrere Befehle eintippte.

Miss Parker ging langsam zu ihm und stellte sich hinter ihn.

"Hallo, Angelo", sagte sie leise.

Angelo tippte noch für einen Moment weiter, dann hörte er plötzlich auf und drehte sich wieder zu ihr um.

"Miss Parker muß helfen", erklärte er fest.

"Hast Du Sydney und Broots das Video gegeben?" fragte sie ihn ruhig, fast sanft.

"Jarod kann nicht helfen", sagte Angelo kummervoll. "Miss Parker muß helfen."

Sie seufzte.

"Du weißt, daß ich Tommys Mörder um jeden Preis finden will."

Ein Lächeln huschte über Angelos Gesicht.

"Nicht um jeden Preis."

Miss Parker sah ihn verblüfft an. Konnte er ihre Gefühle jetzt auch schon erkennen, ohne sie zu berühren? Reichte es, daß sie in seiner Nähe war? Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Wieso kann Jarod nicht helfen?" erkundigte sie sich.

Angelo warf einen besorgten Blick auf seine Computer.

"Keine Verbindung mehr", klagte er.

"Also bleibe nur ich übrig, um etwas für Jarods Vater zu tun", murmelte Miss Parker mehr zu sich selbst. "Weißt Du, wo die Akten sind, die wir im Video gesehen haben? Gibt es Kopien?" fragte sie dann etwas lauter.

Für einen Moment blieb Angelo regungslos sitzen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als würde er auf etwas lauschen, das nur er hören konnte. Dann stand er so plötzlich auf, daß Miss Parker hastig zur Seite wich. Angelo ging in eine Ecke des Zimmers und wühlte in einem riesigen Papierhaufen. Nach einer Weile zog er eine verknitterte Akte hervor. Er kam zurück und reichte sie ihr.

Miss Parker hielt kurz den Atem an, als sie den Aktendeckel öffnete und die ersten Worte las. Enttäuscht ließ sie ihren Atem wieder entweichen. Sie sah zu Angelo auf.

"Was ist mit der anderen Akte? Die über Tommys Mörder?"

Angelo schüttelte nur bedauernd den Kopf.

"Verdammt!" fluchte Miss Parker leise. Dann fragte sie sich, ob Angelo die Akte nicht hatte, oder ob er sie ihr nicht geben wollte, weil er befürchtete, daß sie dann Jarods Vater nicht mehr helfen würde. Nach einem Blick in sein Gesicht verwarf sie die zweite Möglichkeit wieder. Angelo würde so etwas einfach nicht tun.

"Miss Parker muß helfen", sagte Angelo nun schon zum dritten Mal.

"Ich werde helfen", entgegnete sie leise und ließ sich auf einen Stuhl sinken, um die Akte zu lesen. "Ich werde helfen."

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Ostvadt
Grönland
19:25

Obwohl er wußte, daß es sinnlos war, griff Jarod nach seinem Handy. Was auch immer im Centre vor sich ging, mußte schon sehr wichtig sein, wenn Angelo ihn deswegen kontaktieren wollte.

Er wählte Sydneys Nummer und wartete angespannt. Schon nach wenigen Sekunden hörte er die unvermeidliche Nachricht.

"Eine Verbindung zu dem von Ihnen angewählten Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht möglich. Bitte versuchen Sie es später noch einmal."
Jarod unterbrach die Verbindung. Was, wenn es kein Später für ihn gab?

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Das Centre
Blue Cove, Delaware
19:37

"Wo sind Sie denn so lange gewesen?"

Sydneys Frage schaffte es nicht, Miss Parker aus der Ruhe zu bringen, als sie in den Technikraum zurückkehrte. Sie erwiderte seinen Blick und zuckte mit den Schultern. Mit langen Schritten ging sie hinüber zu Broots und ließ die Akte vor ihm auf den Tisch fallen.

"Bei unserem Informanten", antwortete sie schließlich.

"W-was ist das?" fragte Broots nervös.

"Lesen Sie's", erwiderte Miss Parker ungeduldig. Sie setzte sich auf einen Stuhl und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

"Miss Parker?"

Als sie aufsah, stand Sydney neben ihr und musterte sie besorgt.

"Wie kommt es, daß Raines weiß, wo Major Charles sich befindet, während wir ständig nur im Dunkeln tappen?" platzte es entnervt aus ihr heraus. "Wieso habe ich das Gefühl, daß er alle Fäden in der Hand hält und wir nur wie Marionetten herumtanzen?"

"Es geht hier gar nicht um Raines", sagte Sydney sanft. "Sie sind wütend wegen dem, was Sie über Thomas herausgefunden haben."

"Da haben Sie verdammt recht!" antwortete sie verärgert. Sie holte tief Luft, bevor sie etwas ruhiger weitersprach. "Warum zum Teufel muß Raines ausgerechnet jetzt etwas wegen Major Charles unternehmen? Ich könnte..."

"Miss Parker, Sie können nicht beide Sachen auf einmal lösen", fiel ihr Sydney ruhig ins Wort. "Ich weiß, wie wichtig es Ihnen ist, Thomas' Mörder zu finden. Broots und ich können allein versuchen, uns um Major Charles zu kümmern."

Für eine Sekunde, nur für einen kurzen Augenblick, zog sie sein Angebot wirklich in Erwägung, doch dann schüttelte sie ablehnend den Kopf.

"Vergessen Sie's, Syd. Wenn wir in dieser Sache nicht zusammenarbeiten, kommen wir nirgendwo hin."

Sie stand auf, bevor er noch etwas sagen konnte.

"Lokalisieren Sie Major Charles, Broots. Finden Sie heraus, was genau Raines geplant hat."

Broots hob den Blick kurz von der Akte, um sie anzusehen. Er nickte.

"Nach dem, was hier drin steht, haben wir weniger als 48 Stunden, um Major Charles zu warnen. Ich sage Ihnen sofort Bescheid, wenn ich etwas herausfinde."

Miss Parker nickte nur, dann entfernte sie sich ein paar Schritte von den beiden Männern. Unschlüssig, was sie als nächstes unternehmen sollte, blieb sie schließlich stehen. Sie spürte mehr als daß sie hörte, wie Sydney von hinten an sie herantrat. Beinahe zögernd drehte sie sich zu ihm um.

"Was ist nur mit mir los, Syd?" fragte sie ihn leise. "Ich sollte schon längst da draußen sein, mit keinem anderen Ziel als Tommys Mörder zu finden. Statt dessen stehe ich hier und mache mir Sorgen um einen Mann, den ich kaum kenne und von dem ich bis vor kurzem noch dachte, daß er meine Mutter getötet hat."

Sydney legte ihr eine Hand auf die Schulter, strich dann beruhigend über ihren Arm.

"Sie tun das Richtige, Miss Parker", versicherte er ihr. "Tommy hätte es auch so gewollt, da bin ich mir sicher."

"Wahrscheinlich", wisperte sie. Sie brauchte seine tröstende Berührung mehr, als ihr lieb war. Nur deshalb zog sie sich nicht von ihm zurück, obwohl alles in ihr danach schrie. "Ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll."

Erst jetzt trat sie einen Schritt von Sydney zurück und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er blieb stehen und beobachtete sie, ohne etwas zu sagen. Miss Parker hatte das Gefühl, daß er auf irgend etwas wartete.

"Alle Leute verhalten sich plötzlich so merkwürdig", fuhr sie fort. Dann lachte sie leise auf. "Und dann diese Sache mit Jarod. Wie konnte ich nur zulassen, daß er mich küßt? Und das zweimal?"

Broots richtete sich so plötzlich auf seinem Stuhl auf, daß er beinahe umgefallen wäre. Mit großen Augen starrte er Miss Parker an, den Mund ungläubig geöffnet.

"Er hat... Sie haben...", stammelte er, offenbar völlig ahnungslos, in welch gefährliches Gebiet er sich gerade vorgewagt hatte. Miss Parkers Augen verengten sich.

"Sagen Sie bloß nicht, daß Sie das Überwachungsband noch nicht gesehen haben."

Sydney räusperte sich.

"Uhm, ich bin mir ziemlich sicher, daß sich alle existierenden Kopien in meinem Besitz befinden", erklärte er dann vorsichtig. Diese Aussage rückte ihn ins Zentrum von Miss Parkers Aufmerksamkeit. Sie fixierte ihn mit ihrem eisblauen Blick.

"Glauben Sie nicht, daß das etwas ist, was Sie mir hätten sagen sollen?" fragte sie dann.

"Sie wissen es jetzt. Und bei unserem Gespräch in meinem Büro schien es Ihnen egal zu sein", entgegnete er gelassen. Miss Parker nickte langsam, dann wandte sie sich wieder Broots zu, der sie noch immer staunend anstarrte.

"Major Charles, Broots. Erinnern Sie sich?"

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Broots auf ihre Worte reagierte.

"Hat er Sie wirklich...", begann er, dann klappte er erschrocken den Mund zu, als wäre ihm erst jetzt klar geworden, mit wem er gerade redete. Er schüttelte kurz den Kopf, bevor er noch einmal anfing. "Major Charles, ja. Alles klar. Bin schon dabei."

Der Techniker wandte sich wieder seinem Bildschirm zu, aber ein paar Sekunden später murmelte er etwas, das für Miss Parker verdächtig nach 'Wow, und er ist trotzdem noch am Leben' klang.

"Miss Parker?"

Mit den Gedanken noch immer bei Broots, drehte sie sich wieder zu Sydney um.

"Hm?"

"Wieso fahren Sie nicht nach Hause und versuchen, sich ein bißchen zu entspannen? Wir benachrichtigen Sie, sobald wir etwas erfahren."
Sie erwiderte seinen Blick ein paar Sekunden lang, bevor sie nachgab. Sydney hatte recht; sie konnte wirklich etwas Ruhe gebrauchen.

"Na schön. Falls Sie vorher nichts finden, komme ich morgen früh wieder."

Mit einem letzten nachdenklichen Blick zu Broots verließ sie den Technikraum.

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Ostvadt
Grönland
02:31

Jarod drehte sich in seinem Bett unruhig von einer Seite auf die andere. Der Wind heulte noch immer unerbittlich um sein Haus, erinnerte ihn ständig daran, daß der Sturm noch immer nicht nachgelassen hatte.

Schon seit Stunden lag er wach, tat nichts anderes als zu Grübeln. Sein Gefühl sagte ihm, daß irgend etwas nicht stimmte, und seine Vorstellungskraft lieferte ihm mehr als genug Gründe für dieses Gefühl.

Mit einem Seufzen drehte sich Jarod auf die andere Seite, starrte auf die Digitalanzeige seines Weckers. Im schwachen Licht der Leuchtziffern sah er sein Handy, das ebenfalls auf dem Nachttisch lag. Im Moment konnte er nicht einmal jemanden anrufen.

Erst nach einer ganzen Minute, in der er blicklos auf die Uhrzeit gestarrt hatte, gestand er sich ein, daß nicht Sydney derjenige gewesen wäre, den er angerufen hätte. Und ganz egal, wie sehr er sich auch fragte, was im Moment im Centre vor sich ging, hätte er auch nicht Angelo angerufen. Nein, es war eine ganz andere Person, die er mitten in der Nacht mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen hätte.

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Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
05:17

Das Klingeln ihres Telefons zerrte Miss Parker erbarmungslos aus den angenehmen Tiefen ihres Schlafes. Verwirrt blinzelte sie ein paarmal, bevor ihr klar wurde, was die Quelle des störenden Geräusches war. Nach einem Blick auf ihren Wecker griff sie nach dem Telefon.

"Was?" fragte sie, deutlich weniger scharf als sie eigentlich geplant hatte.

"Miss Parker, hier spricht Sydney. Broots hat eine vielversprechende Spur von Major Charles gefunden. Sie sollten so bald wie möglich herkommen."

"Bin schon auf dem Weg", erwiderte sie und unterdrückte ein Gähnen. Sie legte auf und ließ ihren Kopf zurück aufs Kissen sinken. Das waren genau die Nachrichten auf die sie gewartet hatte. Warum war sie dann trotzdem enttäuscht?

Miss Parker schloß die Augen, als sie sich die Antwort eingestand. Weil sie erwartet hatte, daß Jarod sie anrufen würde. Genauso, wie er es schon oft mitten in der Nacht getan hatte. Waren diese Zeiten jetzt vorbei, da er ihr seine Freundschaft angeboten hatte?

Oh, großartig. Jetzt vermißte sie schon seine Anrufe. Mit einem Seufzen stand sie auf und beschloß, für den Rest des Tages nicht mehr über Jarod nachzudenken.

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Das Centre
Blue Cove, Delaware
5:37

"Also, was gibt's?"

Miss Parker hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, als sie in den Technikraum zurückkehrte. Broots drehte sich nur kurz zu ihr um, aber Sydney kam ihr entgegen.

"Haben Sie gut geschlafen?" erkundigte er sich.

Ihr lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber nach einem Blick in Sydneys besorgtes Gesicht nickte sie nur. Dann ging sie an ihm vorbei zu Broots.

"Was haben Sie rausgefunden?"

Der Techniker richtete sich auf und versuchte, seine vom langen Sitzen verspannten Muskeln etwas zu lockern. Hatte er am vergangenen Tag noch übernächtigt ausgesehen, so war jetzt verheerend die passende Beschreibung für sein Aussehen.

"Sydney und ich sind zusammen die Akte durchgegangen, die Sie mitgebracht haben. Wir haben uns gefragt, wie Raines Major Charles in eine Falle locken will."

Miss Parker hob fragend die Brauen, sagte aber nichts. Ihr fiel auf, daß Broots ununterbrochen mit den Füßen wippte. Offenbar hatte er in den letzten Stunden soviel Kaffee getrunken, daß er nun nicht mehr stillsitzen konnte.

"Jarods Mutter", erklärte Broots triumphierend, als wäre es die logischste Sache der Welt. "Für Major Charles muß es so aussehen, als wäre sie in der Gewalt des Centres."

"Na gut, wir wissen also, wie Raines ihn in seine Falle locken will. Bleibt nur noch das Wo."

"Alaska", sagte Sydney plötzlich neben ihr. Sie schaffte es, nicht überrascht zusammenzuzucken, ganz im Gegensatz zu Broots, der beinahe das Gleichgewicht verlor. Miss Parker runzelte die Stirn über diese Beobachtung, dann erst begriff sie, was Sydney gerade gesagt hatte.

"Alaska?" wiederholte sie.

"Claremont, Alaska", bestätigte Sydney.

"Wundervoll. Das bedeutet zehn Grad minus, an einem guten Tag. Wieso sucht Raines sich ständig Eiswüsten aus? Was ist so falsch an Hawaii?"

Sydney warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, den Miss Parker ungerührt zurückgab.

"Erzählen Sie mir einfach die Details. Ich werde alleine fliegen. Sie müssen mir hier den Rücken freihalten. Das letzte, was ich da oben brauche, sind Raines oder Lyle, die mir dazwischenfunken." Miss Parker starrte düster ins Leere. "Und Broots?"

"Ja?" Der Techniker zuckte erneut zusammen.

"Sobald ich weg bin, versuchen Sie, etwas zu schlafen. Sie sehen furchtbar aus. Wenn ich in Alaska ankomme, will ich, daß Sie mir hier zur Verfügung stehen, und zwar ausgeschlafen, klar?"

"Ja, Miss Parker."

Broots machte nicht mal den Versuch, ihr zu widersprechen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Sydney versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, allerdings nicht ganz erfolgreich.

"Wir sollten so wenig Zeit wie möglich verschwenden, daher schlage ich vor, daß Sie mir jetzt ausnahmslos alles erzählen, was Sie wissen."
Broots öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor er dazu kam, fügte Miss Parker düster hinzu: "Und damit meine ich nur über Major Charles' geplanten Unfall."

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Ostvadt
Grönland
13:17

Das Heulen des Windes hatte endlich nachgelassen. Der Sturm hatte sich gelegt, und nur der leichte Schneefall erinnerte noch an das schlechte Wetter der vergangenen Stunden.

Jarod saß auf der Couch in seinem Wohnzimmer und starrte gebannt auf den Bildschirm seines Laptops. Er konnte kaum fassen, was er dort sah. Vor einer Viertelstunde hatte er endlich die Datei von Angelo erhalten, und nun sah er sich das Video bereits zum zweiten Mal an.

Entsetzt lehnte er sich zurück, als der Bildschirm dunkel wurde. Eine Mischung aus Sorge um seinen Vater und Wut auf Raines erfüllte ihn, hinderte ihn daran, einen klaren Gedanken zu fassen.

Wie konnte Raines es wagen?

Jarod stand auf und begann, unruhig durch das Wohnzimmer zu laufen. Er mußte unbedingt etwas tun, um seinen Vater zu warnen. Aber was?

Nach ein paar Sekunden kehrte er zu seinem Computer zurück. Außer der Videodatei, die Angelo ihm gesendet hatte, hatte er auch noch eine Textdatei sowie eine kurze Mail von Angelo erhalten.

Zuerst überflog er die Textdatei. Anscheinend handelte es sich dabei um eine Zusammenfassung einer der beiden Akten, die im Video zu sehen gewesen waren. Die Akte über seinen Vater. Unwillkürlich fragte sich Jarod, ob Angelo wohl auch im Besitz der anderen Akte war. Nur einen Augenblick später galt seine Aufmerksamkeit bereits wieder seinem Vater.

Jarod öffnete Angelos Mail und hielt den Atem an, als er die wenigen Worte las.

'Vater ist in Gefahr. Miss Parker hilft. –C.J.'

Ungläubig schüttelte Jarod den Kopf. Wieso in aller Welt sollte Miss Parker es vorziehen, seinem Vater zu helfen, wenn sie statt dessen endlich ein Spur zu Tommys Mörder verfolgen könnte? Eine Sekunde später traf ihn die Antwort wie ein Blitz. Weil Angelo sie darum gebeten haben mußte. Außer ihm selbst war sie die einzige Person auf der Welt, von der Major Charles Hilfe erwarten durfte. Und Angelo hatte ihn nicht erreichen können.

Jarod wurde von einem unguten Gefühl erfaßt. Plötzlich war es nicht mehr nur sein Vater, um den er sich sorgte.

Mit hastigen Schritten verließ er das Wohnzimmer, um seine wenigen Sachen zusammenzupacken. Im Laufen aktivierte er sein Handy und fluchte leise, als er noch immer keine Verbindung nach draußen herstellen konnte. Plötzlich blieb er stehen und starrte auf das Telefon in seiner Hand. Er hatte versucht, Miss Parker zu erreichen. Wenn sie schon auf dem Weg war, um seinen Vater zu warnen, war es gut möglich, daß er sie deshalb nicht erreichen konnte.

Jarod wählte eine andere Nummer, wartete ein paar Sekunden und seufzte erleichtert, als sich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung meldete.

"Hier spricht Sydney."

"Sydney, wo ist Miss Parker? Ich muß unbedingt mit ihr sprechen."

"Jarod?"

Er konnte deutlich die Überraschung in der Stimme des älteren Mannes hören und schloß für einen Moment schuldbewußt die Augen, als er an den Schmerz dachte, den sein Verhalten bei Sydney verursacht haben mußte.

"Ja, Sydney, ich bin's. Wo ist sie?"

"Miss Parker ist auf dem Weg nach Alaska. Wir haben erfahren, daß Raines deinem Vater eine Falle..."
"Verdammt!" fluchte Jarod. "Ihr müßt sie zurückrufen."

"Du weißt schon Bescheid?"

Wieder klang Sydney überrascht, vielleicht sogar noch mehr als zuvor.

"Ich habe das Video gesehen", erklärte Jarod ungeduldig. "Du mußt Miss Parker sagen, daß sie sofort ins Centre zurückkehren soll."

Jarod hörte, wie Sydney kurz zögerte.

"Warum?"

"Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Mein Vater versteckt sich seit Jahrzehnten vor dem Centre. Er kennt Raines' Tricks. Wahrscheinlich hat er Raines' Falle schon längst erkannt und wird dort überhaupt nicht auftauchen."

"Was macht dich da so sicher?"

"Ich bin nicht sicher, aber ich will nicht, daß Miss Parker deswegen ihr Leben riskiert. Diese Sache ist sehr gefährlich. Raines will den Jungen wiederhaben, und er will Major Charles tot sehen. Deshalb ist das, was er in Alaska für meinen Vater vorbereitet hat, mit Sicherheit eine ernstzunehmende Bedrohung. Bei allem, was Miss Parker in letzter Zeit durchgemacht hat, ist sie vermutlich nicht dazu in der Lage, allein damit fertigzuwerden."

Am anderen Ende der Leitung atmete Sydney hörbar ein.

"Wir können sie nicht erreichen, Jarod. Sie ist mit dem Jet aufgebrochen. Als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert habe, ist die Verbindung abgebrochen – der Jet muß in eine Schlechtwetterfront geraten sein. Und nach dem, was ich aus dem Wetterbericht entnommen habe, wird sie da so schnell nicht wieder herauskommen."

"Dann mache ich mich besser gleich auf den Weg. Vielleicht kann ich das Schlimmste noch verhindern. Ich melde mich bald wieder, Sydney."

Jarod unterbrach die Verbindung und begann damit, seine wenigen Besitztümer einzupacken. Hoffentlich kam er nicht zu spät.

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Devil's Ridge
Alaska
17:45

Miss Parker stampfte mit den Füßen auf und verlagerte immer wieder ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, während sie in der schneidenden Kälte wartete. Trotz ihrer warmen Fellkapuze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, fühlten sich ihre Ohren bereits taub an.

Entnervt hämmerte sie erneut an die verschlossene Tür. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, daß der Tanz der Schneeflocken um sie herum immer dichter wurde. Wundervoll. Sie sah nach oben in den Himmel und runzelte die Stirn, als sie die dichte, graue Wolkendecke sah, die nur von einem kündete. Noch mehr Schnee.

"Aufmachen!" rief Miss Parker wütend und hieb mit der Faust so fest gegen die Tür, daß ihre Hand trotz des Handschuhs schmerzte.

"Verdammte Kälte", fluchte sie leise vor sich hin. "Wenn ich wieder zurück im Centre bin, sorge ich persönlich dafür, daß Raines den Rest seines Lebens in einem Gefrierschrank verbringt."

"Kann ich Ihnen helfen, Miss?"

Überrascht hob sie den Blick und stellte fest, daß sich die Tür vor ihr einen winzigen Spalt breit geöffnet hatte. Ein großer, verschlafen wirkender Mann sah auf sie herab, die Brauen hochgezogen.

"Allerdings. Ich brauche einen Mietwagen, und zwar so schnell wie möglich."

Der Mann starrte sie ein paar Sekunden lang an, dann begann er zu lachen. Es war ein gutmütiges Lachen, aber Miss Parker war trotzdem nicht in der Stimmung dafür, es zu tolerieren. Ihre Miene verdüsterte sich bedrohlich.

"Dürfte ich vielleicht erfahren, was daran so komisch ist?" fragte sie mühsam beherrscht. Sie spürte, wie die Kälte langsam durch ihre Thermokleidung kroch und schaffte es nur mit Mühe, ihr Zittern zu unterdrücken.

Erst jetzt schien ihr Gegenüber zu begreifen, daß sie es ernst meinte.

"Sie können doch bei dem Wetter unmöglich mit dem Auto fahren", erklärte er bestimmt und schüttelte den Kopf. "Wer hat Sie überhaupt zu mir geschickt?"

"Jemand vom Flughafen", erwiderte sie kurzangebunden. "Mit dem Jet bin ich nicht weiter als bis hierher gekommen, also muß ich jetzt mit dem Wagen bis nach Claremont fahren."

"Bis nach Claremont?" fragte der Mann und pfiff durch die Zähne. "Das sind noch gute 200 Meilen. Tut mir leid, Miss, aber bei dem Wetter kann ich das unmöglich verantworten."

Miss Parker war kurz davor, die letzten Reste ihrer Selbstbeherrschung zu verlieren.

"Jetzt hören Sie mir mal zu! Ich bin nicht zum Vergnügen hier. Ich brauche diesen Wagen, und ich werde..."

"Tut mir wirklich leid, Miss", unterbrach sie der Mann. "Aber bevor das Wetter sich nicht gebessert hat, kann ich Ihnen keinen Wagen geben." Er warf ihr noch einen letzten bedauernden Blick zu, dann schloß er die Tür wieder. Ein paar Sekunden lang starrte sie fassungslos auf das glatte Holz. Dann hob sie die Faust, um erneut zu klopfen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, um ihre Hand schließlich wieder nach unten sinken zu lassen.

"Mistkerl", sagte sie leise, nicht wirklich wütend auf ihn. Eine alles überwältigende Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus. Was, wenn sie es nicht rechtzeitig nach Claremont schaffte? Wenn Major Charles starb, weil sie in irgend einem gottverlassenen Provinznest festsaß? Was sollte sie Jarod sagen? Miss Parker sah erneut nach oben in den trüben Himmel. Die Entschlossenheit kehrte langsam in ihr Gesicht zurück.

"Ich gebe nicht auf", wisperte sie, den Kopf in den Nacken gelegt. "Ich werde mich nicht aufhalten lassen."

Ihre leisen Worte hingen wie eine Drohung in der Luft, als Miss Parker sich umdrehte und den kurzen Weg zurück zum Flugplatz stapfte.

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Irgendwo über dem Atlantik
22:43

In der Passagierkabine des kleinen zweimotorigen Flugzeugs war es fast dunkel. Die meisten Passagiere schliefen; nur zwei oder drei hatten noch das kleine Leselicht über ihrem Sitz an.

Jarod starrte aus dem Fenster. Der Mond hing fast zum Greifen nah am Himmel, tauchte das Wasser tief unter dem Flugzeug in silbriges Licht. Hin und wieder waren kleinere Wolkenfelder zu sehen – Vorboten auf das schlechte Wetter, das sie in Alaska zweifellos erwartete.

Nach einer endlos scheinenden Weile schloß Jarod die Augen. Es würde noch Stunden dauern, bevor sie Alaska erreichten, und bereit jetzt schaffte er es kaum noch, seine Besorgnis unter Kontrolle zu halten.

Mittlerweile war er sich fast sicher, daß Major Charles die Falle als solche durchschaut hatte. Wahrscheinlich würde er nicht einmal in die Nähe von Claremont kommen, allein schon deshalb, um den Klon zu beschützen.

Viel mehr Sorgen machte er sich um Miss Parker. Bei ihrem letzten Treffen in Ben Millers Haus war ihm aufgefallen, wie erschöpft sie gewirkt hatte. Und das nicht nur im physischen Sinne, sondern vor allem emotional. Sie war im Moment einfach nicht in der Lage, es mit Raines aufzunehmen.

Jarod öffnete die Augen wieder und stand auf. Er ging an seinem schlafenden Sitznachbarn vorbei in Richtung Cockpit, um sich bei dem Piloten nach der aktuellen Wetterlage zu erkundigen. Alles war besser als einfach nur tatenlos dazusitzen.

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Claremont
Alaska
15:27

Strahlender Sonnenschein verwandelte die schneebedeckte Landschaft in ein Meer aus Gold und Kristall. Miss Parker stand vor dem Bahnhof und sah sich suchend um. Für die Schönheit ihrer Umgebung hatte sie keinen Blick. Im Moment beschäftigte sie allein die Frage, wie sie am schnellsten zum Hafen gelangen konnte.

Sie griff in ihre Jackentasche und zog ihr Handy hervor. Mit einer Grimasse zog sie einen ihrer Handschuhe aus und drückte eine der Kurzwahltasten. Wie schon bei ihren vorherigen Versuchen mußte sie feststellen, daß sie das Centre noch immer nicht erreichen konnte. Frustriert verstaute sie ihr Telefon wieder in der Tasche.

Aus der anderen Tasche holte sie einen zerknitterten Zettel und ein Foto hervor. Das Foto war eine aktuelle Aufnahme von Major Charles; ihre einzige Chance, ihn hier ausfindig zu machen, bevor er in Raines' Falle tappte.

Auf den Zettel hatte Broots für sie alle wichtigen Informationen geschrieben, für den Fall, daß sie aus irgend einem Grund keinen Kontakt zu ihm oder Sydney aufnehmen konnte. Miss Parker dankte ihm stumm für seine Voraussicht, als sie erneut einen Blick auf die Adresse warf. Schließlich steckte sie den Zettel zurück in die Tasche und ging zur anderen Straßenseite, wo mehrere Taxis warteten.

"Zu den Docks", sagte sie zu einem der Fahrer und ließ sich erschöpft auf den Rücksitz sinken. Die Nacht und den größten Teil dieses Tages hatte sie in einem Zug verbracht – der letzte, der gestern von Devil's Ridge aus hierher gefahren war. Obwohl die Strecke relativ kurz gewesen war, hatte die Fahrt mehr als zwanzig Stunden gedauert. Offenbar war aufgrund des schlechten Wetters ein Teil der Strecke unpassierbar gewesen, deshalb hatten sie mehrere Stunden lang mitten im Nirgendwo gestanden.

"Sind Sie schon mal in Claremont gewesen, Miss?" erkundigte sich der Fahrer höflich. Miss Parker blinzelte. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, und das letzte, was sie jetzt wollte, war mit einem Wildfremden über irgend welche Belanglosigkeiten zu plaudern.

"Nein", erwiderte sie düster. "Und ich habe auch nicht vor, jemals wieder herzukommen."

Damit war das Thema für sie erledigt. Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Miss Parker lehnte sich zurück, bemüht, sich ein wenig zu entspannen. Als sie nach ein paar Minuten die Docks erreichten, schoß sie auf einmal in die Höhe.

"Sofort anhalten!" wies sie den Fahrer an.

"Wie bitte?" erkundigte er sich überrascht.

"Ich habe gesagt, Sie sollen anhalten!" wiederholte Miss Parker verärgert. Er kam ihrer Aufforderung nach, warf ihr aber einen merkwürdigen Blick zu.

"Wollen Sie aussteigen? Wir sind noch nicht..."

"Ja, ja, schon gut. Hier, behalten Sie den Rest."

Miss Parker hielt ihm einen Geldschein hin und stieg aus. Sie ging ein paar Meter zurück und erstarrte. Tatsächlich, sie hatte sich nicht geirrt. Auf der anderen Straßenseite, keine fünfzig Meter entfernt, parkte ein dunkler Wagen.

Normalerweise hätte sie ihre Reaktion selbst als paranoid bezeichnet, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß dieses Auto etwas mit dem Centre zu tun hatte. Nachdem sie noch ein wenig näher herangegangen war, konnte sie das Nummernschild erkennen. Kein Zweifel, dieser Wagen gehörte zum Centre. Aber was machte er hier?

Als sich eine der Türen öffnete, beeilte sich Miss Parker, in Deckung zu gehen. Wen auch immer das Centre geschickt hatte, um Raines' Plan auszuführen, sie konnte darauf verzichten, von ihm entdeckt zu werden. Ein Mann stieg aus und sah sich interessiert um. Miss Parker hielt den Atem an. Lyle.

Natürlich. Wer sonst wäre besser geeignet gewesen, um Major Charles' Ermordung zu überwachen. Sie verspürte einen Stich der Enttäuschung. Bedeutete das, daß ihr Vater auch etwas mit der Sache zu tun hatte?

Sie schüttelte den Kopf, um sich von diesem Gedanken zu lösen. Major Charles zu finden hatte im Moment die absolute Priorität. Vorsichtig verließ sie ihre Deckung und ging weiter in Richtung Docks.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie die Straße entdeckte, die laut ihrem Zettel zu der Lagerhalle führte, in der Raines seine Falle zuschnappen lassen wollte. Die Straße führte von den Docks fort, endete bei einer Halle, die auf einem freien, schneebedeckten Feld stand.

Auf dem Weg dorthin hielt Miss Parker mehrere Dockarbeiter an und zeigte ihnen das Foto von Major Charles. Keiner von ihnen hatte Jarods Vater gesehen. Miss Parker empfand Erleichterung. Wenn er bis jetzt noch nicht hier gewesen war, mußte sie nur in der Nähe der Halle auf ihn warten.

Die letzten Meter zu dem baufällig wirkenden Gebäude legte sie beinahe widerstrebend zurück. Sie hatte ein ungutes Gefühl, unterdrückte es aber. Der Schnee knirschte bei jedem ihrer Schritte; das Geräusch kam ihr unnatürlich laut vor. Auch die Kälte schien plötzlich beißender zu sein als noch vor ein paar Minuten. Mit jedem ihrer Schritte wurde sie langsamer, bis sie schließlich dicht neben der Halle stehenblieb. Etwas stimmte nicht. Aber was?

Plötzlich wußte sie es. Sie wußte, wie Raines Major Charles aus dem Weg schaffen wollte. Miss Parker fuhr herum und rannte los. Sie rannte schneller als je zuvor in ihrem Leben, versuchte, die eiskalte Luft zu ignorieren, die jeden Atemzug zur Qual machte. Sie rannte, obwohl sie wußte, daß sie es niemals rechtzeitig schaffen konnte.

Als das Gebäude hinter ihr explodierte, dehnte sich jede Sekunde zu einer Ewigkeit. Zuerst spürte sie die Hitze, die von einem Augenblick zum anderen die eisige Kälte ersetzte. Nur einen Herzschlag später hörte sie den ohrenbetäubenden Knall der Explosion, mit dem die Struktur der Halle auseinanderbarst. Überall um sie herum zischte es leise und dampfte, als geschmolzener Stahl in den Schnee regnete.

Schließlich erreichte sie die Druckwelle der Explosion. Miss Parker hatte das Gefühl, von einer riesigen Faust gepackt zu werden, die ihr die Luft aus den Lungen preßte. Hitze hüllte sie ein, und die Landschaft begann, vor ihren Augen zu verschwimmen.

Die Wucht der Explosion schleuderte Miss Parker zu Boden. Ihr Gesicht sank tief in den herrlich kalten Schnee. Die Kälte milderte den Schock des Aufpralls ein wenig, ließ sie noch einmal den Kopf heben.

Ein dunkler Fleck bewegte sich schnell auf sie zu, kam immer näher. Verwirrt kniff sie die Augen zusammen, konnte aber trotzdem nur einen undeutlichen Schemen erkennen.

"Miss Parker!"

Das war Jarods Stimme. Aber Jarod konnte unmöglich hier sein. Sie versuchte, sich wieder aufzurichten. Heißer Schmerz zuckte durch ihren Körper, ließ sie wieder zu Boden sinken. Miss Parker stöhnte schmerzerfüllt auf.

"Parker, du mußt aufstehen!" brüllte Jarod über das Kreischen der Flammen hinweg. Verständnislos dachte sie über seine Worte nach, aber ihre Reflexe reagierten bereits auf seinen drängenden Tonfall. Trotz ihrer Schmerzen richtete sie sich auf, bis sie schließlich schwankend und schweratmend wieder auf den Füßen stand. Jarod hatte sie fast erreicht, und Miss Parker konnte die Angst erkennen, die seine Züge verzerrte. Noch immer verwirrt starrte sie ihm entgegen. Sein Gesichtsausdruck wirkte beinahe schon panisch...

Die zweite Druckwelle traf Miss Parker völlig unvorbereitet. Schmerz explodierte in ihrem Kopf und ihrer Schulter. Plötzlich hörte sie nur noch das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren. Alles um sie herum wurde weiß, als wäre die Welt mit blendender Helligkeit erfüllt.

"PARKER!"

Jarods Schrei vermischte sich mit dem Dröhnen in ihren Ohren, als sie wie in Zeitlupe nach vorne sank. Sie spürte, wie sie gegen etwas prallte, und dann schlossen sich Jarods starke Arme um ihren kraftlosen Körper.

"Parker."

Entsetzen und Angst ließen Jarods Stimme vibrieren. Gemeinsam mit ihm sank sie langsam zu Boden.

"Sag etwas, Parker. Bitte."

Miss Parker öffnete den Mund, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie fand nicht einmal die Kraft, die Augen zu öffnen, um Jarod anzusehen. Jedes Gefühl wich aus ihrem Körper, bis sie nur noch Jarods Arme um sich spürte. Er zog sie an sich und hielt sie fest, wisperte drängend auf sie ein. Obwohl sie sich bemühte, sich an seiner Stimme festzuhalten, konnte sie nicht verhindern, daß sich die Helligkeit um sie herum langsam in Dunkelheit verwandelte. Das letzte, was sie spürte, bevor sie bewußtlos wurde, war die sanfte Berührung von Jarods Lippen auf ihrer Stirn.


Ende von Teil 2
Part 3 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.
Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel.

Zur Handlung: Miss Parker findet sich in einer einsamen Hütte mit Jarod wieder - und zwischen ihnen ist nichts mehr so, wie es mal war...



Kostbare Momente
Teil 3

von Miss Bit




"Du hast es gewußt, nicht wahr? Du hast es gewußt und mich trotzdem nicht davon abgehalten, dorthin zu gehen."

Miss Parker sah ihren Vater wütend an, die Augen zusammengekniffen. Sie stand mit dem Gesicht zur Sonne; die Strahlen wärmten ihr Gesicht und ihr war heiß, viel zu heiß.

"Natürlich habe ich es nicht gewußt, mein Engel."

Die Stimme ihres Vaters klang angenehm sanft, wie immer, wenn er sie von etwas überzeugen wollte.

"Du mußt es gewußt haben", sagte Miss Parker, leiser als zuvor und mit deutlicher Verwirrung in der Stimme. Langsam drehte sie den Kopf, ließ ihren Blick über das riesige Rollfeld schweifen. Es war still, nur ganz in der Ferne vernahm sie ein leises Heulen, das sie an Wind erinnerte. Nur sie und ihr Vater waren hier, aber etwas schien nicht zu stimmen. Fehlte nicht etwas?

Miss Parker zuckte zusammen, als sie einen stechenden Schmerz in der Lunge fühlte. Erschrocken schnappte sie nach Luft, starrte nach unten und erwartete schon halb, Blut auf ihrer Bluse zu sehen. Doch es war keins da; nur der Schmerz schien real zu sein. Sie schwankte, als der Schmerz sich ausbreitete, Besitz von ihren Beinen und Armen ergriff.

"Ihr Vater sagt die Wahrheit, meine liebe Miss Parker", keuchte Raines, und sie wirbelte herum, ignorierte das dumpfe Pochen in ihrem Kopf.

"Sie lügen", brachte sie hervor, starrte den kahlen Mann vor sich an, der jetzt neben ihrem Vater stand.

"Wieso sollte er das tun?"

Lyle trat hinter den beiden hervor, einen fragenden Ausdruck auf dem Gesicht.

"Er hat mich immer belogen. Ihr alle... habt mich belogen", flüsterte sie und rang nach Luft.

"Das ist nicht wahr, und du weißt es. Wir sind deine Familie. Wir sind alles, was du auf dieser Welt brauchst."

Die Worte ihres Vaters füllten sie aus einem unerklärlichen Grund mit Entsetzen.

"Hör nicht auf sie."

Miss Parker stöhnte leise, als eine neuerliche Welle von Schmerz durch ihren Körper brandete. Sie kniff die Augen zusammen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie, daß Jarod vor ihr stand. Genau zwischen ihr und ihrem Vater. Als hätte er ihre Mißbilligung gespürt, drehte sich Jarod um und trat ein paar Schritte zur Seite, bis er neben den anderen stand.

"Ich brauche euch nicht. Ich brauche niemanden", schrie Miss Parker. "Laßt mich endlich in Ruhe."

"Du hast mich belogen", erwiderte ihr Vater und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Und du hast aufgegeben", sagte Jarod.

Sie sah ihn an.

"Das ist nicht wahr."

"Wieso sind sie dann hier?" fragte Jarod und nickte hinüber zu Raines, Lyle und ihrem Vater.

Miss Parker starrte ihn verständnislos an.

"Du hast vergessen, wem du vertrauen kannst, Parker."

Sie fuhr herum.

"Ich habe dir vertraut, aber du hast mich alleingelassen, Tommy", sagte sie sanft.

Er erwiderte ihren Blick und lächelte.

"Ich habe dir geholfen, etwas wiederzufinden. Du brauchst mich jetzt nicht mehr", antwortete er, dann zwinkerte er und drehte sich um.

"Hör nicht auf, weiter zu suchen", sagte er im Weggehen. Sie sah ihm nach, wie er über das Rollfeld ging, bis die Sonne seine Gestalt langsam verblassen ließ.

"Du mußt ihn gehen lassen, sonst verlierst du alles, was dir von ihm noch geblieben ist."

"Aber es tut so weh."

Ihre Mutter sah sie an und streckte eine Hand nach ihr aus. Miss Parker ergriff sie und fühlte sich einen kostbaren Moment lang geborgen und verstanden.

"Du mußt sie auch gehen lassen", erklärte ihre Mutter und deutete mit ihrer anderen Hand auf den traurigen Rest ihrer Familie.
"Sie lügt", donnerte ihr Vater und machte einen Schritt in ihre Richtung.

"Sie lassen mich nicht gehen", erwiderte Miss Parker und schüttelte traurig den Kopf.

"Du hast mich nicht verstanden, mein Herz", sagte ihre Mutter leise. Sie legte ihre Hand einen Herzschlag lang unter das Kinn ihrer Tochter, sah sie mit einem sanften Lächeln an. "Laß sie gehen."

Catherine drehte sich um und ging auf Jarod zu, blieb kurz vor ihm stehen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, um dann mit langen Schritten das Rollfeld zu überqueren.

Miss Parker starrte hilflos die vier Männer an, die mit ihr auf dem Rollfeld standen. Die Sonne brannte noch immer vom Himmel, heißer als je zuvor. Ganz langsam begann die Welt sich um sie zu drehen, und Miss Parker sah sich nach einem Halt um. Plötzlich standen nur noch Jarod und ihr Vater vor ihr. Ratlos sah sie von einem zum anderen, dann machte sie einen Schritt auf Jarod zu und lehnte sich an ihn. Er schloß sie in seine Arme und hielt sie fest. Miss Parker seufzte erleichtert.

"Ich werde dir nicht erlauben, diese Entscheidung zu treffen", flüsterte ihr Vater in ihr Ohr, dann verschwand er und mit ihm das Rollfeld, die Sonne - und auch Jarod. Miss Parker schloß die Augen und stürzte in die Dunkelheit.

*******

Die feuchten Holzscheite im Kamin knackten und zischten leise. Das Geräusch vermischte sich mit dem Heulen des Sturms, der noch immer unerbittlich um die kleine Hütte tobte. Jarod sah auf, als das Licht für einen Moment flackerte, wandte seine Aufmerksamkeit aber fast sofort wieder der blassen Gestalt zu, die vor ihm im Bett lag.

Sie war beinahe reglos. Ihr Atem ging flach; nur die fahrigen Bewegungen ihrer Hände verrieten ihre innere Unruhe.

Jarod saß auf dem Bettrand, starrte hilflos in ihr Gesicht, das ohne die starken Emotionen, die sich sonst darin widerspiegelten, nicht ganz wirkte. Leblos. Sie sah so leblos aus, trotz der kleinen Schweißtropfen auf ihrer Stirn, trotz der kleinen Seufzer, die sie hin und wieder ausstieß.

Er hatte die ganze Nacht neben ihr gesessen, sie nur angesehen. Es war beinahe schmerzhaft, auf diese Weise in ihrer Nähe zu sein. Immer, wenn er geglaubt hatte, es nicht mehr ertragen zu können, hatte er eine Hand nach ihr ausgestreckt, zaghaft, fast ängstlich.

Auch jetzt gab er wieder dem Drang nach, sie zu berühren, um sich zu überzeugen, daß sie lebendig war. Ihre Haut glühte, während sie ihren Kampf gegen das Fieber weiterführte. Zärtlich ließ er seine Fingerkuppen über ihre Stirn gleiten, dann weiter zu ihren Augen und schließlich zu ihren Wangen. Er hielt ihr Gesicht in seinen Händen, fühlte sich hilfloser als jemals zuvor.

Wieder flackerte das Licht, so daß der Raum für ein paar Sekunden nur vom Widerschein des Kaminfeuers erhellt wurde. Gespenstische Schatten tanzten über Miss Parkers Gesicht, ließen sie noch blasser aussehen. Ihr dunkles Haar lag in Strähnen um ihr Gesicht, bildete einen scharfen Kontrast zu ihrer Blässe.

Das Licht ging wieder an, und mit der plötzlichen Helligkeit kehrten die Gedanken zurück, die Jarod mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. 'Sie wird sterben', flüsterte die Stimme in seinem Kopf, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, die eiskalte Angst in ihm aufsteigen ließ. 'Wenn sie fort ist, bist du ganz allein. Sie wird sterben. Sieh sie dir doch an, sie ist ja schon so gut wie tot.'

"Nein", flüsterte Jarod mit rauher Stimme. "Ich weiß, daß du bei mir bleiben wirst. Du darfst nicht gehen. Ich werde dich nicht gehenlassen."

Er griff nach ihrer Hand, die anders als ihre Stirn merkwürdig kalt war. Als würde sich das Leben langsam aus ihr zurückziehen, zuerst aus den Fingern und Zehen, dann aus den Armen und Beinen, bis nur noch ein kleiner Funken tief in ihr übrig blieb. Und dieser Funke würde einen Herzschlag lang flackern, um dann für immer zu verlöschen.

"Geh nicht weg", wisperte Jarod eindringlich, legte seine ganze verbliebene Stärke in seine Worte. "Bleib... bei mir."

*******

"Du kannst mich nicht fangen!"

Miss Parker stand nur zwei Meter von ihm entfernt und lachte leise. Ihre Augen funkelten vergnügt. Sie sah ihn mit ihren wunderschönen blauen Augen an, während sie sich bemühte, wieder zu Atem zu kommen.

"Doch, ich kann."

Jarod erwiderte ihren Blick und grinste herausfordernd. Miss Parker machte einen Schritt auf ihn zu.

"Beweis es", flüsterte sie. Einen Augenblick standen sie beide nur da und sahen einander an, jeder verloren im Blick des anderen. Dann drehte sich Miss Parker um und rannte los. Jarod schüttelte überrascht den Kopf, versuchte, sich aus seiner Benommenheit zu lösen. Erst nach ein paar Sekunden gelang es ihm. Er rannte hinter ihr her und stellte erstaunt fest, daß sie in der kurzen Zeit einen beachtlichen Vorsprung gewonnen hatte.

Sie verschwand um eine Ecke, und Jarod runzelte die Stirn, als er sie aus dem Blick verlor. Ohne große Anstrengung erhöhte er seine Geschwindigkeit und schlitterte um die Ecke. Der Korridor vor ihm war leer.

Verwirrt wurde er langsamer und hielt schließlich an. Ein leises Lachen ließ ihn herumfahren.

"Ich habe dir doch gesagt, daß du mich nicht fangen kannst", sagte Miss Parker und lächelte. Sie stand direkt an der Ecke; er war an ihr vorbei gerannt, ohne sie zu sehen.

"Das sehe ich aber ganz anders", erwiderte er und hob eine Braue, während er langsam auf sie zukam. Gott, er liebte es, wenn sie in den Ferien zu Besuch kam, auch wenn das viel zu selten geschah.

Er ging zu ihr und blieb dicht vor ihr stehen. Miss Parker war beinahe genauso groß wie er, und ihr Gesicht befand sich auf einer Höhe mit seinem. Jarod sah sie an, versuchte so viele Details wie möglich auf einmal wahrzunehmen. Ihre geröteten Wangen, ihre zerzausten Haare, die winzigen dunklen Flecken in ihren Augen.

"Glaubst du nicht, daß wir langsam zu alt dafür sind?" fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf.

"Nein", wisperte sie. "Aber ich glaube, daß wir langsam alt genug für 'das' sind."

Miss Parker beugte sich zu ihm vor, bis ihre Lippen dicht vor seinen waren. Jarod war gefangen in ihrem Blick, konnte nichts anderes tun als in ihre Augen zu sehen. Augen, die in ihn sehen konnten. Augen, die ihm Wärme gaben.

Langsam hob er eine Hand, berührte damit ihr Gesicht. Sie lehnte sich ganz leicht dagegen. Er hob auch seine andere Hand an ihr Gesicht, dann endlich fand er den Mut, sie zu küssen.

Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal geküßt hatten - seit ihrem einzigen Kuß? Es mußten fünf oder sechs sein. Der Gedanke zerstob mit allen anderen, als Miss Parker den Kuß erwiderte und eine völlig neue Welt in Jarod explodierte. Er wollte diesen Moment festhalten, ihn zu einer Ewigkeit ausdehnen.

Atemlos zog er sich schließlich ein Stück von ihr zurück.

"Du hast mir weh getan", sagte die erwachsene Miss Parker und sah ihn an, mit denselben blauen Augen wie zuvor, doch jetzt war keine Wärme mehr darin, nur noch Schmerz und eine stumme Anklage. Jarod nickte traurig.

"Ich weiß", flüsterte er. "Aber ich wollte es nicht."

Sie lehnte an der Wand der kleinen Zelle, den Kopf ganz leicht zur Seite geneigt, als würde sie über seine Worte nachdenken.

"Du hast gelogen, Jarod", stellte Miss Parker fest. Die Wände der Zelle zerfaserten langsam um sie herum. Sie standen auf einem schneebedeckten Feld; Schneeflocken tanzten anmutig in der Luft, und es roch nach verbranntem Metall.

"Nein", sagte er.

Miss Parker drehte sich einmal um sich selbst. Sie lachte, als sie ihn wieder ansah.

"Wenn du aufhörst, dich selbst zu belügen, können wir keine Freunde mehr sein", erklärte sie dann ernst. Danach sah sie nach unten und runzelte die Stirn.

"Ich werde fallen, Jarod."

Ihre Gestalt begann zu verblassen, und er konnte nur hilflos zusehen.

"Bleib", bat er sie. Miss Parker schüttelte den Kopf und verschwand.

"Ich werde fallen. Und du kannst mich nicht fangen."

*******

Jarod riß erschrocken die Augen auf. Er war eingeschlafen. Nur ein Traum. Eine Erinnerung und ein Traum.

"Parker", flüsterte er. "Ich wollte dir nicht wehtun."

Seine Worte lösten keine sichtbare Reaktion aus. Sie lag nur da, atmete und kämpfte ihren einsamen Kampf.

"Du kannst nicht gehen", brachte er heiser hervor. "Das ist nicht fair. Du mußt mir eine Gelegenheit geben, es wiedergutzumachen."

Die Angst kehrte zurück, vertrieb mühelos die Verwirrung, die der Traum in ihm hinterlassen hatte. Was, wenn er sie jetzt verlor? Wenn sie nicht die Kraft hatte, das Fieber zu besiegen? Was sollte er dann machen? Was blieb dann noch von seinem Leben übrig?

"Parker, bitte..."

Er konnte nicht weitersprechen. Die letzten beiden Tage hatten ihn seine gesamte Kraft gekostet. Wieder und wieder hatte er die eine Erkenntnis verdrängt, die jetzt unaufhaltsam auf ihn einstürmte. Bis zu diesem Moment hatte er es sich nicht wirklich eingestanden. Doch jetzt konnte er nicht mehr fliehen, dafür fehlte ihm einfach die Kraft.

Es gab nichts mehr, was er für sie tun konnte. Wenn sie auch nur für einen Augenblick ihren Kampf aufgab, würde sie nie wieder aufwachen.

Tränen liefen über sein Gesicht, aber er merkte es nicht einmal, als er sich zu ihr hinunterbeugte und seinen Kopf neben ihren auf das Kissen legte, während sein Körper von lautlosen Schluchzern geschüttelt wurde.

********

Miss Parker öffnete die Augen, nur für einen winzigen Moment, und wollte schreien. Sie konnte nicht, fand einfach nicht die Kraft dazu. Vielleicht war die Hitze daran schuld, die sie zu verbrennen schien; vielleicht lag es aber auch an ihren Lungen, die sich nur mühsam und rasselnd mit Luft füllten, jeden Atemzug zur Qual machten.

Eine lange Weile lag sie einfach nur da, die Augen geschlossen, und lauschte ihrem Herzschlag. Das regelmäßige Pochen hatte etwas Beruhigendes. Aber sollte es nicht viel lauter sein?

Sie versuchte, sich auf die Seite zu drehen. Stechender Schmerz durchzuckte sie, verharrte pochend in ihrem Rücken. Tränen liefen über ihre Wangen, und ihr Atem kam in kurzen, abgehackten Stößen. Ihre Lippen teilten sich, als sie schmerzerfüllt stöhnte.

Der Schmerz in ihrem Rücken ließ nicht nach, egal wie sehr sie versuchte, sich zu entspannen. Verzweifelt bemühte sie sich, irgendwie Linderung zu finden. Mit einer Hand tastete sie vorsichtig neben sich und stöhnte noch einmal, als die Schmerzen noch stärker wurden.

Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an, ließ ihn dann zischend entweichen. Das Geräusch lenkte sie kurz von ihrem Rücken ab und so konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Nach einer Ewigkeit entspannten sich die Muskeln in ihrem Rücken etwas. Das Atmen fiel ihr etwas leichter, und die Schmerzen verloren an Intensität.

Miss Parker spürte, wie ihre Kraft langsam nachließ. Aber mit ihrer Energie schienen auch die Schmerzen nachzulassen. Dunkelheit wogte heran, eine warme, weiche Dunkelheit, die sich einladend an sie schmiegte. Sie entspannte sich, war bereit, sich der samtenen Schwärze zu überlassen, als sie plötzlich etwas hörte.

Ein leises Schluchzen, dicht neben ihrem Ohr. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung öffnete sie noch einmal ihre Augen. Ganz vorsichtig drehte sie den Kopf. Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie erkannte, daß sie nicht allein war.

Jarod.

Er war hier, bei ihr. Sein Gesicht war dicht neben ihrem. Ihre Sicht war noch immer verschwommen, aber sie erkannte, daß sein Gesicht tränenüberströmt war. Außerdem sah er so erschöpft und verloren aus, daß es ihr fast das Herz brach. Jarod litt.

Sie ignorierte die Schmerzen in ihrem Rücken, als sie quälend langsam ihre Arme hob, um sie um ihn zu legen. Miss Parker zog ihn näher an sich, eine Hand auf seinem Rücken, die andere in seinem Nacken. Sanft zog sie seinen Kopf an ihre Schulter und küßte ihn auf die Stirn, bevor sie entkräftet einschlief.

*******

Jarod unterdrückte ein leises Stöhnen, als er die Augen öffnete. War er schon wieder eingeschlafen? Irritiert blinzelte er ein paarmal. Er mußte nach Miss Parker sehen.

Erst als er versuchte, sich aufzurichten, fiel ihm auf einmal auf, daß etwas anders war. Einen Herzschlag lang wagte er nicht einmal zu atmen. Miss Parker hatte die Arme um ihn gelegt. Sie mußte wach gewesen sein.

Jarod sah in ihr Gesicht, bemüht, die zarte Hoffnung zu unterdrücken, die in ihm vibrierte. Grenzenlose Erleichterung durchflutete ihn, als er sah, daß ihre Augen offen waren, daß sie seinen Blick erwiderte.

"Oh, Gott sei Dank", wisperte Jarod und zog sie an sich, hielt sie so fest, wie er es wagte. Miss Parker erwiderte die Umarmung nicht; sie zog im Gegenteil ihre Arme von ihm zurück, um ihn kurz darauf von sich fortzuschieben. Verwirrt ließ er sie los, um sie wieder anzusehen.

"Was..."

Ihr Blick ließ ihn verstummen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Entsetzen spiegelte sich darin wider, Entsetzen und Angst.

"Geh."

Das rauh geflüsterte Wort war keine Bitte. Noch während er sie verständnislos anstarrte, konnte er sehen, wie das Entsetzen in ihrem Blick zunahm.

"Es ist alles in Ordnung. Du bist hier sicher. Niemand außer mir..."

Wieder brach er mitten im Satz ab. Er hatte sich ganz leicht zu ihr vorgebeugt, um sie zu beruhigen, doch jetzt stellte er fest, daß er damit das Gegenteil erreicht hatte. Miss Parkers Atem ging immer schneller, als sie versuchte, sich noch weiter von ihm zu entfernen. Jarod erkannte, daß sie kurz davorstand, zu hyperventilieren. Ganz langsam streckte er eine Hand nach ihr aus, aber diese Geste war bereits zu viel.

Hastig, beinahe panisch, verließ Miss Parker das Bett, zog mit einer Hand die Decke hinter sich her. Mit unsicheren Schritten wankte sie hinüber zum Tisch und sank entkräftet auf den Stuhl, der daneben stand.

Ungläubig starrte Jarod sie an. Seine Gedanken rasten, und er versuchte den Schmerz zu ignorieren, den ihre Reaktion verursachte.

"Parker, was ist los?"

Seine Stimme verriet seine Aufgewühltheit, aber das war ihm egal. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Was er in ihrem Blick sah, war fast mehr als er ertragen konnte. Wut und Zorn ließen ihre Augen funkeln; viel schlimmer aber war die Furcht, die er dahinter erkannte. Hatte sie etwa Angst vor ihm?

Miss Parker wandte den Blick von ihm ab, sah statt dessen an sich selbst herunter. Ihr Gesicht verzog sich, als sie den einfachen Pyjama sah, den sie trug.

"Was ist passiert?" fragte sie rauh und mit zitternder Stimme. Sie sah hinüber zum Bett, dann zu Jarod und schließlich noch einmal zum Bett. Wäre es nicht unmöglich gewesen, hätte Jarod geschworen, daß sie noch blasser geworden war.

"Was ist mit mir passiert?" fragte sie noch einmal, lauter diesmal. Ein erster Anflug von Panik ließ ihre Stimme vibrieren.

Jarod versuchte, seine eigenen verletzten Gefühle zur Seite zu schieben, um den besten Weg zu finden, wie er auf Miss Parker reagieren sollte.

"Du mußt zurück ins Bett. Du hast noch immer hohes Fieber", sagte er so sanft er konnte.

"Ich will wissen, was passiert ist!" schrie sie und rutschte noch ein Stück auf dem Stuhl nach hinten, als wäre ihr die Distanz zu ihm noch immer nicht groß genug. Beinahe verzweifelt sah Jarod sie an. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihr los war. Vielleicht verursachte das Fieber irgendwelche Halluzinationen bei ihr, aber im Grunde genommen deutete ihr Verhalten nicht darauf hin.

"Ich werde dir alles erzählen, aber zuerst mußt du zurück ins Bett. Bitte, Parker, es ist doch nur zu deinem Besten."

Sie sah ihn aus großen Augen an. Wieder ging ihr Atem etwas schneller, verriet ihren inneren Aufruhr.

'Es ist nur das Fieber', sagte sich Jarod. 'Sie versucht nicht absichtlich, mich zu verletzen.' Trotzdem schmerzte ihn ihr Verhalten mehr, als er je für möglich gehalten hätte.

Miss Parker sah ihn noch immer an, und plötzlich begriff er, was los war. Er saß noch immer auf dem Bett. Sie würde nicht dorthin zurückkehren, solange er noch dort war. Betont langsam stand er auf und entfernte sich dann vom Bett, immer darauf bedacht, den Abstand zu ihr einzuhalten, den sie offenbar als ausreichend betrachtete. Für einen Moment sah er Erleichterung in ihrem Blick. Sie zögerte ein paar Sekunden, dann stand sie auf und ging quälend langsam hinüber zum Bett, um sich wieder hinzulegen.

Jarod ging hinüber zum Tisch, spürte dabei immer ihren wachsamen Blick auf sich ruhen. Er setzte sich, erwiderte ihren Blick, versuchte, darin zu lesen. Doch alles, was er in ihrem eisblauen Blick sah, waren Furcht und Schmerz.

"Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?" wollte er von ihr wissen. Es war nicht die Frage, die er eigentlich hatte stellen wollen, aber er wußte, daß es die einzige war, die sie ihm im Moment beantworten würde.

Miss Parker schloß kurz die Augen und dachte über seine Frage nach. Als sie ihn wieder ansah, war zum ersten Mal, seit sie aufgewacht war, so etwas wie Ruhe in ihrem Gesicht erkennbar.

"Ich war in Claremont, um Major Charles vor Raines zu warnen. Das Lagerhaus... Da war eine Explosion. Und Schnee. Soviel Schnee..."

Ihre Stimme war immer leiser geworden, als sie feststellte, daß ihre letzten Erinnerungen keinen Sinn mehr für sie ergaben. Jarod beschloß, ihr zu helfen.

"Raines hat das Lagerhaus in die Luft gesprengt. Es gab zwei Bomben, und eigentlich sollten sie beide gleichzeitig explodieren, doch die zweite ist erst ein paar Minuten nach der ersten hochgegangen. Du hast... Glück gehabt."

Seine letzten Worte hatten sie zu einem Stirnrunzeln veranlaßt, und Jarod fühlte sich beinahe versucht zu lachen. Natürlich empfand sie es nicht als Glück, aber sie wußte auch nicht, wie knapp es für sie gewesen sah. Doch er war da gewesen; er hatte es gesehen. Jarod schloß die Augen. Sie wäre beinahe gestorben, direkt vor seinen Augen...

"Ein Bewegungsmelder", sagte Miss Parker plötzlich, und Jarod öffnete die Augen wieder. Er nickte.

"Keine sehr präzise Methode, aber ich schätze, Raines hat nicht damit gerechnet, daß jemand anderes als mein Vater in dieses Lagerhaus gehen würde."

Miss Parkers Blick reichte ins Leere, als sie in Gedanken noch einmal die Ereignisse durchging. Kurz darauf richtete sie den Blick wieder auf ihn, einen leicht überraschten Ausdruck auf dem Gesicht.

"Lyle war auch dort", sagte sie.

Jarod seufzte. Irgendwie hatte er gehofft, daß sie sich daran nicht mehr erinnern würde. Und er selbst hätte es auch lieber vergessen.

"Ja. Er ist kurz nach mir auf dem Feld angekommen."

"Dieser Bastard", zischte sie. "Ich wette er war dort, um zuende zu bringen, was Raines' kleine Überraschung nicht geschafft hat."

Der kalte Zorn in ihrer Stimme überraschte ihn etwas. Gleichzeitig spürte er, wie sich sein schlechtes Gewissen regte. Er wußte, daß Lyle keineswegs deswegen auf das Feld gerannt war.

'Nimm sofort deine Finger von meiner Schwester.' Lyles zornig gebrüllte Worte hallten noch immer durch seine Erinnerung. 'Ich werde mich um sie kümmern. Sie gehört zu ihrer Familie.' Was Jarod am meisten überrascht hatte, war das Gefühl gewesen, daß Lyle wirklich um seine Schwester besorgt zu sein schien. Obwohl Sorge vielleicht nicht ganz das richtige Wort war, um Lyles Emotionen gegenüber seiner Schwester zu beschreiben...

"Jarod?"

Ihr scharfer Tonfall ließ ihn aufsehen.

"Was ist nach der Explosion passiert?"

Er zuckte mit den Schultern.

"Ich habe dich mitgenommen." 'Anstatt dich deinem Bruder und damit dem Centre zu überlassen', fügte er in Gedanken hinzu. Doch mittlerweile glaubte er fast, daß ihr das lieber gewesen wäre. Nur warum?

"Du hast ärztliche Hilfe gebraucht", fuhr er laut fort. "Also habe ich dich in ein Krankenhaus gebracht, und anschließend hierher."

"Und wo ist 'hier'?"

"Wir sind noch immer in Alaska. Du hattest keine schwerwiegenden Verletzungen, also dachte ich, es wäre das Beste, wenn du dich für eine Weile an einem ruhigen Ort erholen könntest."

Sie schwieg, die Lippen fest aufeinander gepreßt. Jarod sah, daß sie angefangen hatte zu zittern. Alles in ihm schrie danach, zu ihr zu gehen und ihr zu helfen, aber er wußte, daß sie ihn nicht lassen würde. Er deutete auf die Truhe, die am Fußende des Bettes stand.

"Da sind noch ein paar Decken drin. Solange das Fieber nicht vorüber ist, wird dir noch kalt sein."

Jarod wollte noch mehr sagen, aber statt dessen sah er schweigend dabei zu, wie sie ein der Decken aus der Truhe holte und sich darin einwickelte.

Sie hatte wirklich Glück gehabt. Obwohl sie beinahe die volle Wucht der ersten Druckwelle zu spüren bekommen hatte, waren nur zwei ihrer Rippen geprellt. Innere Verletzungen hatte sie nicht erlitten, aber der Schock und die extreme Kälte hatten hohes Fieber bei ihr ausgelöst. Mittlerweile vermutete Jarod, daß auch ihre Schulterwunde sie noch weiter geschwächt hatte.

"Ich will weg von hier."

Jarods Blick glitt hinüber zu ihr. Miss Parker hatte sich auf die Seite gelegt, das Gesicht von ihm abgewandt. Ihre Stimme klang gedämpft durch die Decke, aber trotzdem hörte er den bebenden Unterton darin. Wovor hatte sie Angst? Und warum ließ sie nicht zu, daß er ihr half?

"Du brauchst jetzt viel Ruhe. Es wäre nicht gut für dich, jetzt schon aufzustehen."

"Ich möchte zurück zu Ben", wisperte sie beinahe unhörbar, als hätte sie seine Worte überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ihre Stimme klang nur noch müde. Jarod seufzte noch einmal und stand dann auf. Er verließ den Raum, um etwas Saft aus der Küche zu holen. Als er zurückkam, war sie bereits eingeschlafen. Leise stellte er den Saft neben sie auf den Nachttisch, sah sie lange an und ging schließlich in den einzigen anderen Raum der kleinen Hütte, um über ihr merkwürdiges Verhalten nachzudenken.

*******

"Spurlos verschwunden? Wie ist das möglich?"

Sydneys Stimme überschlug sich fast vor Fassungslosigkeit. Er stand direkt vor Lyle, zu seiner vollen Größe aufgerichtet. Broots stand halb hinter ihm, nervös, aber nicht weniger besorgt.

"Wenn Sie sich solche Sorgen um meine Schwester machen, versuchen Sie doch von mir aus, sie zu finden. Ich weiß ohnehin nicht, was sie dort zu suchen hatte." Lyles Gesicht war ausdruckslos, aber da war ein Schimmern in seinen Augen, das Sydney dort schon früher gesehen hatte. Und nie hatte es etwas Gutes bedeutet. Er warf Broots einen Blick zu. Der Techniker hatte den Ausdruck in Lyles Augen ebenfalls bemerkt.

"Das werden wir allerdings tun!" erklärte Sydney aufgebracht.

"Tun Sie, was Sie nicht lassen können", meinte Lyle mit einem Schulterzucken. "Aber Sie sollten nicht vergessen, daß das Triumvirat andere Prioritäten hat."

Sydney sah Lyle fassungslos nach, als er den Technikraum verließ.

"Warten Sie. Was ist nach der Explosion mit Miss Parker passiert?" rief er, bevor Lyle ganz draußen war. Lyle drehte sich um. Für einen Augenblick huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, der dafür sorgte, daß sich Sydneys Nackenhaare aufstellten.

"Oh, habe ich vergessen, das zu erwähnen? Jarod hat sie", erwiderte er in einem beiläufigen Tonfall, doch seine Augen verrieten ihn. "Ich schätze, das dürfte endlich einmal dafür sorgen, daß Sie sich Mühe geben, unser kleines Experiment wieder einzufangen."

Er drehte sich um und ging. Broots ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sydney konnte deutlich die Erleichterung in seinen Zügen erkennen.

"Was ist los, Sydney? Wenn Miss Parker bei Jarod ist, geht es ihr bestimmt gut."

Sydney nickte geistesabwesend.

"Haben Sie den Ausdruck in Lyles Augen gesehen?" fragte er dann unvermittelt.

"Und ob. Mann, diesmal ist er echt wütend auf Jarod."

"Ich weiß nicht", erwiderte Sydney nachdenklich. Sicher, auch er hatte die Wut in Lyles Blick gesehen. Aber irgend etwas sagte ihm, daß Jarod gar nicht der Grund dafür war.

*******

"Noch etwas Kaffee?"

Jarod hielt die Kanne hoch. Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Nein, danke."

Sie hielt ihre Tasse in beiden Händen, starrte gedankenverloren auf die schwarze Flüssigkeit darin. Nur mit Mühe gelang es ihr, ein leises Seufzen zu unterdrücken. Es war drei Tage her, seit sie in der Hütte aufgewacht war. Drei Tage, in denen sie Jarod so gut es eben ging von sich ferngehalten hatte.

Miss Parker saß in der winzigen Küche, eingewickelt in eine Decke. Jarod stand neben dem Herd, ständig bemüht, etwas zu finden, mit dem er sich beschäftigen konnte.

Heute hatte er ihr zum ersten Mal erlaubt, aufzustehen. Sie fühlte sich schon wieder viel besser; ein Umstand, der sie selbst etwas überraschte, wenn sie an die Wucht der Explosion zurückdachte. Ihre Rippen taten natürlich noch immer weh, aber sie hatte gelernt, mit Schmerzen zu leben. Und es war viel einfacher, physischen Schmerz zu ignorieren.

Miss Parker hob den Blick. Jarod sah sie an. Anders als zuvor sah er diesmal nicht weg, sondern ließ sie den Schmerz sehen, der sich in seinen dunklen Augen widerspiegelte.

"Es ist Zeit, daß ich gehe", sagte sie ruhig. Innerlich wollte sie schreien, wollte ihm sagen, warum sie sich so verhielt. Aber das wäre völlig sinnlos gewesen. Er hätte es ohnehin nicht verstanden.

Er nickte nur. Natürlich. So, wie sie ihn während der letzten Tage behandelt hatte, mußte er damit gerechnet haben.

Die Stimmung zwischen ihnen war kühl und angespannt. Sie hatte jeden seiner Versuche, mit ihr zu reden, im Keim erstickt, bis er es schließlich aufgegeben hatte.

"Es hat wahrscheinlich nicht viel Sinn, dir zu sagen, daß du eigentlich noch immer Ruhe brauchst", sagte er mit einem humorlosen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Es ist am besten für uns beide, wenn ich jetzt gehe."

Für einen Sekundenbruchteil sah es so aus, als würde er seine mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung verlieren, doch dann preßte er nur die Lippen aufeinander.

"Wie du meinst."

"Jarod, bevor ich gehe, sollten wir noch etwas zwischen uns klären."

Sie haßte sich selbst, als sie die Hoffnung in seinem Blick aufkeimen sah. Eine Hoffnung, die sie gleich brutal zerstören würde.

"Du erinnerst dich doch noch an unser Gespräch in Bens Haus?"

Als er nickte, fuhr sie fort. Sie mußte es jetzt hinter sich bringen - bevor sie der Mut verließ.

"Wir können keine Freunde sein, Jarod. Es ist unmöglich."

Jarod drehte sich um, gab vor, mit der Kaffeemaschine beschäftigt zu sein. Aber seine angespannten Schultern und die Art, wie er seinen Kopf hielt, verrieten ihr alles, was sie wissen mußte.

'Der Preis ist zu hoch, Jarod', dachte sie. Das Centre hatte ihr nie Freunde erlaubt. Das begriff sie erst jetzt. Und noch viel weniger hatte es ihr Menschen erlaubt, die sie liebte. Ihre Mutter, Tommy... Jarod auch noch zu verlieren, war mehr, als sie ertragen konnte. Ihn aus ihrem Leben zu verbannen, tat zwar fast genauso weh, aber auf diese Weise blieb ihr wenigstens ihre Hoffnung. Und Jarod blieb am Leben.

"Ich glaube, du hast recht", sagte er auf einmal, leise, aber beherrscht.

Es erstaunte sie, wie sehr sie seine Worte verletzten. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Natürlich war es nicht leicht für sie. Doch es mußte sein.

"Ich bin froh, daß wir uns einig sind."

Ihre Worte hätten nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Langsam stand sie auf, um ihre wenigen Sachen zusammenzupacken. Sie ging dicht an Jarod vorbei, wünschte sich fast verzweifelt, er möge sie irgendwie aufhalten.

'Sag etwas, Jarod. Laß mich nicht einfach so gehen.'

Aber Jarod sagte nichts, und so ging sie an ihm vorbei ins Schlafzimmer, bereit, sein Leben für immer zu verlassen.


Ende von Teil 3
Part 4 by Miss Bit
šRechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.
Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel.

Zur Handlung: Miss Parker kehrt zurück in die Zivilisation, doch nicht für lange...




Kostbare Momente
Teil 4

von Miss Bit





Sydney saß an einem Tisch im Technikraum. Den Morgen hatte er allein in seinem Büro verbracht, doch irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten. Er war in den Technikraum gegangen, wo ihm wenigstens Broots Gesellschaft leistete. Der Techniker wertete gerade die Spuren aus, die bei dem zerstörten Lagerhaus gefunden worden waren. Unglücklicherweise hatte auch Miss Parkers Handy zu den verkohlten Fundstücken gehört.

Sydney runzelte die Stirn. Nicht nur, daß sie Miss Parker nicht hatten erreichen können - auch Jarod hatte sich nicht bei ihnen gemeldet. Dieser Umstand verwirrte Sydney. Sie wußten, daß Miss Parker bei ihm war, aber warum hatte der Pretender ihnen nicht wenigstens mitgeteilt, daß sie am Leben war, daß es ihr den Umständen entsprechend gutging?

Wieder schlich sich eisige Angst in seine Gedanken. Es gab eine Erklärung für Jarods Verhalten, aber die gefiel ihm ganz und gar nicht. Was war, wenn Miss Parker die Explosion nicht überlebt hatte, wenn Jarod nichts mehr für sie hatte tun können? Dann sah er vielleicht gar keinen Grund, Sydney anzurufen...

"Syd?"

Broots' Stimme klang aufgeregt. Sydney drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Als er den Mund öffnete, um Broots zu fragen, was los war, schüttelte der Techniker nur den Kopf. Seine Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen.

"Hören Sie", wisperte er.

Ein wenig überrascht neigte Sydney den Kopf zur Seite, um zu lauschen. Zunächst hörte er gar nichts, nur das leise Summen der Lüftung. Doch dann hörte er es auch. Ungläubig sog er die Luft ein. Das war einfach unmöglich. Und doch hörte er die Schritte, das unverwechselbare Geräusch, das schnell näher kam. Sydney schüttelte den Kopf, erlaubte sich nicht einmal einen Funken Hoffnung.

"Das muß Brigitte sein", sagte er zu Broots, aber der Techniker ließ sich von seinen Worten nicht beeindrucken, schüttelte nur seinerseits leicht den Kopf.

"Also wirklich, Syd. So lange war ich nun auch wieder nicht fort, daß Sie mich mit diesem Troll verwechseln könnten."

Sydneys Kopf fuhr herum, als er die Stimme von der Tür her hörte. Miss Parker. Sie war es tatsächlich. Vor Erleichterung wurde ihm fast schwindelig. Einen Moment lang sah er sie nur an. Ihr Gesicht war blaß, und ihr Körper war deutlich sichtbar angespannt. Sie lehnte ganz leicht am Rahmen, fast als wäre sie erschöpft.

"Miss Parker!"

Als er sich endlich von seiner Überraschung erholt hatte, stand Sydney auf. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihr. Er zog sie in seine Arme. Nur sehr widerstrebend ließ er sie nach ein paar Sekunden wieder los.

"Wie geht es Ihnen?"

"Wo sind Sie gewesen?"

Broots, der ebenfalls zu ihr gekommen war, stellte seine Frage fast im selben Moment. Auch seiner Stimme konnte man deutlich seine Erleichterung anhören. Miss Parker sah sie beide an, eine Braue leicht gewölbt.

"Mir geht's gut, und ich war irgendwo mitten im Niemandsland von Alaska."

Sydney sah sie besorgt an, als er die Müdigkeit in ihrer Stimme hörte.

"Miss Parker, Sie sollten sich setzen. Sie sehen müde aus."

Er wußte, wie sie auf seine Sorge normalerweise reagierte, aber das hielt ihn trotzdem nicht davon ab, sich um sie zu kümmern. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.

"Es war ein langer Flug. Ich fahre gleich weiter nach Hause. Vorher wollte ich nur sicher gehen, daß hier alles in Ordnung ist. Schließlich weiß ich ja, welches Chaos Sie hier für gewöhnlich anrichten, wenn ich mal ein paar Tage nicht da bin."

Sydney entging nicht die Wärme in ihrer Stimme, und er unterdrückte ein Lächeln, als er den Blick sah, mit dem Miss Parker ihn und Broots musterte. Sie hatte sie beide vermißt.

Ihre nächsten Worte ließen ihn innerlich zusammenzucken, und auch Broots verzog überrascht das Gesicht.

"Irgendwelche Spuren von Jarod?"

"Aber... wir dachten, er wäre bei Ihnen gewesen", brachte Broots erstaunt hervor. Sydney beobachtete gespannt Miss Parkers Reaktion.

"Bis gestern", gab sie mit ruhiger Stimme zu. "Dann haben sich unsere Wege getrennt. Ich dachte, daß Sie vielleicht in der Zwischenzeit etwas von ihm gehört haben."

Sie warf Sydney einen wissenden Blick zu, den er gelassen erwiderte. Aus irgend einem Grund schien es ihr sehr wichtig zu sein, zu wissen, ob Jarod sich bei ihnen gemeldet hatte. Was war in Alaska zwischen den beiden passiert?

"Nein. Das letzte Mal haben wir mit ihm kurz vor der Explosion gesprochen", erwiderte Sydney. Noch einmal gab er seiner Sorge um sie nach. "Geht es Ihnen wirklich gut, Miss Parker?"

Miss Parker nickte, und Sydney hatte fast das Gefühl, daß sie ihrer Stimme nicht mehr traute.

"Ich werde morgen früh wieder hier sein. Bis dahin erwarte ich Ergebnisse."

Sie drehte sich abrupt um und ließ die beiden Männer verwundert in der Tür zurück.

"Glauben Sie, sie hat das ernst gemeint?" fragte Broots nach einer Weile zögerlich. Sydney antwortete nicht, sondern starrte gedankenverloren in den leeren Korridor. Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus, als eine Idee in seinem Kopf Gestalt annahm.

"Mr. Broots", sagte er, "Sie haben Miss Parker gehört. Wenn sie morgen früh zurückkommt, sollten wir ihr lieber die gewünschten Ergebnisse präsentieren."

*******

Es war noch früh am Morgen, als Miss Parker am nächsten Tag ins Centre zurückkehrte. Sie hatte die ganze Nacht wachgelegen, obwohl sie nach der langen Reise und den letzten Tagen in der Hütte mehr als müde gewesen war. Wieder und wieder hatte sie Jarods Gesicht vor sich gesehen, den Schmerz in seinen Augen, hatte die Leere in ihrem Inneren gespürt. Und dann war da noch der Traum gewesen...

'Ich werde dir nicht erlauben, diese Entscheidung zu treffen.'

Obwohl es nur ein Traum gewesen war, war sich Miss Parker absolut sicher, daß ihr Vater diese Worte auch in Wirklichkeit sagen würde, sollte er jemals den Verdacht haben, daß sie mehr für Jarod empfand als nur das Interesse, ihn wieder zurück ins Centre zu bringen.

"Hallo, Schwesterchen."

Miss Parker zuckte erschrocken zusammen, als sie auf einmal die leise Stimme direkt hinter sich hörte. Wütend fuhr sie herum, nur um sich dichter vor Lyle wiederzufinden, als ihr lieb war. Sie machte einen Schritt zurück, veranlaßte ihn damit zu einem spöttischen Lächeln. In seinen Augen glitzerte es kalt.

"Verschwinde, Lyle", zischte sie.

"Hast du deinen kleinen... Urlaub mit Jarod genossen?" erkundigte sich ihr Zwillingsbruder glatt.

"Wieso fällst du nicht einfach tot um?" gab sie eisig zurück. Lyle ging langsam um sie herum, und Miss Parker fühlte sich auf einmal unangenehm an ihren Traum erinnert. Sie schluckte trocken.

"Oh, offenbar war eure gemeinsame Zeit wohl doch nicht das, was du erwartet hattest, hm?"

Miss Parker biß sich auf die Lippen.

"Wenigstens hat Jarod mich nicht einfach bei dem Lagerhaus zurückgelassen."

Echte Überraschung zeigte sich auf Lyles Gesicht, bevor er leise lachte.

"Hat er dir das gesagt? Nun, ich kann nicht sagen, daß mich das wirklich überrascht. Ich hätte dich schon ins Centre zurückgebracht, aber Jarod ist mir leider zuvorgekommen."

Verwirrt runzelte Miss Parker die Stirn. Sagte Lyle die Wahrheit? Hatte Jarod sie deshalb mitgenommen, damit sie nicht Lyle und dem Centre ausgeliefert war?

"Was ist los, Parker?" wisperte Lyle auf einmal dicht neben ihrem Ohr. "Ist es dir am Ende vielleicht lieber, daß unser kleiner Pretender mir zuvorgekommen ist?"

"Natürlich nicht", antwortete sie scharf.

"Wo ist er eigentlich?" erkundigte sich Lyle beiläufig. Miss Parker kniff die Augen zusammen.

"Wieso gehst du nicht und versuchst, es selbst herauszufinden?" erwiderte sie verärgert. "Ich habe jedenfalls noch ein paar Tage Urlaub übrig, und solange Jarod nicht in Maine auftaucht, ist es mir egal, wo er ist."

Ihr entging das interessierte Aufblitzen in Lyles Augen, als sie Maine erwähnte.

"Sorry, Schwesterchen, aber deinen Urlaub wirst du wohl vergessen können. Nach den letzten Ereignissen will das Triumvirat Jarod endlich zurück im Centre sehen. Und dagegen kann nicht einmal unser guter alter Dad etwas unternehmen."

"Großartig", zischte Miss Parker entnervt. "Wirst du mir jetzt endlich aus dem Weg gehen?"

Lyle machte einen Schritt zur Seite.

"Aber gerne. Mir ist sowieso gerade eingefallen, daß ich noch etwas zu erledigen habe. Ich sehe dich in ein paar Tagen." Er zwinkerte ihr zu, dann drehte er sich um und ging mit langen Schritten den Korridor entlang. Sie sah ihm ein paar Sekunden lang nach, hin und hergerissen zwischen ihrer Wut auf ihn und dem unguten Gefühl, das sich in ihr regte. Schließlich unterdrückte sie ihre Vorahnung und setzte ihren Weg fort.

Ein paar Minuten später erreichte sie den Technikraum. Broots saß vor dem Computer, mehrere Aktenstapel um sich herum, und tippte fleißig. Sydney saß an einem Tisch in seiner Nähe, ebenfalls vertieft in seine Arbeit. Er sah auf, als er Miss Parker hereinkommen hörte.

"Ah, guten Morgen, Miss Parker", begrüßte er sie beinahe fröhlich. Mißtrauisch erwiderte sie seinen Blick. Sie kannte Sydney gut, und im Moment war sie sich fast sicher, daß er irgend etwas vorhatte.

"Morgen, Sydney, Broots. Was haben Sie für mich?"

Broots drehte sich zu ihr um und grinste leicht.

"Wir haben eine Spur von Jarod", erklärte er, offenbar zufrieden mit sich selbst.

Miss Parker seufzte, beinahe verzweifelt bemüht, die Schuldgefühle zu unterdrücken, die Broots' Worte in ihr ausgelöst hatten. Sie mied Sydneys Blick, da sie genau wußte, daß er ihr ihre innere Zerrissenheit ansehen würde.

"Raus damit, Broots", sagte sie nur.

"Er ist in Nebraska", antwortete Sydney an seiner Stelle, zwang sie damit, ihn wieder anzusehen.

"Nebraska. Anscheinend zieht es ihn in letzter Zeit von einem kalten Ort zum anderen."

'Nicht, daß es dort kälter sein könnte als in meiner Nähe', dachte sie in einem Anflug von Selbstironie.

"Was macht er dort?" erkundigte sie sich so desinteressiert wie möglich.

"Offenbar leitet er eine Rettungsaktion in den Bergen", erklärte Sydney. Miss Parker fand, daß er eine Spur zu gleichgültig klang.

"Und er ist noch immer dort?"

"Oh, so wie es aussieht, wird er noch mindestens zwei Tage dort sein, da sich das Wetter verschlechtert hat", sagte Broots.

"Wir sollten ihn dort antreffen, wenn wir uns gleich auf den Weg machen", fügte Sydney hinzu. "Mr. Raines billigt unser Vorgehen, und er hat uns Angelo zur Verfügung gestellt, damit diesmal auch wirklich nichts schiefgehen kann."

Miss Parker kniff die Augen zusammen. Angelo? Wieso machte das für sie keinen Sinn? Angelo mochte ihnen vielleicht helfen können, vom Centre aus eine Spur von Jarod zu finden, aber wenn es darum ging, Jarod zu fangen, würde er ihnen doch nur im Weg sein.

"Ich bin mir nicht sicher, daß Angelo uns von Nutzen sein wird", sagte sie langsam.

"Aber ich fürchte, Mr. Raines besteht darauf, daß wir ihn mitnehmen."

Miss Parker seufzte erneut.

"Na schön, von mir aus. Wir haben schon genug Zeit verschwendet. Ich will, daß wir in einer Stunde unterwegs sind."

*******

Sydney lächelte, als er die Hütte aufschloß und überlegte, ob der schwierigste Teil wohl schon hinter ihnen lag oder ob er ihnen erst noch bevorstand. Miss Parker hierher nach Nebraska zu locken war mehr als einfach gewesen, aber auf die Neuigkeiten, die sie hier erwarteten, würde sie wohl nicht besonders gut reagieren.

"Ich kann einfach nicht glauben, daß ich schon wieder in einer gottverdammten Hütte mitten im Nirgendwo festsitze", murmelte Miss Parker irgendwo hinter Sydney. Er runzelte die Stirn über ihren Kommentar, beschloß aber, sie erst später danach zu fragen.

"Wo ist Angelo?" erkundigte er sich statt dessen.

"Er spielt draußen im Schnee", erwiderte Miss Parker abwesend, während ihr Blick durch das Wohnzimmer der Hütte schweifte. "Wenigstens müssen wir nicht lange bleiben. Am besten fangen wir gleich damit an, Jarod ausfindig zu machen."

"Wir sollten lieber warten, bis Broots hier eintrifft", meinte Sydney. Miss Parker drehte sich zu ihm um.

"Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum er nicht mit uns gekommen ist", sagte sie. Ihr Tonfall gab Sydney das Gefühl, es mit einer trotzigen Sechsjährigen zu tun zu haben.

Sydney seufzte innerlich. Der schwierige Teil stand ihnen eindeutig noch bevor.

"Sie waren diejenige, die so schnell wie möglich aufbrechen wollte, Miss Parker", erinnerte er sie. "Es ist viel einfacher für Mr. Broots, die Daten über Jarods möglichen Aufenthaltsort im Centre auszuwerten."

Er hoffte, daß sie seine Erklärung akzeptieren würde. Gleichzeitig fragte er sich, wo Broots blieb. Auch wenn sie durch den Jet einen Zeitvorsprung hatten, sollte er doch so langsam bei der Hütte eintreffen.

Miss Parker verzog das Gesicht.

"Wir warten noch eine Stunde. Wenn er dann nicht hier ist, brechen wir ohne ihn auf", erklärte sie in einem Tonfall, der jeden Widerspruch im Keim erstickte. Sydney nickte nur, dann griff er nach seiner Tasche und machte sich auf den Weg in sein Zimmer.

*******

Miss Parker stand am Fenster und blickte hinaus auf die schneebedeckte Landschaft. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Alles hier erinnerte sie an Claremont. Und viel schlimmer noch, es erinnerte sie an ihre Zeit mit Jarod nach der Explosion. Der Schnee, die Hütte, die Kälte...

Eine Bewegung vor dem Fenster lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Vergangenheit ab. Angelo tollte im Schnee herum, einen begeisterten Ausdruck auf dem Gesicht.

'Wenigstens einer, der hier glücklich ist', überlegte Miss Parker düster. Doch dann entlockte ihr Angelo ein Lächeln, als er kopfüber einen kleinen Hügel herunterrollte. Miss Parker schüttelte den Kopf. Wann hatte sie aufgehört, sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen?

Erschöpft lehnte sie sich an den Fensterrahmen. Sie wollte überhaupt nicht hier sein. Viel lieber wäre sie jetzt wieder in Maine, bei Ben. Der Gedanke an ihn versetzte ihr einen Stich. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Schon den ganzen Tag fühlte sie sich unwohl, sobald sie an Ben dachte. Aber vermutlich lag das nur daran, daß sie jetzt nicht bei ihm war.

Statt dessen war sie hier, um Jarod zu fangen. Dieser Gedanke war noch viel unerträglicher für sie. Nicht nur, daß sie ihn nicht mehr fangen wollte, sie fragte sich auch, was aus ihm werden würde, wenn er zurück im Centre war. Viel zu deutlich erinnerte sie sich daran, wie er sich in der kurzen Zeit verändert hatte, als er nach der Sache mit Major Charles und dem Klon von Raines zurückgebracht worden war.

Damals war es leichter für sie gewesen. Es war nicht sie gewesen, die ihn eingefangen hatte, sondern Raines. Dadurch waren ihre Schuldgefühle weniger heftig gewesen. Doch dieses Mal würde sie diejenige sein, die ihn zurück ins Centre brachte, zurück zu einem Leben in Gefangenschaft und Ausbeutung. Und ihr Vater würde sie mit seinem falschen Stolz überschütten.

Der Gedanke daran machte sie krank. Vielleicht war es jetzt endlich Zeit, ihren Teil der Abmachung einzufordern. Jarods Freiheit für ihre.

Aber was würde dann aus ihrer Jagd nach Tommys Mörder werden?

*******

"Angelo, du solltest jetzt lieber wieder ins Haus kommen", rief Sydney. Er wartete, bis der Empath an ihm vorbei nach drinnen gegangen war, dann wollte er die Tür schließen. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Ein Taxi kam den schmalen Weg zur Hütte hinauf. Erleichtert seufzte Sydney.

'Gott sei Dank, sie sind hier.'

"Miss Parker, Broots ist hier."

Sydney machte ein paar Schritte nach draußen, um den Neuankömmlingen entgegen zu gehen.

"Wurde auch Zeit", hörte er Miss Parkers Stimme von drinnen. Besorgt runzelte er die Stirn. Ihre Stimmung schien sich sogar noch verschlechtert zu haben. Hoffentlich würde sie nicht zu heftig reagieren, wenn sie herausfand, was er getan hatte. Aber schließlich war es ja nur zu ihrem Besten geschehen.

Die Türen des Taxis öffneten sich, und Sydney erkannte sofort den Grund für Broots' Verspätung.

"Was ist denn mit Ihnen passiert?"

"Bitte fragen Sie mich nicht, Syd", erwiderte der Techniker. Ein Teil seiner unnatürlichen Blässe wich einem kräftigen Rotton.

Sydney starrte auf Broots' linken Arm, der in einem Gipsverband steckte. Er öffnete den Mund, um entgegen Broots' Bitte doch etwas dazu zu sagen.

"Hallo, Sydney!"

Debbie kletterte aus dem Taxi und kam ihm entgegen. Sie umarmte ihn kurz und lächelte ihn strahlend an.

"Daddy hatte einen kleinen Unfall auf dem Flughafen", erklärte sie mit einem Kichern. Ihr Vater beugte sich ein wenig zu ihr hinunter.

"Erinnerst du dich noch an das Gespräch über Geheimnisse, das wir vorhin hatten?" fragte er.

"Sicher, Dad", erwiderte Debbie. Sie zwinkerte, und Broots rollte mit den Augen.

"Dann ist es ja gut", murmelte er. "Haben Sie Miss Parker schon erzählt..."

"Mir was erzählt?" erkundigte sich Miss Parker von der Tür her. Debbies Gesicht hellte sich beträchtlich auf, als sie Miss Parker sah. Sydney hielt den Atem an.

"Sydney!" Miss Parkers Stimme war ein düsteres Grollen. "Was zum Teufel..."

Weiter kam sie nicht, denn Debbie hatte mittlerweile die Distanz zu ihr überbrückt und sie in ihre Arme geschlossen. Parker erwiderte die Umarmung, und für einen Moment wich alle Wut aus ihrem Blick. Aber der Moment war viel zu schnell vorbei, und Sydney begriff, daß jetzt definitiv der schwierige Teil begann. Und zwar für ihn.

"Wieso gehen wir nicht alle erst mal ins Haus?" schlug er vor, schob Miss Parkers Fragen noch für einen Augenblick vor sich her. Er ignorierte den wütenden Blick, den sie ihm zuwarf, als er an ihr vorbeiging.

"Wow, was für eine tolle Hütte!" rief Debbie begeistert. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, sah sich dabei neugierig um. Miss Parkers Blick ruhte ein paar Sekunden lang auf Broots' Tochter, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Sydney zu. Der Psychiater begann, sich unter ihrem Blick unwohl zu fühlen, wußte er doch um die heftigen Gefühle, die allzu oft unter Miss Parkers scheinbar glatter, kalter Oberfläche brodelten.

"Ihre Zimmer sind im ersten Stock", sagte Sydney, obwohl er eigentlich nicht unbedingt mit Miss Parker alleingelassen werden wollte. Broots seufzte erleichtert.

"Komm, Debbie. Laß uns unsere Sachen raufbringen."

"Ist gut, Dad."

Sydney sah den beiden nach, als sie die Treppe raufgingen. Miss Parker machte ein paar Schritte auf ihn zu, bis sie dicht vor ihm stand.

"Was soll das, Sydney?" fragte sie ihn leise. Ihr ruhiger Tonfall täuschte ihn nicht über ihren Zorn hinweg. "Jarod ist überhaupt nicht hier, habe ich recht? Ich habe doch gleich gewußt, daß hier etwas nicht stimmt."

"Miss Parker, Sie hatten Urlaub nötig", begann er.

"Hören Sie auf!" unterbrach sie ihn aufgebracht. Sie zitterte. Sydney begriff, daß sie sich nur noch mit Mühe beherrschte. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß sein Plan vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war.

"Ich wollte, daß sie mit Menschen zusammen sind, die Sie mögen."

Miss Parker atmete tief ein.

"Und dafür haben Sie mich hierher gebracht. In eine einsame Hütte, mitten im Schnee", sagte sie sehr leise. "Vielen Dank, Sydney."

Sie drehte sich um, um zu gehen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte sie ab. Mit energischen Schritten ging sie die Treppe hinauf. Ein paar Sekunden später hörte Sydney, wie sie die Tür ihres Zimmers geräuschvoll hinter sich schloß.

"Ich schätze, Sie hat Ihre Sorge nicht zu würdigen gewußt", sagte Broots von der Treppe her.

"Ist schon gut, Broots. Geben Sie ihr ein bißchen Zeit."

"Warum ist Miss Parker wütend?"

Debbie war hinter ihrem Vater aufgetaucht.

"Ich glaube nicht, daß sie wirklich wütend ist", beantwortete Sydney ihre Frage. "Es ist nur sehr lange her, seit sie zum letzten Mal Urlaub gemacht hat."

"Jemand sollte nach ihr sehen", erklärte das Mädchen ernst. Bevor Broots sie aufhalten konnte, war sie die wenigen Stufen bis zum Ende der Treppe hinauf gelaufen.

"Debbie, warte!" rief Broots.

"Lassen Sie sie gehen. Ich glaube, sie ist jetzt genau das, was Miss Parker braucht."

*******

Der Raum war beinahe völlig dunkel, nur erhellt vom schwachen Licht eines Computerbildschirms. Major Charles starrte unentschlossen auf die Karte, die darauf zu sehen war. Es war Zeit, diesen Ort zu verlassen und weiterzuziehen, schon allein um der Sicherheit des Jungen willen.

"Dad?"

"Mhm?"

Er drehte sich um und musterte Jay, der in der Tür stand. In den letzten Wochen hatten sie viel Zeit gehabt, um sich aneinander zu gewöhnen, und Major Charles hatte fast das Gefühl, eine zweite Chance bekommen zu haben. Eine Chance, seinen Sohn aufwachsen zu sehen. Wie immer, wenn er Jay ansah, mußte er unwillkürlich an Jarod denken. Was sein ältester Sohn wohl gerade machte?

"Ich kann nicht schlafen."

Der Major unterdrückte ein Lächeln. Trotz der Umstände, unter denen Jay aufgewachsen war, war er doch ein ganz normaler Teenager. Und genau wie ein ganz normaler Teenager schien er so gut wie keinen Schlaf zu brauchen.

"Hm, dann könntest du mir vielleicht dabei helfen, eine wichtige Entscheidung zu treffen", erwiderte Charles langsam. Jays Miene hellte sich auf.

"Worum geht es, Dad?" erkundigte er sich neugierig, als er zu seinem Vater ging und sich auf die Lehne seines Stuhls setzte.

"Erinnerst du dich noch an Miss Parker?"

Ein nachdrückliches Nicken beantwortete seine Frage.

"Natürlich!"

"Sie hat uns vor ein paar Tagen einen großen Gefallen getan", erklärte Charles. "Und ich überlege gerade, ob wir ihr dafür nicht persönlich danken sollten." 'Außerdem möchte ich sichergehen, daß ich mich nicht in dem Grund täusche, aus dem sie uns geholfen hat', fügte er in Gedanken hinzu.

Jay sah ihn begeistert an.

"Worauf warten wir noch? Laß uns gehen!"
Part 5 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.
Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel.

Zur Handlung: Miss Parker sucht einen Weg, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen...



Kostbare Momente
Teil 5

von Miss Bit





Broots ging leise die Treppe hinunter. Es war mitten in der Nacht, aber er konnte einfach nicht schlafen. Vielleicht würde ihm ein kleiner Snack dabei helfen, seine Schlaflosigkeit zu überwinden.

Im Halbdunkel tappte er Richtung Küche, schüttelte dabei leicht den Kopf, als er an die Aufregung zurückdachte, die es am Abend gegeben hatte. Debbie war zum Abendessen erschienen und hatte verkündet, daß Miss Parker Kopfschmerzen hatte und deshalb ihr Zimmer heute nicht mehr verlassen würde. Die Stimmung beim Essen war daraufhin entsprechend gedrückt gewesen.

Nach dem Essen hatte Broots eine lange Diskussion mit seiner Tochter geführt, die damit geendet hatte, daß Debbie jetzt ein Zimmer für sich allein hatte, ebenso wie Angelo und Miss Parker. Broots teilte sein Zimmer mit Sydney. Noch einmal schüttelte Broots den Kopf. Irgendwie endete es immer auf diese Weise.

Im Gegensatz zu ihm hatte der Psychiater offenbar überhaupt keine Probleme mit dem Schlafen, auch wenn er sichtlich besorgt um Miss Parker war. Broots hatte lange wachgelegen und nachgedacht. Etwas stimmte nicht mit Miss Parker. Nach außen mochte sie wie immer wirken, vielleicht sogar noch aggressiver als sonst, aber Broots kannte sie besser.

In Gedanken versunken betrat er die Küche.

"Ist es nicht ein bißchen spät für einen Spaziergang, Broots?" fragte eine leise, amüsiert klingende Stimme aus der dunklen Küche. Zutiefst erschrocken stolperte Broots einen Schritt nach hinten, unterdrückte nur mit Mühe einen überraschten Aufschrei. Hastig schaltete er das Licht ein.

"Miss Parker?"

Sie saß am Küchentisch, trug einen dunkelblauen Morgenmantel über ihrem hellblauen Pyjama. Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

"Gut erkannt, Broots", stellte sie fest. Er runzelte die Stirn.

"Uh, ich wollte Sie nicht stören. Ich gehe einfach wieder nach oben..."

"Broots."

Es war ihr Tonfall, der ihn zurückhielt. Miss Parker klang nicht wie sonst. Da war eine Sanftheit in ihrem Tonfall, der sie unendlich verletzlich erschienen ließ.

"Leisten Sie mir ein bißchen Gesellschaft."

Anders als sonst stellten ihre Worte keinen Befehl dar; sie waren eine Einladung. Trotzdem hatte er keine andere Wahl, als ihre Bitte zu erfüllen. Etwas in ihrem Blick zwang ihn geradezu, sich zu ihr zu setzen.

Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er sich eine Tasse Tee machte. Sie sah müde aus. Ihre blauen Augen spiegelten nur einen Bruchteil der Vitalität wider, die sie normalerweise ausstrahlten. Die Aura der Unnahbarkeit, die Miss Parker fast immer umgab, fehlte völlig. Statt dessen wirkte sie verloren, verletzbar. 'Nein', korrigierte sich Broots in Gedanken, 'nicht verletzbar. Verletzt.'

Eine völlig irrationale Wut begann, sich in ihm auszubreiten. Er empfand Wut auf denjenigen, der sie verletzt hatte.

Wie hypnotisiert sah er sie an. Miss Parkers Blick reichte ins Leere; ihre Hände umschlossen die Kaffeetasse vor ihr auf dem Tisch so fest, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Broots fühlte eine Welle der Sympathie und der Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Selbst hier, mitten in der Nacht in einer Hütte mitten im Nirgendwo, fand er sie wunderschön.

"Möchten Sie mir erzählen, was mit Ihrem Arm passiert ist?"

Es dauerte einen Augenblick, bis ihre Worte einen Weg durch seine Gedanken fanden. Noch einen Moment später hatte er auch ihren Sinn erfaßt. Die ungewohnte Art der Formulierung überraschte ihn ein wenig. Normalerweise hätte sie wohl einfach eine Erklärung verlangt. Doch jetzt ließ sie ihm die Wahl. Broots hätte ihr in diesem Moment alles erzählt, wenn es ihm dadurch nur gelang, den tieftraurigen Ausdruck aus ihren Augen zu vertreiben.

Er nahm seinen Tee und setzte sich ebenfalls an den Tisch, direkt gegenüber von Miss Parker. Ihr Blick kehrte aus der Ferne zurück, ruhte nun auf ihm. Ohne daß er es verhindern konnte, spürte er, wie eine leichte Röte in seine Wangen stieg. Es war nicht so sehr ihr wohlwollendes Interesse, das ihn verlegen machte - viel mehr war es sein Wunsch, sie zu beschützen.

"Oh, das ist keine besonders interessante Geschichte", sagte er langsam. Fasziniert sah er, wie der Hauch eines Lächelns an ihren Mundwinkeln zupfte.

"Wieso lassen Sie mich das nicht selbst entscheiden?"

Broots schluckte. Dann räusperte er sich. Ihre Stimme klang weich wie Samt, kein Spott und keine Herablassung schwangen darin mit. Ob Catherine Parker genauso gewesen war? So sehr er es auch versuchte, er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß Miss Parkers Mutter auch nur zu einem Hauch mehr Wärme fähig gewesen war als ihre Tochter in diesem Moment ausstrahlte.

"Na gut", brachte er irgendwie hervor. "Es ist vor dem Flughafen passiert. Wir waren spät dran, und Debbie wollte sich unbedingt alles ansehen - sie hatte ja keine Ahnung, wo wir hinwollten. Nun, jedenfalls war da diese religiöse Gruppe, die direkt vor dem Gebäude eine Art Stück aufgeführt hat. Ich hatte eine... Diskussion mit Debbie, deshalb habe ich nicht auf den Weg geachtet. Zuerst bin ich mit einem der Kerle zusammengestoßen, und keine zwei Sekunden später stand ich plötzlich auf einem Stück Schnee, das durch das ganze Herumgetanze spiegelglatt geworden war. Den Rest können Sie sich sicher denken", meinte er mit einem Schulterzucken und sah hinunter auf seinen Gipsarm.

"Und warum wollten Sie das Sydney nicht erzählen?" erkundigte sich Miss Parker mit einem Lächeln, das in Broots jegliche Erinnerung an verletzende oder beleidigende Bemerkungen von ihr verblassen ließ.

"Uh, nun ja... Das war noch nicht ganz alles. Einige der Leute, die zugesehen haben, dachten, das gehörte zur Vorstellung. Sie... haben mir ein paar Münzen gegeben", murmelte er verlegen. Zu seiner Überraschung lachte Miss Parker leise. Broots lächelte, zufrieden, daß es ihm wenigstens für ein paar Sekunden gelungen war, sie von ihrer Traurigkeit abzulenken. Wärme erfüllte ihn, und es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß diese Wärme von Miss Parker kam. Er sah sie an, überlegte, wie er ihr etwas davon zurückgeben konnte. Sydney fiel ihm wieder ein.

"Miss Parker, ich... Es gibt etwas, das Sie wissen sollten", sagte er ernst. Sie erwiderte seinen Blick, runzelte ganz leicht die Stirn. Da war ein merkwürdiger Ausdruck in ihren Augen, ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte.

"Ich höre", sagte sie leise.

"Es ist Sydney", sprudelte Broots hervor. "Er hat es nicht böse gemeint, wissen Sie. Sie machen nie Urlaub, und er hat sich solche Sorgen um Sie gemacht. Sydney dachte, das hier wäre die einzige Möglichkeit, Sie mal für eine Weile vom Centre fortzubringen. Er wollte einfach nur, daß Sie sich wohlfühlen."

Ihr Blick ruhte auf ihm. Die Tiefe der Emotionen, die sich in ihren Augen widerspiegelten, überraschte ihn. Gleichzeitig fühlte er sich fast überwältigt von dem Vertrauen, das sie ihm in diesem Augenblick entgegenbrachte. Nie zuvor hatte sie ihn so offen sehen lassen, was sie empfand.

Miss Parker erhob sich langsam. Ihre Finger lösten sich von der Tasse, beinahe widerstrebend, wie es schien.

"Ich weiß, daß Syd es nur gut gemeint hat. Es war einfach nur kein guter Zeitpunkt; das ist alles."

Sie machte zwei Schritte, blieb dann neben ihm stehen und legte ihm eine Hand ganz leicht auf die Schulter.

"Sie sind ein wundervoller Vater. Debbie kann sich glücklich schätzen. Und Sie sind ein genauso guter Freund, Mr. Broots."

Er hielt den Atem an, als er hörte, wie sie ihn mit 'Mr. Broots' anredete. Hatte sie irgendeine Ahnung, wieviel ihm das bedeutete? Bevor er irgend etwas sagen konnte, hatte sie ihre Hand von ihm zurückgezogen, nur um sie einen Herzschlag lang auf seine zu legen.

"Schlafen Sie gut", wisperte sie. Dann verließ sie die Küche, ließ Broots völlig verwirrt hinter sich zurück.

Nach ein paar Minuten löste er sich aus seiner Starre. Er stand auf, machte das Licht aus und ging zurück in sein Zimmer.

"Sydney?" fragte er, dort angekommen.

Der Psychiater bewegte sich unwillig in seinem Bett.

"Mhm... was?" murmelte er schläfrig.

"Ist es möglich, daß man von Schmerztabletten schwere Halluzinationen bekommt?"

Erst jetzt richtete sich Sydney auf, blinzelte erstaunt in die Dunkelheit.

"Nicht, daß ich wüßte. Wieso?"

"Oh, nur so. Schlafen Sie ruhig weiter", erwiderte Broots mit einem verträumten Lächeln. Hoffentlich wachte er nicht zu bald aus diesem Traum auf.

*******

Debbie wanderte lustlos durch den frischgefallenen Schnee. Was für ein eigenartiger Urlaub!

Nicht nur, daß ihr Vater sie völlig ohne Vorwarnung mit hierher genommen hat, nein, er hatte ihr noch nicht einmal erzählt, daß sie Miss Parker treffen würden. Dabei mußte er doch gewußt haben, wie sehr sie sich gefreut hätte, wenn er es ihr gleich gesagt hätte.

Es war noch ganz früh am Morgen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen; alle anderen in der Hütte schliefen noch. Also hatte Debbie beschlossen, die Gegend auf eigene Faust zu erkunden. Das Problem war nur, daß es nicht viel zu erkunden gab. Außer der Hütte gab es hier nur Bäume und Schnee. Wenn doch nur...

Sie sah auf, als sie das Motorengeräusch hörte. Ein dunkler Wagen kam die Auffahrt herauf. Einen Moment lang überlegte sie erschrocken, ob sie sich verstecken sollte. War es einer der Wagen, vor denen ihr Vater sie gewarnt hatte? Nach ein paar Sekunden stellte sie erleichtert fest, daß es nicht so war. Ihre Neugier gewann die Oberhand. Sie ging zum Haus zurück, um sich ihre Besucher aus der Nähe anzusehen.

Gerade, als sie in Sichtweite kam, sah sie, wie jemand aus dem Wagen ausstieg. Überrascht blinzelte sie. Das war doch ein Junge! Und noch dazu sah er so aus, als wäre er in ihrem Alter...

"Hey!" rief er, sobald er sie entdeckt hatte. Debbie neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Hey", erwiderte sie dann und ging auf ihn zu. "Wer bist du?"

"Ich bin Jay", erklärte der Junge und lächelte. "Und wie ist dein Name?"

"Debbie", stellte sie sich vor und erwiderte das Lächeln. Sie entschied, daß sie Jay mochte. Da war etwas an ihm, das ihn von allen anderen Jungen in ihrem Alter unterschied.

"Ich unterbreche euch ja nur ungern", ließ sich auf einmal eine andere Stimme vernehmen, und Debbie sah, wie auf der anderen Seite des Wagens ein Mann ausstieg, "aber wir haben eine lange Fahrt hinter uns, und ich wüßte wirklich gern, ob wir hier richtig sind."

"Wir müssen richtig sein, Dad", sagte Jay. "Das hier ist die einzige Hütte im Umkreis von vier Kilometern."

Der Mann lächelte, dann wandte er sich an Debbie.

"Du bist Debbie, habe ich das richtig verstanden?" erkundigte er sich. Sie nickte nur.

"Gut, Debbie. Ich bin Major Charles, und meinen Sohn Jay hast du ja wohl schon kennengelernt. Wir sind auf der Suche nach einer Frau. Ihr Name ist Miss Parker."

Debbie sah zu Jay und dann wieder zurück zu seinem Vater, während sie überlegte, was sie den beiden sagen sollte. Schließlich traf sie eine Entscheidung.

"Miss Parker macht hier Urlaub", erklärte sie dann fest. "Arbeiten Sie mit ihr zusammen?"

Zu ihrer Überraschung lachte der Major leise.

"Oh nein, ganz bestimmt nicht! Ich bin ein alter Freund ihrer Mutter und möchte privat mit ihr sprechen. Jay und ich wollen keineswegs ihren Urlaub ruinieren."

Debbie lächelte erleichtert.

"Miss Parker schläft noch. Aber ich kann sie wecken gehen", bot Debbie an und machte sich bereits auf den Weg zurück zum Haus.

"Hm, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist", brummte Jays Vater nachdenklich, doch dann zuckte er mit den Schultern. "Na ja, warum eigentlich nicht? Schließlich sind wir ja hier, um sie zu sehen. Aber vielleicht solltest du ihr nicht gleich verraten, wer sie besucht, okay? Das würde die ganze Überraschung verderben", fügte er mit einem Grinsen hinzu. Jay erwiderte sein Grinsen, dann zwinkerte er Debbie verschwörerisch zu. Debbie kicherte leise, als sie zurück ins Haus rannte. Mann, sie konnte es kaum erwarten, Miss Parkers überraschtes Gesicht zu sehen!

*******

"Aufwachen, Miss Parker. Unten ist Besuch für Sie", wisperte eine Stimme dicht neben ihrem Ohr. Die Stimme kam ihr vage bekannt vor...

Widerwillig öffnete Miss Parker die Augen, blinzelte im angenehmen Halbdunkel ihres Zimmers. Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie, daß Debbie auf dem Rand ihres Bettes saß, ein vergnügtes Funkeln in den Augen. Miss Parker fragte sich einen flüchtigen Moment lang, ob sich Broots' Tochter absichtlich so plaziert hatte, daß sie die Uhrzeit nicht erkennen konnte. Dann fielen ihr Debbies Worte wieder ein.

"Besuch?" murmelte sie schläfrig.

Debbie nickte, und Miss Parker begriff, daß sie nicht von sich aus sagen würde, wer es war. Sie hob fragend eine Braue.

"Wer..."

"Verrate ich nicht", unterbrach Debbie ihre Frage mit einem strahlenden Lächeln. Miss Parker sah sie ein paar Sekunden lang an, dann drehte sie sich um, ließ ihr Gesicht in das weiche Kissen sinken und murmelte: "Ich brauche einen Kaffee."

Debbie ließ sich von ihrer Reaktion nicht beeindrucken, sondern zog ihr ungerührt die Decke weg.

"Kommen Sie schon, Miss Parker! Sie können die beiden nicht ewig warten lassen."

"Mhm, schon gut", brummte Miss Parker und gab sich geschlagen. Sobald Debbie sicher war, daß sie auch wirklich aufstehen würde, machte sie sich auf den Weg zur Tür.

"Ich gehe Dad wecken", erklärte sie. "Und dann mache ich Frühstück für alle."

Miss Parker setzte sich im Bett auf. Als Debbie die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich schloß, fiel Miss Parker plötzlich wieder ein, was sie gerade gesagt hatte. Debbie hatte von zwei Leuten gesprochen. Eine Mischung aus Wut und Angst breitete sich langsam in Miss Parker aus. War es möglich, daß ihr Vater und Lyle...

Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Sie stand auf und ging in ihr kleines Badezimmer.

Zehn Minuten später verließ sie ihr Zimmer, um hinunter in die Küche zu gehen. Aus dem Erdgeschoß flutete ihr ein Stimmengewirr entgegen. Offenbar fand in der Küche eine Art Diskussion statt. Miss Parker verzog das Gesicht. Wenigstens schien keine der Stimmen ihrem Vater zu gehören.

Bevor sie die Küche betreten konnte, kam ihr Sydney entgegen. Er sah ein wenig blaß aus, als hätte ihn irgend etwas erschrocken.

"Miss Parker, wir haben Besuch", erklärte er, sein Tonfall vorsichtig. "Nun, genaugenommen ist der Besuch für Sie."

"Ist es mein Vater?" wollte sie von ihm wissen. "Falls ja, dann können Sie ihm sagen, daß ich nicht..."

"Nein, es ist nicht Ihr Vater."

Sydney sah sie unschlüssig an. Überrascht bemerkte sie, wie sein Blick zu der Stelle glitt, an der sie normalerweise ihre Waffe trug. Ihr Blick bohrte sich in seinen, und als er nach einer Minute noch immer keine Anstalten machte, etwas zu sagen, schob sie ihn ungeduldig zur Seite. Sie atmete tief ein und betrat die Küche.

Als erstes sah sie den Jungen, der am Küchentisch saß. Ungläubig starrte sie ihn an. Es war absolut unmöglich, daß er hier war.

"Ah, Miss Parker! Wie schön, Sie endlich einmal wiederzusehen."

Die Stimme ließ sie herumfahren. Jetzt war ihr klar, warum Sydney sich überzeugt hatte, daß sie ihre Waffe nicht bei sich trug.

"Major Charles."

Ihr Tonfall verriet nichts von den Emotionen, die in diesem Moment in ihr tobten.

"Ich hoffe, Sie können uns verzeihen, daß wir Sie hier so überfallen", fuhr Jarods Vater fort. Sein Blick enthielt eine stumme Bitte, die Miss Parker ignorierte. Statt dessen sah sie zurück zu dem Jungen. Jarods Klon, der genauso aussah wie Jarod es in dem Alter getan hatte. Ihr Blick glitt weiter zu Debbie, die neben dem Jungen am Tisch sah, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Die Spannung zwischen den Erwachsenen schien sie gar nicht zu bemerken.

Miss Parker verspürte auf einmal nur noch den Wunsch, die Küche so schnell wie möglich zu verlassen. Sie wollte weg von hier. Unbewußt machte sie einen Schritt nach hinten. Major Charles berührte sie am Arm, und sie sah hinunter auf seine Hand. Er verstand ihre stumme Andeutung und ließ sie wieder los, doch sein Blick hielt ihren fest.

"Ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Miss Parker", bat er sie leise. Sie nickte nur, da sie ihrer Stimme nicht länger traute. Mit einem letzten Blick zu dem Jungen verließ sie die Küche, griff nach ihrer Jacke, die neben der Tür hing, und ging nach draußen. Major Charles war dicht hinter ihr.

Nachdem sie sich ein paar Meter vom Haus entfernt hatten, blieb Miss Parker schließlich stehen. Sie schloß ihre Jacke und drehte sich zu Major Charles um.

"Wieso sind Sie hier?" fragte sie ruhig. 'Und wieso haben Sie den Jungen mitgebracht?', wisperte die leise Stimme in ihr. Es schmerzte sie, den Jungen wiederzusehen. Er weckte Erinnerungen in ihr, die sie lieber vergessen hätte.

"Claremont", erwiderte er. "Ich weiß, was Sie dort getan haben. Und deswegen bin ich hier - um Ihnen zu danken."

Miss Parker lachte leise, aber es war kein amüsiertes Lachen.

"Sie waren nicht einmal dort", sagte sie leise. "Weil Sie von vorneherein wußten, daß es eine Falle von Raines war. Ich habe mich wie eine Idiotin benommen."

Der Major runzelte die Stirn und machte einen Schritt auf sie zu.

"Ich sehe nicht, was daran idiotisch sein soll, jemandem helfen zu wollen. Sie haben Ihr Leben für mich riskiert."

Ein Schulterzucken war Miss Parkers Antwort darauf.

"Genau das habe ich gemeint."

Major Charles sah sie mit großen Augen an, dann lachte er amüsiert.

"Ich bin sehr froh zu sehen, daß es Ihnen wieder besser geht. Nach dieser Sache auf dem Flugplatz habe ich mir einige Sorgen gemacht."

"Um Jarod?"

Er schnaubte.

"Sie machen es einem nie leicht, oder, Miss Parker? Aber Jay hat schon recht. Sie sind wirklich in Ordnung. Wissen Sie, in den ersten Tagen hat er fast ständig von Ihnen geredet."

Miss Parker kniff ganz leicht die Augen zusammen.

"Jay?"

"Der Junge", erklärte der Major und seufzte. "Ich habe zwei Tage gebraucht, bis ich mich endlich entschieden hatte, was ich ihm sagen soll. Dann habe ich ihm einfach die Wahrheit gesagt - darüber, wo er herkommt und darüber, wer ich bin."

Sein Blick ruhte auf ihr. Miss Parker fühlte sich ein wenig unwohl. Ihre letzte Begegnung war ganz anders verlaufen, als sie es sich immer vorgestellt hatte. Und jetzt stand er wieder vor ihr, ein alter Freund ihrer Mutter, der Mann, den sie lange für ihren Mörder gehalten hatte. Der Vater des Mannes, der so sehr ein Teil ihres Lebens war, daß sie ihn daraus ausgeschlossen hatte, um nicht an seinem Verlust zu zerbrechen.

"Warum sind Sie hier?" fragte sie ihn noch einmal. "Warum sind Sie nicht bei Jarod?"

"Weil ich bis vor kurzem noch dachte, daß Jarod sich im Centre befindet. Und solange ich keinen sicheren Platz für Jay gefunden habe, kann ich nicht ins Centre zurückkehren. Nicht einmal um Jarods Willen."

"Jarod ist wieder entkommen", informierte sie ihn. Er lächelte.

"Mhm, ich weiß. Nachdem mir klar geworden war, was Raines in Claremont plante, habe ich den Ort ganz genau im Auge behalten. Auf diese Weise bin ich dann sowohl über Sie als auch über meinen Sohn gestolpert. Allerdings sieht es so aus, als wäre Jarod schon wieder untergetaucht."

Miss Parker verzog das Gesicht.

"Das wird nicht lange so bleiben, verlassen Sie sich drauf", sagte sie düster, obwohl Unsicherheit in ihr vibrierte. Unter anderen Umständen wäre sie sicher gewesen, daß Jarod sich früher oder später bei ihr melden würde, aber nachdem, was in der Hütte zwischen ihnen passiert war, rechnete sie nicht mehr damit.

Der Major erwiderte ihren Blick. Irgendwie schien er ihre Gedanken zu erahnen.

"Wenn es Ihnen nicht zu viel ausmacht, wüßte ich gerne, was nach der Explosion passiert ist", sagte er.

"Es macht mir etwas aus", antwortete Miss Parker mit einer Schärfe, die ihr schon einen Augenblick später wieder leid tat. "Ich sehe keinen Grund, mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich weiß nicht, wo Jarod ist, und damit hat sich die Sache für mich erledigt."

Major Charles öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann überlegte er es sich anders. Das Mitgefühl in seinem Blick war mehr, als Miss Parker ertragen konnte. Ohne ein Wort drehte sie sich um und ging zurück zum Haus.

*******

Sydney stand am Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Im Haus herrschte eine angespannte Stimmung. Die beiden Kinder waren draußen, ebenso wie Angelo. Die drei tobten durch den Schnee und genossen ganz offenbar ihre Freiheit.

Broots saß auf der Couch; er war eingenickt und murmelte hin und wieder etwas Unverständliches im Schlaf. Major Charles saß in der Küche, und Miss Parker war vor mehr als einer Stunde zu einem Spaziergang aufgebrochen.

Seit sie von ihrem Gespräch mit Major Charles zurückgekehrt war, hatte sie mit niemandem mehr ein Wort gesprochen. Sydney seufzte schwer. Im Augenblick erschien ihm dieses Verhalten geradezu verlockend. Eigentlich sollte er in die Küche gehen und mit Jarods Vater sprechen, aber etwas hielt ihn zurück. Er war sich nicht ganz sicher, was - er wußte nur, daß er sich völlig irrational verhielt.

Nachdem er noch ein paar Sekunden lang ins Leere gestarrt hatte, beschloß er, daß er auch ein wenig frische Luft gebrauchen konnte. Leise öffnete er die Tür, griff nach seiner Jacke und trat nach draußen.

*******

Fünf Tage. Es war fünf Tage her, seit Miss Parker die Hütte verlassen hatte. Und zwei Tage später war er ebenfalls gegangen, weil er es einfach nicht länger ausgehalten hatte.

Jarod wippte langsam mit seinem Stuhl vor und zurück. Noch immer zerbrach er sich den Kopf darüber, was mit Miss Parker los war. Wieso hatte sie sich in der Hütte so... verletzend verhalten?

In den letzten Tagen hatte er kaum etwas anderes getan, als über sie nachzudenken. Wieder und wieder hatte er versucht, eine Erklärung zu finden, irgendeinen Hinweis, der ihm sagen würde, was zwischen ihnen stand.

Zunächst hatte er geglaubt, daß sie sich an ihm für seine Bemerkung über Tommy rächen wollte, aber das war einfach nicht Miss Parkers Art. Bisher hatte sie es ihn immer deutlich wissen lassen, wenn sie sich über ihn geärgert oder sich von ihm verletzt gefühlt hatte.

Was ihn am meisten belastete, war die Tatsache, daß er deutlich spüren konnte, daß sie sich durch ihr Verhalten selbst unglücklich machte. Aber wie schon so oft zuvor ließ sie nicht zu, daß er ihr half. Diesmal hatte sie ihn so heftig von sich fortgestoßen, daß er sich nicht einmal traute, bei ihr anzurufen.

Jarod griff nach seinem Handy, wie schon tausendmal zuvor an diesem Tag. Er konnte es einfach nicht. Mehrere Minuten lang starrte er auf das Telefon in seiner Hand, rang sich dann endlich zu einer Entscheidung durch.

Wenn er schon nicht mit ihr sprechen konnte, blieb ihm wenigstens noch Sydney.

Es dauerte nicht lange, bis sich der Psychiater am anderen Ende der Leitung meldete.

"Sydney hier", sagte er. Jarod fand, daß er ein wenig atemlos klang.

"Hi, Syd. Ich bin's, Jarod."

Für einen Moment herrschte überraschtes Schweigen.

"Jarod, na endlich! Wie geht es Dir?" antwortete Sydney dann. Ein eigenartiger Unterton schwang in seiner Stimme mit. Sydney verbarg etwas vor ihm, etwas, über das er nicht sprechen wollte.

"Ganz gut", erwiderte Jarod einsilbig. Sollte er nach ihr fragen?

"Bist du sicher?" Wie immer gelang es Sydney mühelos, Jarods Stimmung zu durchschauen.

"Ja, ich..."

Ein überraschter Ausruf von Sydney unterbrach ihn. Dann folgte ein dumpfes Pochen, und schließlich hörte Jarod etwas, das Kinderlachen sein mußte.

"Also gut, junge Dame", rief Sydney gedämpft, "ich habe ganz genau gesehen, daß du diesen Schneeball geworfen hast, und ich werde... Oh nein, Miss Parker, das werden Sie nicht..." Ein zweites Pochen war zu hören, dann folgte Stille.

"Jarod? Bist du noch da?" erkundigte sich Sydney nach einer kurzen Weile. Jarod runzelte die Stirn.

"Syd? Ist alles in Ordnung?"

Der ältere Mann machte ein abschätziges Geräusch, doch dann lachte er leise.

"Bitte entschuldige die Unterbrechung, Jarod. Es scheint, daß ich mitten in eine Schneeballschlacht geraten bin. Liebe Güte, du solltest Miss Parker sehen! Angelo und die Kinder haben nicht die geringste Chance gegen sie."

Völlig machtlos dagegen, spürte Jarod, wie heftige Eifersucht in ihm aufwallte.

"Broots und mir ist es gelungen, Miss Parker zu ein paar Tagen Urlaub zu überreden. Obwohl überreden vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Wir sind zusammen mit Debbie und Angelo zu einer Hütte rausgefahren, und es sieht so aus, als würde Miss Parker endlich in die richtige Stimmung kommen", fuhr Sydney erklärend fort. In seiner Stimme schwangen Wärme und Erleichterung mit.

Jarod schloß die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie Miss Parker gemeinsam mit Angelo und Debbie durch den Schnee tollte, endlich einmal unbeschwert und befreit von den Fesseln des Centres. Eine zweite, noch heftigere Welle von Eifersucht durchfuhr ihn. Was hätte er dafür gegeben, jetzt dort zu sein...

Erst jetzt fiel ihm auf, was an Sydneys Worten nicht stimmte. Hatte er nicht die Kinder gesagt?

"Wer ist noch mit euch dort?" wollte er wissen. Sydney seufzte.

"Ich hätte es dir vielleicht gleich sagen sollen. Jarod, dein Vater ist auch hier. Zusammen mit dem Klon."

Es dauerte eine volle Minute, bis Jarod sich soweit von seiner Überraschung erholt hatte, daß er wieder sprechen konnte.

"Du hast recht, Syd. Du hättest es mir gleich sagen sollen. Ich würde gerne mit ihm sprechen."

*******

In dieser Nacht war es Sydney, der nicht schlafen konnte. Er saß in der Küche, die ganze Nacht hindurch, bis der Morgen anbrach.

Ihr Urlaub war vorbei, das war unwiderruflich klar. Miss Parker hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, daß sie am Morgen zurück nach Blue Cove fahren würde. Major Charles hatte ein langes Gespräch mit Jarod geführt; die beiden hatten für den nächsten Tag einen Treffpunkt ausgemacht.

Sydney fühlte sich angesichts der letzten Ereignisse zunehmend hilflos. Seine Beziehung zu Jarod schien sich mit jedem Tag mehr aufzulösen, und nun verlor er auch noch Miss Parker. Er konnte deutlich spüren, wie sie sich immer mehr von ihm zurückzog.

"Syd?"

Es war Miss Parkers leise Stimme, die ihn aufsehen ließ. Sie stand in der Küchentür, offenbar bereit für ihren Aufbruch.

"Ja, Miss Parker?"

Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

"Haben Sie die ganze Nacht hier unten gesessen?"

Er nickte. Sie stellte ihre Reisetasche auf den Boden und kam zu ihm herüber.

"Dann hat Jarod diese schlechte Angewohnheit wohl von Ihnen. Das Grübeln, meine ich", erklärte sie, noch immer lächelnd. Dann wurde sie ernst, und ein eigenartiger Ausdruck ließ ihre Augen leuchten.

"Haben wir eigentlich jemals ein ehrliches Gespräch miteinander geführt, Sydney?"

Erstaunt sah er sie an, aber dann begriff er, was sie meinte.

"Ich glaube nicht, Miss Parker", erwiderte er sanft. Es gab etwas, das sie ihm sagen wollte.

"Dachte ich mir."

Ein trauriges Lächeln glitt wie ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. Sie ging neben ihm in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

"Mein Vater ist nie für mich dagewesen. Trotzdem bin ich nie allein gewesen, wenn ich im Centre war. Nach dem Tod meiner Mutter hat sich vieles verändert; die Leute haben sich verändert. Aber egal, was passiert ist, ich hatte immer Sie. Dank Ihnen weiß ich heute, was ein guter Vater ist."

Sydney wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte nie mit ihr über seine Gefühle für sie gesprochen, und noch viel weniger hatte er je zu hoffen gewagt, daß sie vielleicht ähnlich über ihre Beziehung zueinander denken mochte.

"Miss Parker, ich..."

"Nicht, Sydney."

Sie schüttelte den Kopf, und er hatte den Eindruck, daß sich die Traurigkeit um sie herum verdichtet hatte.

"Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Ich werde jetzt gehen. Es gibt da jemanden, den ich besuchen möchte. Jemanden, mit dem ich reden kann. Bevor ich gehe, wollte ich Ihnen nur für das danken, was sie hier für mich tun wollten."

"Aber es hat nicht funktioniert."

"Nein, ich fürchte nicht. Bis bald, Sydney."

Er ließ sie gehen. Es gab tausend Sachen, die er ihr sagen wollte, und vielleicht hätte sie eine davon zurückhalten können. Aber Sydney begriff, daß er sie jetzt gehenlassen mußte, wenn er wollte, daß sie je wieder zu ihm zurückfand.
Part 6 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.




Kostbare Momente
Teil 6

von Miss Bit




Die Sonne stand hoch am Himmel, als Miss Parker die Staatsgrenze nach Maine überquerte. Sie lächelte leicht. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie den Lake Catherine erreichte. Dann konnte sie endlich mit Ben sprechen.

Ihr Lächeln vertiefte sich noch, als sie an Ben dachte. So sehr sie Sydney auch schätzte, es fiel ihr doch leichter sich Ben anzuvertrauen. Vielleicht lag es daran, daß Ben etwas Abstand zu allem hatte. Er arbeitete nicht für das Centre, sondern lebte in der relativen Abgeschiedenheit seiner Pension in Maine. Sein Leben war normal.

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag dachte Miss Parker darüber nach, ob es vielleicht stimmte, was Jarod über Ben herausgefunden hatte. Möglicherweise war er wirklich ihr leiblicher Vater. Der Gedanke hatte schnell seine anfängliche Undenkbarkeit für sie verloren. Mittlerweile war sie durchaus bereit, ihn als eine Tatsache zu akzeptieren. Es würde ohnehin nicht viel für sie verändern; es bedeutete nur, daß noch eine weitere Vaterfigur in ihr Leben trat. 'Das macht nun schon drei', überlegte sie amüsiert. 'Ein Vater, der mir meinen Namen gegeben hat, einer, der mich großgezogen hat, und einer, dem ich meine Existenz verdanke.'

Ihre Gedanken glitten zurück zu ihrem kurzen 'Urlaub'. Noch immer war sie sich nicht ganz sicher, warum Major Charles eigentlich zu ihr gekommen war. Er hatte doch damit rechnen müssen, daß sie ihn dem Centre übergab - schon wegen dem Klon. Sie spürte, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte, als sie an den Jungen - an Jay - dachte. Er erinnerte sie so sehr an Jarod, und diese Erinnerung tat weh. Noch ein Leben, das das Centre ruiniert hatte, und wieder war es ein Mitglied von Jarods Familie, daß unter ihrer Familie hatte leiden müssen...

Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu zwingen. Für den Moment war es einfach nur sinnlos, sich mit diesen Überlegungen zu quälen. Sie würde mit Ben über alles sprechen und konnte nur hoffen, daß er ihr eine neue, weniger schmerzhafte Perspektive aufzeigen konnte.

Miss Parker konzentrierte sich wieder auf die Straße. Als nach einer halben Ewigkeit Bens Haus in Sicht kam, seufzte sie erleichtert. Endlich. Jetzt konnte sie vielleicht wirklich die Entspannung finden, die sie sich so verzweifelt wünschte. Und etwas Ruhe, um endlich einmal Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle zu bringen.

*******

Es war schon fast Mittag, als Sydney einen letzten Rundgang durch die Hütte machte. Aus dem ersten Stock hörte er die gedämpften Stimmen von Debbie und Broots, die damit beschäftigt waren, ihre Sachen zusammenzupacken.

Sydney ging in die Küche und setzte sich an den großen Tisch. War es wirklich erst ein paar Stunden her, seit Miss Parker aufgebrochen war? Bereits fühlte sich sein Leben so viel leerer an. Er verzog das Gesicht. Normalerweise hätte er sich nicht erlaubt, so sehr in seinem Selbstmitleid zu schwelgen. Und es war ja auch nicht so, daß Miss Parker für immer fortgegangen war. Wahrscheinlich würde er sie schon früher wiedersehen, als er es sich jetzt vorstellen konnte. Es war nur so, daß sich ihr Gespräch an diesem Morgen für ihn viel zu sehr nach einem Abschied angehört hatte. Einem endgültigen Abschied.

"Fertig!" hörte er Debbie auf einmal rufen. Ein paar Sekunden später rannte sie an ihm vorbei, riß die Hintertür auf und verschwand nach draußen. Noch ein paar Momente später huschte eine weitere Gestalt an ihm vorbei, die Sydney nur aus dem Augenwinkel sah. Es war Jay, der hinter Debbie her und hinaus in den Garten rannte.

Sydney unterdrückte ein Seufzen. Den Jungen hier zu sehen, war ein merkwürdiges Gefühl. Er stand auf und ging zum Fenster, um einen Blick auf die beiden spielenden Teenager zu werfen. Ohne, daß er es bemerkt hätte, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Sie erinnerten ihn so sehr an Miss Parker und Jarod in diesem Alter. Mit der einzigen Ausnahme, daß Jarod und Miss Parker niemals so eine unbeschwerte Zeit miteinander verbracht hatten. Als Sydney nun daran zurückdachte, erstaunte es ihn, daß es den beiden trotzdem gelungen war, so eine intensive Beziehung zueinander aufzubauen. Wie schade, daß es ihnen nicht gelungen war, diese Beziehung bis heute aufrechtzuerhalten...

"Läßt einen über die Vergangenheit nachgrübeln, nicht wahr?" sagte auf einmal Major Charles leise hinter ihm. "Darüber, was hätte sein können. Was hätte sein sollen."

Erst jetzt drehte sich Sydney zu ihm um. Es gab einiges, was er dem Major sagen wollte, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie.

"Es scheint, daß Jay sich bereits hervorragend in seiner Umwelt zurechtfindet", sagte er dann. Seine Äußerung schien den Major nicht sehr zu überraschen.

"Nun, er ist ein Pretender", erwiderte er ruhig. "Wir haben mehrere lange Gespräche miteinander geführt, aber ich fürchte, es gibt immer noch einiges, das ich ihm erklären muß."

Sydney schwieg, während er noch immer nach den richtigen Worten suchte.

"Es tut mir leid, daß Jarod...", begann er schließlich, aber der Major unterbrach ihn mit einer abwehrenden Geste.

"Sie sollten sich nicht bei mir entschuldigen. Von mir aus entschuldigen Sie sich bei Jarod, wenn Sie das für nötig halten, aber ich brauche keine Entschuldigung von Ihnen. Verstehen Sie mich nicht falsch, es liegt mir fern, unhöflich sein zu wollen. Es ist nur, daß die Dinge sich dadurch auch nicht mehr ändern. Sie haben Jarod großgezogen, und soweit ich das sagen kann, haben Sie das sehr gut gemacht, besonders, wenn man die Umstände berücksichtigt. Er ist ein hervorragender junger Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl. Mehr hätte ich mir für ihn nicht wünschen können."

Major Charles zögerte kurz, bevor er fortfuhr.

"Die Situation ist für keinen von uns besonders angenehm, aber ich schlage vor, daß wir die Vergangenheit ruhen lassen, einverstanden?"

Er streckte die Hand aus, und nach kurzem Zögern ergriff Sydney sie.

"Einverstanden. Wenn ich Ihnen jemals irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich einfach wissen", entgegnete er fest.
Der Major neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte.

"Das werde ich."

*******

Miss Parker stieg aus dem Auto und atmete tief ein. Die leicht kühle Luft war erfrischend und tat ihr nach der langen Fahrt gut. Als sie langsam zur Haustür ging, spürte sie bereits, wie sie begann, sich zu entspannen.

Es dauerte allerdings nicht lange, bis ihre Anspannung zurückkehrte. Irgendwo tief in ihr erwachte ein ungutes Gefühl zum Leben, ließ ihr Blut schneller durch ihre Adern rauschen. Etwas stimmte nicht.

Die Haustür war nicht geschlossen, sondern nur leicht angelehnt. Der leichte Wind ließ sie vor und zurück schwingen, so daß hin und wieder ein leises Klopfen zu hören war. Miss Parkers Anspannung nahm noch zu.

"Ben?" rief sie, ihre Stimme ein wenig lauter als gewöhnlich. Sie erhielt keine Antwort. Angst stieg in ihr auf, begleitet von schmerzhaften Erinnerungen an den Morgen, als Tommy ermordet worden war.

'Es ist alles in Ordnung', versuchte sie sich selbst zu beruhigen. 'Ben ist wahrscheinlich nur Einkaufen gefahren und hat vergessen, die Tür abzuschließen.'

Aber noch während sie es dachte, wußte sie schon, daß es nicht stimmte. Auch wenn die Gegend hier relativ sicher war, würde Ben seine Haustür doch nicht völlig unverschlossen zurücklassen.

"Ben?" rief sie noch einmal, erste Anzeichen von Panik in ihrer Stimme. Miss Parker zog ihre Waffe, dann öffnete sie langsam und vorsichtig die Tür etwas weiter, bis sie schließlich hindurchgehen konnte.

Es war still im Haus; viel zu still. Nirgends ein Anzeichen von Leben. Aufmerksam sah sich Miss Parker um. Der Flur sah auf den ersten Blick aus wie immer. Doch dann fiel ihr etwas auf. Etwas fehlte. Das Bild von ihrer Mutter, das sie bei ihrem ersten Besuch hier gesehen hatte. Verwirrt runzelte Miss Parker die Stirn. Aus welchem Grund sollte Ben es abnehmen?

Widerstrebend ging sie weiter, ihre Waffe wie einen Schutzschild vor sich gerichtet. Ihr Adrenalinspiegel stieg immer weiter an, ließ ihr Blut in ihren Ohren pochen. Alle ihre Sinne waren auf das Zimmer vor ihr gerichtet, auch der eine, von dem sie nicht einmal ahnte, daß er existierte.

Für einen Moment verdrängte ihre Konzentration jedes Gefühl. Die Reflexe, die sie durch jahrelanges Training im Centre bis aufs äußerste geschult hatte, übernahmen die Kontrolle über ihren Körper. Mechanisch bewegte sie sich auf die Wohnzimmertür zu, die auch nur angelehnt war.

Es war der Geruch, der sie vorwarnte. Sie kannte diesen Geruch, war ihm während ihrer kurzen Zeit als Cleanerin mehr als einmal begegnet.

"Oh nein", wisperte sie mit erstickter Stimme. "Ben..."

Miss Parker blieb vor der Tür stehen, holte immer wieder tief Luft.

"Ben?" Was ihre Stimme jetzt zittern ließ, ging weit über einfache Sorge hinaus. Verzweiflung erfaßte sie. Alles in ihr schrie danach, sich einfach umzudrehen und so schnell wie möglich das Haus zu verlassen, anstatt die Tür zu öffnen und so ihrem Verdacht zu erlauben, sich zu einer Gewißheit zu verdichten. Aber sie hatte keine Wahl.

Widerstrebend löste sie eine Hand von ihre Waffe, legte sie leicht auf das alte Holz der Tür. Dann drückte sie gegen die Tür, die geräuschlos aufschwang.

Der Geruch schlug ihr nun stärker entgegen, aber sie nahm in gar nicht mehr wahr. Ihre Waffe fiel aus ihrer Hand, schlug mit einem unnatürlich lauten Geräusch auf dem Boden auf.

Von irgendwoher drang ein entsetzter, halb erstickter Entsetzensschrei an ihre Ohren, aber er konnte sicher nicht von ihr stammen. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, als sie ihre Hände in stummen Entsetzen vor ihr Gesicht hob.

Ben lag keine zwei Meter von ihr entfernt auf dem Wohnzimmerboden.

"Ben..."

Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern, vermischt mit einem verzweifelten Schluchzen. Er war tot. Der Zustand seiner Leiche ließ daran gar keinen Zweifel. Und dann das Blut...

Miss Parkers Blick hetzte durch den Raum. Das Blut war überall, so viel Blut. Auf dem Teppich, auf den Möbeln, sogar an den Wänden. Völlig regungslos starrte Miss Parker auf die Wand gegenüber der Tür; sie blinzelte nicht einmal. Wer auch immer das getan hatte, er hatte eine Nachricht an der Wand zurückgelassen, ein einzelnes Wort, geschrieben mit Bens Blut.

Übelkeit stieg in ihr auf. Sie würgte ein paarmal, bevor sie es schaffte, den Brechreiz niederzukämpfen. Wie in Trance legte sie die wenigen Schritte zu Bens Leiche zurück.

"Es tut mir so leid", flüsterte sie tonlos. Tränen strömten über ihr Gesicht, aber sie bemerkte sie nicht einmal. Ihr Blick ruhte auf Bens Gesicht, das vor Angst und Entsetzen sogar im Tod noch zu einer grausamen Grimasse verzogen war. Jede einzelne der Grausamkeiten, die Ben angetan worden waren, fand einen Weg in ihr Gedächtnis, wurde unauslöschlich in ihre Erinnerung eingebrannt.

Ihre Knie gaben unter ihr nach und sie sank zu Boden, fand sich direkt neben Ben wieder. Wie von allein berührte eine ihrer Hände sein Gesicht, schloß seine gequälten Augen. Dann zog sie seinen leblosen Körper in ihre Arme. Schluchzer schüttelten sie, vermischt mit erstickten Schreien und leise gewisperten Worten.

Der Schmerz in ihrem Inneren war unerträglich, und er wurde schlimmer mit jeder Sekunde, die sie in Bens Wohnzimmer verbrachte. Alles andere in ihr wurde von dem Schmerz ausgelöscht, bis nichts mehr übrig blieb.

Vorsichtig ließ sie Ben wieder los, ließ seinen Körper zurück auf den Boden gleiten. Ihr Schmerz vermischte sich mit Verzweiflung, als sie aufsah und ihr Blick noch einmal auf die Schrift über dem Kamin fiel. Es war alles ihre Schuld. Sie hatte Ben getötet.

Mit einer raschen Bewegung stand sie auf. Sie wollte nur noch weg von hier, den Schmerz hinter sich lassen.

Irgendwo tief in ihr wisperte eine leise Stimme, daß das unmöglich war, aber sie hörte nicht darauf, als sie beinahe panisch das Haus verließ und zurück zu ihrem Wagen rannte. Auf dem Weg dorthin hätte sie beinahe einen Mann umgerannt, aber sie nahm weder ihn noch seine merkwürdig aufgeregt klingenden Worte richtig wahr.

*******

Vier Stunden später

Der Alarm schrillte nun schon seit einer halben Stunde durch diesen Teil des Centres. Sydney runzelte verwundert die Stirn. Wieso stellte ihn nicht endlich jemand ab?

Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, der Ursache des Alarms auf den Grund zu gehen. Im Normalfall war es im Centre immer besser in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, wenn man von irgendwoher einen Alarm oder aufgeregte Schreie hörte. In diesem Fall hallte beides durch den Korridor, aber Sydney ging trotzdem weiter auf die Quelle des Lärms zu. Der Alarm kam nämlich nicht von irgendwoher. Er kam aus Jarods altem Zimmer.

Sorge erfüllte ihn. Vielleicht war es irgend jemandem gelungen, Jarod zurückzubringen. Aus welchem Grund sollte wohl sonst ein Alarm ausgerechnet in Jarods altem Quartier ausgelöst werden?

Sydney bog um die letzte Ecke, die ihn noch von seinem Ziel trennte. Er sah, wie ein dunkler Schemen auf ihn zuschoß, aber es war schon zu spät. Der andere Mann prallte mit schmerzhafter Wucht gegen ihn.

"Oh, Entschuldigung, aber ich hab's eilig."

"Broots?"

Erst jetzt erkannte Sydney, wer da in ihn hineingerannt war. Der Techniker trat einen Schritt zurück. Eine Mischung aus Erleichterung und tiefem Entsetzen hatte sein Gesicht in eine merkwürdig wirkende Maske verwandelt.

"Gott sei Dank, Sydney! Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen. Sie müssen sofort mitkommen!", drängte Broots und griff nach seinem Arm. Sydney ließ sich ein paar Meter von ihm mitzerren, dann machte er sich sanft, aber bestimmt los.

"Sagen Sie mir erst einmal, was eigentlich los ist, Broots."

Broots sah ihn fassungslos an.

"Dann haben Sie es noch nicht gehört? Es ist Miss Parker. Sie ist in Jarods Zimmer."

Seine letzten Worte waren nur noch ein bestürztes Flüstern. Sorge ließ ihn noch nervöser als gewöhnlich erscheinen. Aber da war noch etwas anderes, das Sydney weit mehr besorgte. Broots hatte Angst.

"Was ist mit ihr?" fragte er mit mühsam beherrschter Stimme.

"Ich weiß es nicht", brachte Broots hervor. "Sie ist schon eine ganze Weile da drin, aber niemand hat es bisher geschafft, zu ihr hineinzugehen."

Sydney wölbte die Brauen. Das klang alles andere als gut. Er folgte Broots bis vor die Tür und spürte plötzlich Zorn in sich aufwallen, als er die Menge sah, die sich dort versammelt hatte. Die meisten der Anwesenden waren Sweeper oder Cleaner; nur wenige der Büroangestellten hatten sich nach hier unten verirrt. Es wurden leise Gespräche geführt, und immer wieder sah jemand nervös auf die Tür.

"Die Vorstellung ist vorbei", brüllte Sydney und ignorierte Broots, der neben ihm erschrocken zusammenzuckte.

"Sie alle sollten jetzt lieber wieder an Ihre Arbeit zurückkehren", fuhr Sydney ein wenig leiser fort. Sein Blick fiel auf Sam. Miss Parkers Sweeper kam durch die Menge auf ihn zu.

"Was ist hier passiert, Sam?"

"Ich bin auch gerade erst gekommen. Mr. Raines wollte, daß jemand nachsieht, was hier unten los ist. Möchten Sie, daß ich mich um die Leute hier kümmere?"

Sydney nickte erleichtert.

"Ja, tun Sie das. Ich werde in der Zwischenzeit nach Miss Parker sehen."

Unschlüssig starrte Sydney auf die Tür. Was erwartete ihn dahinter?

"Broots?"

"Ja, Sydney?"

"Gehen Sie zurück in den Technikraum. Stellen Sie sicher, daß keine der alten Kameras da drinnen noch funktioniert."

"Ist gut."

Der Techniker wirkte beinahe erleichtert, daß Sydney ihn fortgeschickt hatte. Er zögerte kurz, sah Sydney nur an, dann drehte er sich um und eilte fort. Sydney nickte beinahe unmerklich als Antwort auf die Stumme Bitte in Broots' Blick. Dann machte er sich daran, Jarods ehemaliges Zimmer zu betreten, doch eine volltönende Stimme hielt ihn zurück.

'Oh nein. Nicht er.'

"Was ist hier los? Wo ist meine Tochter?"

"Mr. Parker", sagte Sydney, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken.

"Sydney, wissen Sie, was hier vor sich geht?"

"Nicht genau. Hören Sie, bevor die Situation nicht geklärt ist, schlage ich vor, daß Sie in Ihr Büro zurückkehren. Ich werde Ihnen dann später Bericht erstatten."

Seine Hilfsbereitschaft schien Mr. Parker zu erstaunen, aber nach kurzem Überlegen lenkte er ein.

"In Ordnung. Sorgen Sie nur dafür, daß diese Aufregung so schnell wie möglich beendet wird. Oh, und schicken Sie meine Tochter zu mir."

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ Sydney allein im Korridor zurück. Der Psychiater seufzte. Soviel zu Mr. Parkers Sorge um seine Tochter.

"Sydney?"

Leicht erstaunt drehte er sich um. Sam stand hinter ihm; außer ihnen beiden war nun niemand mehr im Korridor. Offenbar erwartete der Sweeper weitere Anweisungen.

"Bitte passen Sie auf, daß uns niemand stört", sagte Sydney geistesabwesend. In Gedanken versuchte er sich bereits auf das vorzubereiten, was ihn hinter dieser Tür wohl erwarten mochte. Sam nickte, und Sydney näherte sich endlich der Tür.

Behutsam öffnete er die Tür. Statt der Stille, die er halb erwartet hatte, hörte er ein leises, unregelmäßiges Schluchzen, wie von einem Kind. Das Geräusch versetzte seinem Herzen einen Stich.

Langsam betrat er den Raum. Seine Hand tastete automatisch nach dem Lichtschalter, wie schon tausendmal zuvor in den letzten dreißig Jahren. Nur Sekunden später wünschte er sich, er hätte es bei dem Halbdunkel belassen.

Miss Parker saß auf Jarods Bett. Sie hatte ihre Arme fest um ihren Körper geschlungen, und sie zitterte. Doch all das fiel Sydney erst später auf - zuerst sah er das Blut.

Es war überall, auf ihrer Kleidung, in ihrem Gesicht, sogar ein paar Haarsträhnen waren mit Blut verklebt. Das meiste davon war bereits getrocknet, bildete häßliche braune Flecken. Nur in ihrem Gesicht hatte das Blut noch seine ursprüngliche Farbe. Ihre Tränen hatten verhindert, daß es trocknete.

Sydney hielt den Atem an. Sein Blick glitt fort von ihr, als er den Anblick nicht länger ertragen konnte. Ihm fiel die Unordnung auf, die in dem spartanisch eingerichteten Zimmer herrschte. Der Tisch in der Mitte war umgestoßen worden, und keiner der Stühle stand noch an seinem ursprünglichen Platz. Ein Stuhl lag zertrümmert neben einer der Wände. Die Bücher, die noch bis vor kurzem feinsäuberlich in den großen Regalen gestanden hatten, lagen jetzt in einem wilden Durcheinander überall auf dem Boden verstreut. Sydney schloß kurz die Augen. Miss Parker mußte fürchterlich in diesem Raum gewütet haben, bevor ihre Erschöpfung sie gezwungen hatte, damit aufzuhören.

Er zwang sich, sie wieder anzusehen, obwohl der Anblick ihm fast das Herz brach. Ihr Blick ging ins Leere; sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Der Schmerz, den sie ausstrahlte, war fast greifbar für Sydney.

Ein lautes Schluchzen riß ihn schließlich aus seinem Schockzustand. Er machte ein paar Schritte auf Miss Parker zu. Als erstes mußte er rausfinden, ob sie sich verletzt hatte.

"Miss Parker?" Sein Stimme war kaum mehr als ein sanftes Murmeln. Sie sah nicht einmal in seine Richtung. Statt dessen zog sie ihre Beine auf das Bett und begann, leicht vor und zurück zu schaukeln. Sydney legte die letzten Schritte bis zum Bett zurück und ging dann vor ihr in die Hocke. Zum ersten Mal in all den Jahren, seit er Psychiater war, hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er auf die Gefühle einer anderen Person reagieren sollte. Weil diese Person ihm nahestand, weil er ihren Schmerz fühlen konnte als wäre es sein eigener.

"Miss Parker, was ist passiert?" fragte er schließlich, gerade laut genug, daß es über ihrem leisen Schluchzen hörbar war.

Sie sah ihn an, zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte. Die Agonie in ihren Augen ließ Tränen in Sydneys Augen schießen.

"Gehen Sie weg von mir, Sydney", wisperte sie rauh, ihre Stimme heiser von der Überbeanspruchung. Er schüttelte den Kopf.

"Das werde ich nicht", sagte er entschlossen. Neue Tränen liefen über ihre Wangen, vermischten sich mit dem Blut, das dort haftete. Sydney wollte sie in den Arm nehmen, aber er hatte Angst, sie zu berühren, wollte ihrem emotionalen Schmerz nicht auch noch physischen hinzufügen.

"Miss Parker, sind Sie verletzt?" fragte er mit zitternder Stimme.

Wieder sah sie ihn an. Nach einer Ewigkeit schüttelte sie den Kopf. Ihm wurde vor Erleichterung fast schlecht. Das Blut stammte also nicht von ihr. Sanft zog er sie in seine Arme. Ihre Schluchzer wurden lauter, sobald sie seine tröstende Berührung spürte. Er fühlte, wie ihm selbst Tränen über die Wangen strömten, als er die Verzweiflung hinter ihren Tränen spürte. Irgend etwas hatte sie zutiefst erschüttert.

Schon nach kurzer Zeit löste sie sich von ihm. Sie stand auf und ging hinüber zu einer der Wände. Sie lehnte sich dagegen, sichtlich bemüht, irgendwie die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Aber ihr Bemühen war sinnlos; ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Noch einmal wurden ihre Schluchzer lauter, und jeder ihrer Atemzüge verwandelte sich in einen herzzerreißenden Ausdruck ihres Schmerzes. Sydney folgte ihr, nahm eine ihrer Hände in seine. Seine Finger strichen sanft über ihren Handrücken, während er leise mit ihr redete.

"Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber ich sehe, daß Sie leiden, und ich möchte Ihnen helfen. Doch das kann ich nur, wenn Sie mir sagen, was passiert ist. Glauben Sie, daß Sie das für mich tun können?"

Mit seinem Blick suchte er ihren, bis sie ihn schließlich ansah. Hinter den Tränen und dem Schmerz in ihren Augen schimmerte Hoffnung, Hoffnung darauf, daß er ihr helfen konnte. Aber da war auch Furcht, und Sydney kannte sie gut genug, um zu wissen, daß es ihre Furcht sein würde, die ihr Verhalten bestimmte.

Mit einer heftigen Bewegung entzog sie ihm ihre Hand, ballte beide Hände zu Fäusten. Wut vertrieb für einen Moment alle anderen Emotionen aus ihren Augen. Doch genauso schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Wut auch wieder, machte wieder der Verzweiflung Platz.

"Er ist tot", wisperte sie tonlos.

"Wer ist tot?" fragte Sydney. Miss Parker schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben.

"Er hat ihn umgebracht." Zwischen ihren Schluchzern rang sie nach Atem. "Aber ich bin schuld", wisperte sie dann. "Ich habe es zugelassen."

Sydney fühlte sich unendlich hilflos. Miss Parker hatte sich komplett in sich selbst zurückgezogen, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er an sie herankommen sollte. Er beschloß, zuerst die wichtigsten Fragen zu klären. Für den Bruchteil einer Sekunde keimte ein schrecklicher Verdacht ihn ihm, doch er erlaubte sich nicht einmal, den Gedanken zuende zu denken.

"Wer ist tot?" wiederholte er, drängender diesmal, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

"Er hat unseren Vater getötet", sagte sie sehr leise.

Einen Moment lang fühlte Sydney beinahe den Drang zu lachen. War etwa alles nur ein fürchterliches Mißverständnis? Aber das erklärte nicht das Blut.

"Ich habe Ihren Vater gerade draußen im Gang..."

Weiter kam er nicht, bevor ihn ihr zorniger Schrei unterbrach.

"Ihn habe ich nicht gemeint!"

Sydney war jetzt vollends verwirrt.

"Miss Parker, wenn..."

Wieder schnitt sie ihm das Wort ab, diesmal mit einer heftigen Geste.

"Sie verstehen nicht!" rief sie ungeduldig, und ihre Worte klangen wie eine Anklage. "Mom ist jedes Jahr nach Maine gefahren, weil dort der Mann gelebt hat, den sie wirklich geliebt hat! Und jetzt ist er tot. Ben..."

Erst ihr letztes Wort half ihm dabei, einen Sinn in die ganze Angelegenheit zu bringen. Sie mußte von Ben Miller sprechen.

"Ben Miller war Ihr Vater?" fragte er erstaunt.

"Mit einiger Wahrscheinlichkeit, ja. Aber was spielt das jetzt schon noch für eine Rolle. Er ist tot!"

Die relative Ruhe, die sie für ein paar Sekunden erfaßt hatte, verschwand hinter einem Schleier aus Zorn und Schmerz.

"Oh Gott, Ben, es tut mir so unendlich leid..."

Sydney begriff, daß er erst die ganze Geschichte erfahren mußte, bevor er ihr wirklich helfen konnte.

"Miss Parker, was ist passiert?"

Ihr Blick bohrte sich in seinen, und er wünschte sich beinahe, er hätte sie nie gefragt.

"Ich habe ihn heute in seinem Haus gefunden", berichtete sie in einem unbeteiligt wirkenden Tonfall, während sie ihn noch immer mit ihrem Blick fixierte. "Jemand hat ihn ermordet - brutal ermordet. Da war soviel Blut..."

Ihr Entsetzen drohte, sie erneut zu überwältigen, aber bevor Sydney eingreifen konnte, übernahm ihr Selbsterhaltungstrieb die Kontrolle über sie, verhinderte, daß sie an ihrem Schmerz zerbrach. Mit dem geübten Auge des Psychiaters sah Sydney die subtilen Veränderungen, die in diesem Moment in ihr vorgingen. Wenige Augenblicke später wurden diese Veränderungen auch nach außen deutlich sichtbar.

Miss Parkers Gestalt straffte sich - äußerlich schien es, als hätte sie die Kontrolle über sich wiedererlangt. Aber Sydney wußte, daß es nur noch ihre Wut war, die sie davor bewahrte zusammenzubrechen.

Sie bewegte sich von der Wand fort und drehte sich halb um, um an Sydney vorbeizugehen. Er streckte eine Hand nach ihr aus und hielt sie am Arm fest.

"Miss Parker."

Sein Tonfall enthielt eine Bitte, weiter nichts. Genug, um sie aufzuhalten.

"Was?" fragte sie, doch sie sah ihn dabei nicht an.

"Wo wollen Sie jetzt hingehen?"

Mit einer heftigen Bewegung riß sie sich von ihm los.

"Lyle", grollte sie. Sydney stellte sich zwischen sie und die Tür, versperrte ihr den Weg. Also das war es. Miss Parker glaubte, daß ihr Bruder Ben Miller getötet hatte. Das mochte durchaus der Fall sein, aber im Moment war ihre Vermutung nichts weiter als eine kopflose Anschuldigung.

"Haben Sie Beweise?"

"Ich brauche keine Beweise. Mir genügt, was ich gesehen habe", erwiderte Miss Parker erstaunlich ruhig. Vielleicht gab es doch noch einen Weg, um zu ihr durchzudringen.

"Und was genau haben Sie gesehen?" fragte Sydney leise.

Miss Parker hob den Kopf und sah ihn an. Die volle Wucht ihres wütenden, eisblauen Blickes traf ihn so gut wie unvorbereitet.

"Verschonen Sie mich mit Ihren psychologischen Spielchen, Syd", zischte sie. Sie machte einen Schritt an ihm vorbei, aber wieder hielt er sie auf.

"Wissen Sie eigentlich, wie gefährlich Lyle ist?"

"Verdammt noch mal, Sydney, und was bin ich?" schrie sie aufgebracht. "Hören Sie endlich damit auf, mich so zu behandeln, als wäre ich noch immer zehn Jahre alt!"

Obwohl er wußte, daß ihre Wut eigentlich gar nicht ihm galt und daß nur der Schock an ihrem Verhalten schuld war, taten ihm ihre Wort doch weh.

"Dann hören Sie auf, sich so zu verhalten, Miss Parker!"

Später waren es nicht so sehr seine Worte, die er bereute, sondern vielmehr der Tonfall, in dem er sie ihr entgegengeschleudert hatte. Sie zuckte leicht zusammen, und er sah, wie sich ihre Wangenmuskeln anspannten.

"Das werde ich, Sydney", versprach sie in einem düsteren Tonfall.

Dieses Mal hielt er sich nicht auf; er hätte auch gar nicht gewußt, wie. In ihrem momentanen Zustand hätte sie vermutlich nicht einmal vor Gewalt zurückgeschreckt, nur um ihren Willen durchzusetzen.

Sydney starrte ihr nach, als sie den Raum mit steifen Schritten verließ.

"Miss Parker!" rief er ihr nach. Das Geräusch ihrer Schritte, das sich immer weiter von ihm entfernte, war die einzige Antwort, die er erhielt.

Damals, als sie die Ermordung ihrer Mutter mitangesehen hatte, hatte sich das kleine Mädchen, das sie gewesen war, fast vollständig von der Welt zurückgezogen. Aber es war noch immer dagewesen, hatte beobachtet und gewartet, gewartet auf den richtigen Moment, um die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen. Doch der Moment war nie gekommen. Und jetzt war es zu spät.

Mit schweren Schritten ging Sydney hinüber zum Bett. Miss Parkers Tränen, vermischt mit dem Blut auf ihren Wangen, hatten helle Flecken auf der Decke hinterlassen. Sydney sah mit starrem Blick darauf hinunter, als langsam eine Erkenntnis in ihm heranreifte. Von allen Orten, an die sie hätte gehen können, hatte sie ausgerechnet diesen ausgewählt. Und Sydney begriff, daß er gar nicht die Person war, von der Miss Parker Hilfe erwartet hatte.
Part 7 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.



Kostbare Momente
Teil 7

von Miss Bit




Das kleine Hotelzimmer war spartanisch eingerichtet. Außer dem Bett gab es nur noch einen Tisch, einen Stuhl und einen Fernseher. Aber viel mehr brauchte Jarod auch nicht.

Er saß auf dem Bett und starrte unverwandt aus dem Fenster. In einer Stunde würde er endlich seinen Vater wiedersehen. Sie hatten sich als Treffpunkt einen kleinen Ort in Maine ausgesucht, den sie alle bequem erreichen konnte.

Jarod stand auf und schaltete den Fernseher ein, dann machte er sich daran, sein Notebook auszupacken. Im Hintergrund lief eine Nachrichtensendung des lokalen Senders. Er sah auf, als er hörte, wie die Reporterin den Lake Catherine erwähnte. Mit ein paar Schritten war er zurück am Fernseher und machte ihn lauter, den Blick gebannt auf den Bildschirm gerichtet.

Besorgt registrierte er, daß die Reporterin vor dem Ufer des Sees stand, genau an der Stelle, von der ein kleiner Weg zu Bens Haus führte. Eine dunkle Vorahnung erfüllte Jarod, als er der Reporterin zuhörte, während sie langsam zum Haus heraufging. Mehrere Polizeiautos kamen in Sicht, geparkt innerhalb eines großen Bereichs, der mit gelbem Absperrband abgeriegelt worden war.

"Angesichts der unglaublichen Brutalität dieses Verbrechens sehen wir uns leider außerstande, Ihnen Bilder aus dem Inneren des Hauses zu zeigen", erklärte die Reporterin mit ernster Miene. Jarod schluckte.

"Wir haben allerdings einen Augenzeugen, der bereit ist, mit uns zu sprechen", fuhr sie fort. Neben ihr kam jetzt ein Mann ins Bild, der etwa mittleren Alters war und eine Postuniform trug. Er machte ein verschrecktes Gesicht, aber Jarod schätzte, daß das eher an den Kameras lag als an dem, was er gesehen hatte.

"Das hier ist Bill Thomson, seit fünfzehn Jahren Postbeamter in dieser Gegend. Mr. Thomson, Sie sind der Täterin bei ihrer Flucht aus dem Haus begegnet, ist das richtig?"

Jarod runzelte die Stirn. Täterin? Und wann würden sie endlich sagen, was überhaupt passiert war?

"J-ja, das stimmt. Sie hätte mich beinahe über den Haufen gerannt. Irgendwie schien sie total verstört zu sein..."

"Wie hat die Frau ausgesehen, Mr. Thomson?" erkundigte sich die Reporterin hastig, und Jarod hatte das Gefühl, daß ihr die Richtung nicht gefiel, in die Thomsons Beschreibung ging.

"Uhm, sie war ziemlich groß, jung, dunkle Haare, sehr attraktiv. Und sie war ganz blutverschmiert. Sie ist an mir vorbei zu ihrem Auto gerannt, und dann ist sie weggefahren."

"Die Polizei hat bereits ein Phantombild von der betreffenden Person angefertigt. Wenn Sie die Person wiedererkennen, melden Sie sich bitte sofort unter der unten eingeblendeten Nummer."

Jarods Augen weiteten sich, als er das Bild sah. An der Identität dieser Frau konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Miss Parker.

Er atmete tief durch. Was war in Bens Haus passiert?

Die Reporterin kam zurück ins Bild. Bill Thomson stand mit weißem Gesicht neben ihr und zuckte sichtlich zusammen, als sie ihre nächste Frage an ihn stellte.

"Was ist passiert, nachdem die Frau weggefahren war?"

"Ich... ich habe mir Sorgen um Ben... um Mr. Miller gemacht, also bin ich ins Haus gegangen. Dort habe ich... ihn dann gefunden. Großer Gott, es war schrecklich, der arme alte Ben!"

Der Mann bekreuzigte sich. In seinen Augen stand deutliches Entsetzen. Nach ein paar Sekunden zog ihn eine mitleidige Seele endlich aus dem Erfassungsbereich der Kameras. Jarod schloß kurz die Augen. Ben war also tot, ermordet. Trauer und Entsetzen erstickten für einen Moment jede andere Empfindung, doch dann bahnte sich eine Erkenntnis einen Weg in sein Bewußtsein. 'Miss Parker muß ihn gefunden haben...'

"Vielen Dank, Mr. Thomson", sagte die Reporterin. "Die Polizei hat eine Waffe nicht weit entfernt von der Leiche gefunden. Bisher konnte sie noch nicht einwandfrei identifiziert werden, aber unbestätigten Berichten zufolge soll es sich dabei nicht um die Tatwaffe handeln. Die örtlichen Behörden haben bereits eine Großfahndung nach der mutmaßlichen Mörderin eingeleitet. Hinweise aus der Bevölkerung sind an diesem Punkt eine wertvolle Hilfe."

Jemand drückte der Frau einen Zettel in die Hand, den sie kurz überflog, bevor sie wieder aufsah.

"Gerade erreicht mich die Information, daß die Polizei ein Bild vom Tatort veröffentlichen will, um dadurch vielleicht weiteren Aufschluß über den Täter zu gewinnen."

Der Bildschirm wurde kurz dunkel, dann war ein vergrößertes Foto zu sehen.

Jarod keuchte entsetzt. Fassungslos starrte er auf das Foto, auf dem Bens Kamin und die Wand darüber zu erkennen waren. Was er dort sah, ließ seinen Atem stocken. Sein Blut schien auf einmal mehrere Grad kälter durch seine Adern zu fließen. Wie hypnotisiert starrte er auf das Wort, das jemand mit Blut auf die Wand geschrieben hatte.

'Vater?' stand dort in hohen, unregelmäßigen Buchstaben.

*****

"Miss Parker!"

Sie ignorierte Sydneys Ruf, als sie langsam durch den langen Korridor schritt. Das Geräusch ihrer Schritte klang seltsam hohl in ihren Ohren. Es schien leer zu sein - genau wie alles andere. Genau wie sie selbst. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts anderes als Leere in sich entdecken, selbst dann, wenn sie hinter den Zorn und die Wut sah, die sie von ihrem Schmerz abschirmten.

Ihr war klar, daß ihr die Dinge langsam entglitten. Zunächst einmal hatte sie keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Sie wußte nur noch, daß sie in ihrem Auto gesessen hatte, das vor dem Centre geparkt gewesen war, und sich gefühlt hatte, als wäre sie gerade aus einem Traum aufgewacht. Aber was dazwischen und ihrer schrecklichen Entdeckung in Maine passiert war, lag völlig im Dunkeln. Maine...

Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf.

Blut. An ihren Händen. Auf dem Boden. An der Wand vor ihr... direkt vor ihr. Ein einzelnes Wort, das sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Ein Wort, das den Täter verriet...

Mit einem entsetzten Schrei kehrte Miss Parker in die Gegenwart zurück. Sie zitterte am ganzen Körper. Erschöpft lehnte sie sich an eine Wand des Korridors. Ganz egal, wie sehr sie es auch versuchte, sie konnte die Bilder einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen. Wieder und wieder tauchten sie aus den dunklen Tiefen ihrer Erinnerung auf, ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

Wütend stieß sie sich von der Wand ab. Sie hätte niemals hierher kommen sollen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Aber das sie nun ohnehin schon hier war, konnte sie diese Gelegenheit auch nutzen.

Miss Parker lief durch die Korridore, ignorierte die verwunderten Blicke, die sie immer wieder auf sich zog. Sie fühlte nichts, solange es ihr gelang, ihre Erinnerung zu unterdrücken.

Ganz automatisch wählte sie den kürzesten Weg zum Büro ihres Vaters. Hier und jetzt würde sie beenden, was niemals hätte beginnen dürfen.

Die große Doppeltür schwang nach ihrem kräftigen Stoß heftig nach innen. Ihr Vater, der mit dem Rücken zu ihr gestanden hatte, um aus dem Fenster zu sehen, drehte sich zu ihr um, ein mißbilligendes Stirnrunzeln auf dem Gesicht. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, sobald er sie näher ansah. Sie folgte seinem Blick, sah nun zum ersten Mal das Blut auf ihrer Bluse, auf ihren Händen. Bens Blut...

Ein Wort nur, ein einzelnes Wort, für immer mit Schmerz verbunden...

Miss Parker weigerte sich, ihrem Schmerz nachzugeben. Sie schloß die Augen, zwang ihre Erinnerungen zurück. Als sie die Augen wieder öffnete, stand ihr Vater direkt vor ihr. Ihr Vater. Sie zuckte zusammen. Er streckte die Hände nach ihr aus, aber sie schrak vor ihm zurück.

"Faß mich nicht an!"

Ihre Stimme hatte einen ungewohnten, schrillen Klang. Wieder runzelte ihr Vater die Stirn.

"Was ist los, mein Engel? Was sollte dieser Aufruhr in Jarods Zimmer?"

Seine Worte erreichten sie nicht.

"Ich werde gehen", brachte sie mühsam hervor. "Meine Seite unserer Abmachung ist erfüllt. Es war nicht meine Schuld, daß Jarod erneut entkommen konnte. Es war nicht meine Schuld..."

Miss Parkers Stimme zitterte. Sie konnte es nicht. Was sie auch tat, die Erinnerungen kehrten unbarmherzig wieder. Es war, als würde sie versuchen, einen Scherbenhaufen mit bloßen Händen von sich fortzuschieben. Ein unmögliches Unterfangen, das zu nur noch mehr Schmerzen führte.

"Was ist passiert?" fragte Mr. Parker mit einer Schärfe, die mühelos den Nebel aus Schmerz um ihr Bewußtsein durchdrang. Offenbar hatte er erst jetzt erkannt, daß seine Tochter sich in einem schweren Schockzustand befand.

"Er ist tot", erklärte Miss Parker müde. Wieso fragte er sie überhaupt?

Er würde es ja doch nicht verstehen.

Anders als Sydney stellte ihr Vater ihr keine weiteren Fragen. Statt dessen zog er Schlüsse aus dem, was er vor sich sah. Mr. Parker nickte langsam.

"Na schön. Mach dir keine Sorgen. Ich werde das wieder in Ordnung bringen", sagte er ruhig. Miss Parker starrte ihn fassungslos an.

"Was? Es gibt hier nichts wieder in Ordnung zu bringen! Er ist tot, und niemand kann daran etwas ändern! Wie kannst du..." Sie verstummte, als sie begriff, worauf er hinauswollte.

"Du glaubst, daß ich ihn getötet habe! Ich..."

Miss Parker vergrub ihr Gesicht für einen Augenblick in ihren Händen. Dann ließ sie ihre Hände wieder sinken, starrte auf das Blut, das noch immer daran klebte.

"Vielleicht stimmt es ja", wisperte sie fast unhörbar.

Ihr Vater machte noch einen Schritt auf sie zu.

"Du mußt dich jetzt zusammenreißen", sagte er. Sie sah zu ihm auf.

"Das werde ich", erwiderte sie, und selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme merkwürdig ruhig. 'Du mußt sie auch loslassen', flüsterte auf einmal die Stimme ihrer Mutter in ihr.

Miss Parker nickte. Ja, das stimmte. Sie erinnerte sich genau daran, daß ihre Mutter das irgendwann zu ihr gesagt hatte.

"Ich gehe jetzt", erklärte sie und drehte sich um.

"Und wohin, wenn ich fragen darf?" erkundigte sich ihr Vater, seine Stimme schon wieder schneidend. Miss Parker zuckte mit den Schultern.

"Fort", sagte sie. "Leb wohl, Daddy."

Mit langen Schritten verließ sie sein Büro, ohne die leeren Worte zu hören, mit denen er ihr befahl, sofort zurückzukehren.

*****

Eine Stunde später

Ungeduldig ging Jarod in dem kleinen Zimmer auf und ab, konnte nichts anderes tun als warten. In der Hand hielt er sein Handy, das für einen großen Teil seiner Unruhe verantwortlich war.

Jarod wartete fast zwei Minuten, dann gestand er sich ein, daß es einfach keinen Zweck hatte. Im Grunde hatte er das ja auch nicht anders erwartet. Miss Parker hatte im Moment vermutlich ganz andere Dinge im Kopf als einen Anruf zu beantworten.

Mit einem leisen Fluch unterbrach Jarod die Verbindung und wählte eine andere Nummer. Bereits nach wenigen Sekunden hörte er Sydneys Stimme.

"Sydney hier."

"Ich bin's, Syd. Wo ist Miss Parker?"

"Ich weiß es nicht, Jarod", antwortete der Psychiater nach einer kurzen Pause. "Das letzte, was ich von ihr gehört habe, war ehrlich gesagt nicht besonders ermutigend. Gerüchten zufolge war sie im Büro ihres Vaters und hat danach das Gebäude auf dem schnellsten Weg verlassen. Seit einer Stunde versuche ich nun schon ununterbrochen, sie anzurufen, aber weder bei ihr zu Hause meldet sich jemand, noch geht sie an ihr Handy. Jarod, die Situation ist ernst. Auch wenn ich die Zusammenhänge noch nicht ganz verstehe, weiß ich doch, daß das vielleicht der letzte Stoß gewesen ist, den Miss Parker noch gebraucht hat."

Sydney mußte überhaupt nicht weiter ins Detail gehen - Jarod wußte auch so genau, worauf sein ehemaliger Mentor hinauswollte. Miss Parkers emotionales Gleichgewicht, das in letzter Zeit bestenfalls labil gewesen war, würde vermutlich bald total zusammenbrechen. Und Jarod verspürte nicht den geringsten Wunsch, herauszufinden, was passieren würde, wenn dann niemand für sie da war, der sie auffangen konnte.

'Ich werde fallen. Und du kannst mich nicht fangen.'

Jarod schüttelte den Kopf. Er würde auf keinen Fall zulassen, daß die Worte aus seinem Traum einen Weg in die Realität fanden.

"Wir müssen sie finden, Sydney. Sie darf jetzt auf keinen Fall allein sein. Ich weiß nicht, ob sie noch genug Stärke hat, um allein damit fertigzuwerden."

"Was hat diese Sache mit Ben Miller zu bedeuten, Jarod?" erkundigte sich Sydney, und Jarod spürte, wie erneut Trauer um Ben in ihm aufstieg. Bens Tod sorgte dafür, daß er sich miserabel fühlte - wie mochte es erst Miss Parker ergehen?

"Es besteht die Möglichkeit, daß er der leibliche Vater von Catherine Parkers Kindern ist... war", erklärte Jarod bereitwillig. Er sah keinen Sinn darin, dieses Geheimnis noch weiter zu wahren. "Miss Parker hat ihn sehr gemocht. Unglücklicherweise ist sie es gewesen, die ihn nach seiner Ermordung entdeckt hat."

"Da ist aber noch etwas", sagte Sydney, dem es noch nie Schwierigkeiten bereitet hatte, Jarods Stimmung anhand seines Tonfalls zu deuten.

"Die Polizei verdächtigt Miss Parker."

Entsetztes Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet Jarod, daß Sydney die volle Auswirkung dieser Aussage bereits erfaßt hatte.

"Wir müssen eine Möglichkeit finden, um das richtigzustellen, und zwar so schnell wie möglich", sagte Sydney mit bleierner Stimme.

"Erst einmal sollten wir sie finden, und dann können wir...", begann Jarod, aber Sydney fiel ihm ins Wort.

"Du verstehst nicht, Jarod", sagte er düster. "Miss Parker beginnt bereits zu glauben, daß sie für Ben Millers Tod verantwortlich ist. Zusammen mit dieser Anschuldigung könnte sich daraus ein überaus gefährlicher emotionaler Schockzustand ergeben. Noch hält sie Lyle für den Täter, aber das könnte sich schon bald ändern."

"Wir sprechen hier also von ihrer geistigen Gesundheit", zog Jarod den logischen Schluß. Er seufzte schwer und versuchte gleichzeitig, seinen Zorn auf Lyle wieder unter Kontrolle zu bringen. Es gelang ihm nicht vollständig.

"Im schlimmsten Fall, ja", bestätigte Sydney. "Aber ich hoffe, daß wir diesen Fall verhindern können. Miss Parker braucht dich jetzt. Sie würde es nie zugeben; sie hat es ja nicht einmal sich selbst eingestanden. Das war aber der Grund, warum sie ins Centre gekommen ist. Ich habe sie in deinem alten Raum gefunden, Jarod."

"Wir müssen uns treffen, Syd", entgegnete Jarod.

"Was ist mit deinem Vater?" fragte Sydney, nur einen Hauch von Überraschung in der Stimme.

Jarod zögerte nur für einen Sekundenbruchteil. Miss Parker hatte vor gar nicht so langer Zeit eine ganz ähnliche Entscheidung getroffen. Sie hatte beschlossen, seinem Vater zu helfen, anstatt die einzige Spur von Tommys Mörder zu verfolgen, die sie vielleicht jemals finden würde. Und selbst wenn Miss Parker sich anders entschieden hätte - Jarod hätte trotzdem ganz genauso gehandelt.

"Ich werde ihn anrufen und ihm alles erklären. Miss Parker ist im Moment einfach wichtiger."

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr fuhr Jarod fort.

"Wir können uns in drei Stunden treffen. An unserem üblichen Treffpunkt."

"In Ordnung. Sei bitte vorsichtig, Jarod."

"Das werde ich, Syd. Bis dann."

Er legte auf und überlegte bereits, was er seinem Vater sagen sollte, während er seine Nummer wählte. Der Major würde ihn mit Sicherheit verstehen, schließlich wußte Jarod, daß Miss Parker ihm nicht gleichgültig war. Und vielleicht konnte ihm sein Vater dabei helfen, einen Weg zu finden, wie er Miss Parker helfen konnte.

*****

In seinem Büro im Centre lehnte sich Mr. Lyle in seinem Sessel zurück, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Wie berechenbar sich die meisten Leute doch verhielten!

Sein Lächeln verbreiterte sich, als er auf die kleine Kassette blickte, auf der er das Gespräch zwischen Sydney und Jarod aufgezeichnet hatte. Die beiden hatten es ihm wirklich einfach gemacht. Der übliche Treffpunkt, also wirklich. Als wüßte er nicht genau, wo die seltenen, aber gar nicht so geheimen Treffen immer stattfanden.

Lyle schloß die Augen. Sie glaubten also, daß er dieses kleine Blutbad in Maine angerichtet hatte? Wie überaus schmeichelhaft. Er grinste, dann öffnete er die Augen wieder und nahm den Hörer seines Telefons ab.

"Lyle hier. Ich will ein, nein, besser zwei Sweeperteams zu meiner sofortigen Verfügung."

Nachdem er wieder aufgelegt hatte, erhob er sich aus seinem Sessel und ging hinüber zum Fenster, ließ seinen Blick über das Gelände des Centres schweifen. Nicht mehr lange, und all das würde ihm gehören. Niemand konnte jetzt noch verhindern, daß sein Plan funktionierte.

*****

Mit schweren Schritten verließ sie ihr Schlafzimmer, ging ein letztes Mal durch ihr Haus. Sie hatte nicht vor, noch einmal hierher zurückzukehren.

Wieder klingelte das Telefon, wie schon ein dutzendmal zuvor in der letzten halben Stunde. Und wieder ignorierte sie es. Es gab niemanden, mit dem sie sprechen wollte.

Sie ging ins Wohnzimmer und nahm zwei der gerahmten Bilder vom Kaminsims. Für eine Weile ruhte ihr Blick liebevoll auf den einzigen Personen, die jemals so etwas für eine Familie für sie gewesen waren. Dann steckte sie die Bilder in ihre Tasche, verstaute sie zwischen den Sachen, die sich bereits darin befanden. Dunkle Sachen, natürlich. Sie bezweifelte, daß sie jemals wieder etwas anderes tragen würde. Trauer sollte eigentlich nur ein Gefühl sein, aber sie spürte, wie sie für sie langsam zu einem Zustand wurde. Ein Zustand, mit dem sie sich abfinden mußte.

Abwesend schloß sie den Reißverschluß ihrer Tasche, dann ging sie hinüber zur Garderobe und zog ihren Mantel an. Ihre Finger berührten kurz das beruhigend kühle Metall in der Manteltasche. Wieder blitzte ein Bild vor ihrem inneren Augen auf. Mit einem Stöhnen sank sie auf die Knie.

Blut. Blut, das in dünnen Rinnsalen langsam die Wand herunterfloß. Blut, das Buchstaben formte. Vater?

Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, erstickte den Schrei, mit dem sie sich zu befreien versuchte. Ihre Finger schlossen sich fester um die vertraute Form in der Tasche. Unendlich langsam verblaßte das Bild, ließ sie wieder zu Atem kommen.

Sie stand auf, schwankte für einen Moment und hob dann ihre Reisetasche auf. Ohne einen Blick zurück verließ sie das Haus ihrer Mutter zum letzten Mal.

*****

Dunkelheit senkte sich über die Stadt, als Sydney seinen Wagen verließ und die letzten Meter zu Fuß zurücklegte. Ihm war nicht wohl bei der ganzen Sache. Vielleicht hätte er doch lieber versuchen sollen, Miss Parker allein zu helfen. Andererseits war ihm aber auch klar, daß er nicht wirklich die Person war, von der sie Hilfe annehmen würde.

Sydney erreichte den kleinen Park im Ortszentrum von Blue Cove. Ein Jogger rannte an ihm vorbei, doch außer ihm war niemand zu sehen. Es dauerte nur eine Minute, bis Sydney den künstlichen Fluß erreichte hatte, der den Park in zwei Hälften teilte. Eine kleine Brücke führte darüber, und auf der anderen Seite stand eine Pagode im japanischen Stil.

Ein Schemen löste sich aus den Schatten um den kleinen Turmtempel. Eine Mischung aus Erleichterung und Sorge erfüllte Sydney. Natürlich freute er sich darüber, Jarod wiederzusehen, aber er war sich auch der Tatsache bewußt wie gefährlich es war, sich ausgerechnet hier in Blue Cove zu treffen.

Sydney ging Jarod entgegen. Der Pretender sah deutlich besorgt aus, außerdem wirkte er sehr erschöpft. Vermutlich war ihm der Tod von Ben Miller ebenfalls nahegegangen.

"Hallo, Jarod", sagte Sydney leise und musterte ihn aus der Nähe. Jarods Augen offenbarten seine Sorge und seine Müdigkeit noch viel drastischer als sein Gesicht und seine Haltung. "Ich bin...", fuhr er dann fort, doch eine andere Stimme unterbrach ihn. Jarod wirbelte herum, und auch Sydney drehte sich um. Ein gutes Dutzend Sweeper trat aus verschiedenen Verstecken hervor, und dann tauchte Lyle von der anderen Seite der Brücke auf. Sydney sah zurück zu Jarod, der Lyle mit versteinerter Miene entgegensah.

"...sehr erfreut, daß dieses kleine Treffen uns alle wieder zusammengeführt hat", beendete Lyle den Satz, den Sydney vor wenigen Augenblicken begonnen hatte. Er lächelte, und selbst in der Dunkelheit konnte Sydney das triumphierende Aufblitzen in Lyles Augen erkennen.

"Das habe ich nicht gewußt", wandte sich Sydney an Jarod. Jarod warf ihm nur einen kurzen Blick zu und nickte knapp.

"Oh, aber ich wollte Sie nicht unterbrechen", sagte Lyle mit falscher Freundlichkeit. "Machen Sie ruhig weiter. Ich bin sicher, dieses Treffen findet im besten Interesse des Centres statt, nicht wahr, Sydney?"

"Warum bin ich über das hier nicht informiert worden?" fragte Sydney mit erzwungener Ruhe.

"Weil wir alle wissen, daß diese Familienzusammenführung dann nicht stattgefunden hätte", gab Lyle in einem Tonfall zurück, für dessen Fröhlichkeit Sydney ihm am liebsten seine Faust ins Gesicht gerammt hätte. Ein Blick zu Jarod verriet ihm, daß der Pretender offenbar ganz ähnlich empfand. Jarod spannte sich an und sah sich nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit um, die Sydney ihm nur zu gerne geboten hätte. Aber es gab keine. Die meisten der Sweeper hatten ihre Waffen auf Jarod gerichtet; zwei von ihnen kamen auf ihn zu, um ihm Handschellen anzulegen und ihn festzuhalten.

"Und jetzt werden wir alle zusammen ins Centre zurückkehren", kündigte Lyle mit einem feinen Lächeln an.
Sydney fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Er wollte etwas tun, irgend etwas, um Jarod zu helfen, aber er konnte nur dastehen und hilflos zusehen, wie Lyles Sweeper den Pretender abführten.
Part 8 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.



Kostbare Momente
Teil 8

von Miss Bit





Grau. Alles hier im Centre war grau. Nicht schwarz oder weiß, sondern immer grau. Nichts war hier so, wie es schien; Sydney hatte das schon sehr früh gelernt. Was ihn aber viel mehr belastete, war die Tatsache, daß auch keine der Personen, die für das Centre arbeiteten, einfach so der einen oder anderen Seite zugeordnet werden konnte.

Er war Psychiater, und sein Beruf hatte ihn gelehrt, Menschen zu beurteilen, ihr Verhalten zu verstehen und zu analysieren und manchmal vielleicht sogar vorauszusehen. Doch hier im Centre neigte seine Menschenkenntnis bisweilen dazu, ihn zu betrügen. Oh, sicher, Raines und Lyle waren einfache Fälle, zählten ganz eindeutig nicht zu dem kleinen Personenkreis, dem er vertraute. Doch es waren die grauen Fälle, die ihn beunruhigten. Fälle wie Miss Parker...

Sydney empfand eine verwirrende Mischung aus Scham, Schuld und Schmerz. Es tat ihm weh, daß er Miss Parker nicht hatte helfen können. Aber es war etwas anderes, das ihm im Moment soviel Kummer bereitete. Der Verdacht, der natürlich absolut unsinnig war, und für den er sich gerade deshalb so sehr schämte. Er hatte nur wenige Sekunden lang diese absurde Möglichkeit in Betracht gezogen, doch seitdem ließ ihn der Gedanke einfach nicht mehr los.

Mit einem schweren Seufzen wandte sich Sydney vom Fenster ab und ging hinüber zum Schreibtisch, setzte sich in den großen, bequemen Ledersessel. Dann ließ er seinen Blick über den Schreibtisch wandern - Miss Parkers Schreibtisch.

Er war in Miss Parkers Büro gekommen, weil er es nicht mehr ertragen hatte, tatenlos in seinem eigenen Büro zu sitzen. Zunächst hatte er sich eingeredet, daß er nur hergekommen war, um nach Hinweisen zu suchen, aber schließlich hatte er sich mit einem selbstironischen Lächeln eingestanden, warum er wirklich hier war. Miss Parker fehlte ihm. Sie fehlte ihm, und das nicht erst, seit sie einen Tag zuvor das Centre verlassen hatte. Ihm war klar, daß sie sich schon vorher von ihm entfernt hatte, beinahe unmerklich zwar, aber doch stetig.

Hier, in ihrem Büro, hoffte er, wenigstens einen Schatten ihrer Gegenwart zu spüren. Möglicherweise konnte er so herausfinden, welche Veränderungen in ihr vorgegangen waren, wann exakt er sie verloren hatte.

Er streckte eine Hand aus, nahm eins der gerahmten Fotos, die auf Miss Parkers Schreibtisch standen, und betrachtete es. Es zeigte sie gemeinsam mit ihrer Mutter. Die Aufnahme war kurz vor Catherines Ermordung gemacht worden. Beide lächelten auf dem Bild. Der Anblick erfüllte Sydney mit tiefer Trauer. Catherine lächelte ein trauriges, beinahe gequält wirkendes Lächeln, als ahnte sie, was ihr wenige Tage später zustoßen würde. Und Miss Parker... Miss Parkers Lippen formten zum allerletzten Mal ihr wundervolles, warmes Lächeln, das ihre Augen immer mit solcher Intensität hatte strahlen lassen.

Sydney hielt seine Tränen zurück, als er daran dachte, daß dieses Lächeln wohl für immer verlorengegangen war. Vielleicht war das der Zeitpunkt gewesen, als er sie verloren hatte.

Er spürte, wie der dumpfe Schmerz zurückkehrte, der ihn die ganze letzte Nacht lang wachgehalten hatte. Miss Parker war nicht die einzige, die er verloren hatte. Ohne das er es verhindern konnte, glitten seine Gedanken zurück zu Jarod. Jarod, der jetzt auf irgendeinem Sublevel gefangengehalten wurde, zurück in der Gewalt des Centres, ungeschützt Raines und seinen Launen ausgesetzt. Oder, schlimmer noch, unter Lyles Aufsicht.

Sydney hatte alles versucht, um zu Jarod zu gelangen, aber es war sinnlos gewesen. Sie hatten ihm nicht einmal sagen wollen, wo genau er sich befand, geschweige denn, wie es ihm ging. Aber es war nicht viel Phantasie nötig, um zu ahnen, wie verzweifelt der Pretender sein mußte.

Langsam ließ Sydney seinen Kopf sinken. Wann hatte er begonnen, so nutzlos für die Menschen zu sein, die er liebte?

*****

Broots eilte durch einen Korridor nach dem anderen. Normalerweise war er nicht gerne so lange in den Gängen des Centres unterwegs. Doch heute war er froh darüber, daß er nicht länger im Technikraum sitzen mußte. Die Stimmung im Centre war gespannt; noch gespannter als sonst. Eigentlich sollte eine gelöste Atmosphäre herrschen, nun, da Jarod wieder zurück war. Aber statt dessen fanden überall leise gemurmelte Gespräche statt.

Broots hatte es irgendwann nicht länger ertragen können, die Unterhaltungen der anderen Techniker mitanzuhören. Den ganzen Morgen hatten sie Gerüchte über Miss Parker ausgetauscht, bis Broots kurz davor gestanden hatte, sie mit ein paar harschen Worten zum Schweigen zu bringen. Doch dann war ihm Sydneys traurige Miene wieder eingefallen, als er ihm noch am Abend zuvor die Neuigkeiten von Jarods Gefangennahme mitgeteilt hatte, und er hatte beschlossen, lieber etwas für Sydney zu tun.

Also hatte er den gesamten Morgen damit verbracht, soviel wie möglich über Jarod herauszufinden. Angelo hatte ihn dabei unterstützt, und so hatten sie wenigstens ein paar Informationen zusammentragen können.

Broots bog um eine Ecke, die Stirn leicht gerunzelt. Er war in Sydneys Büro gegangen, aber der Psychiater war nicht dort gewesen. Aber er hatte eine kleine Notiz auf seinem Schreibtisch hinterlassen, für den Fall, daß ihn jemand suchte. Nun war Broots unterwegs in Miss Parkers Büro. Wenn er ehrlich war, überraschte es ihn gar nicht allzu sehr, daß Sydney sich lieber dort aufhielt. Zum einen war es dort erheblich ruhiger als im Rest des Gebäudes; zum anderen war er sich sicher, daß Sydney sie ebenfalls vermißte.

Was Sydney ihm über Miss Parker erzählt hatte, hatte Broots mehr als beunruhigt. Er machte sich Sorgen um sie, und daher hatte er versucht, so viele Berichte wie nur möglich über die Geschehnisse in Maine anzusehen. Allerdings hatte er sich danach nicht besser gefühlt; im Gegenteil, das hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

Nur noch wenige hundert Meter trennten Broots von Miss Parkers Büro, als er die unauffällige Gestalt in einem kleinen Seitengang entdeckte. Auch wenn er das Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, wußte er doch, wer es war, schließlich hatte er oft genug mit ihm zusammengearbeitet. Es war Sam, der unsichtbar für die meisten Augen im Centre im Halbdunkel des verlassenen Ganges stand, ein Telefon in der Hand, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Seine Körperhaltung verriet gespannte Aufmerksamkeit. Wider sein besseres Wissen blieb Broots stehen und lauschte.

"Mhm, ja, kein Problem", sagte der Sweeper leise in einem entschlossenen Tonfall. Dann hörte für eine Weile einfach nur zu. Seine Schultern spannten sich an, und er neigte den Kopf zur anderen Seite.

"Sind Sie sicher?" erkundigte er sich, offenbar einigermaßen überrascht. Wieder lauschte er der für Broots unhörbaren Antwort.

"Ich verstehe", erklärte Sam dann, und ein kaum wahrnehmbares Nicken begleitete seine Worte. "Betrachten Sie das als erledigt."

Er legte auf, und Broots begriff plötzlich, daß er sich in keiner sehr guten Position befand. Sam mochte nicht unbedingt zu der unberechenbaren Sorte Sweeper gehören, mit denen sich Raines umgeben hatte, aber er würde trotzdem nicht sehr begeistert reagieren, sollte er herausfinden, daß Broots ihn belauscht hatte. Broots tat das einzige, was ihm in diesem Moment einfiel. Er ließ die Akte, die er bis eben beinahe vergessen hatte, auf den Boden fallen. Dann bückte er sich, um sie aufzuheben und fluchte dabei leise vor sich hin.

Sam trat aus dem Seitengang hinaus in den Korridor und kam auf Broots zu, der sich verzweifelt bemühte, sich nichts anmerken zu lassen. Der Sweeper blieb neben ihm stehen. Broots wartete darauf, daß er irgend etwas sagte, aber nach ein paar Sekunden ging Sam kommentarlos weiter.

Als er schon fast außer Hörweite war, hörte Broots ihn noch etwas murmeln, das sehr nach einer Bemerkung über ungeschickte Technikfreaks klang, doch er war viel zu erleichtert, um daran Anstoß zu nehmen. Er stand wieder auf und setzte seinen Weg fort, dachte dabei über das nach, was er gerade gehört hatte. Nicht, daß sich viel daraus machen ließ. Jedenfalls nicht, solange er nicht wußte, mit wem Sam geredet hatte.

Mit einem Kopfschütteln streifte Broots diese Überlegungen ab, als er die Tür zu Miss Parkers Büro erreichte. Aus reiner Gewohnheit klopfte er an, und Sydney, wohl ebenfalls aus Gewohnheit, bat ihn herein. Einen Herzschlag lang verzogen sich Broots' Lippen zu einem Lächeln, doch die Erinnerung an all die schlechten Neuigkeiten ließ es schnell wieder verblassen.

"Broots."

Sydney hob den Kopf und sah ihn. Der Techniker wünschte sich beinahe, Sydney hätte nicht aufgesehen. Der Schmerz und eine schlaflose Nacht hatten tiefe Linien in Sydneys Gesicht hinterlassen. Seine Augen spiegelten etwas wider, für das Broots kein besseres Wort als Qual fand.

"Uh, Sydney, ich..." Er brach mitten im Satz ab und sah für einen Moment zur Seite, sammelte die Reste seiner Entschlossenheit. Broots hatte in der letzten Nacht auch nicht besonders viel geschlafen. Merkwürdigerweise hatte sich seine Sorge gleichmäßig auf Jarod und Miss Parker verteilt, als hätte ihm ein Gefühl gesagt, daß die Situation sich nicht bessern würde, solange die beiden getrennt voneinander litten. Das ergab natürlich überhaupt keinen Sinn, aber es hatte ihn trotzdem lange wachgehalten.

"Ich habe ein paar Informationen über Jarod", sagte er dann, aber es klang ein wenig lahm in seinen Ohren. Allerdings hatte er auch keinen Grund, besonders enthusiastisch zu sein.

Sydney nickte und versuchte, ein dankbares Lächeln zustande zu bringen. Es blieb bei dem Versuch. Broots legte die - zugegebenermaßen - recht dünne Akte auf den Schreibtisch. Miss Parkers Schreibtisch.

In Sydneys Blick glaubte Broots, eine unausgesprochene Frage zu sehen. 'Neuigkeiten über Miss Parker?' 'Leider nicht', dachte er bekümmert, brachte es aber nicht übers Herz, diese Tatsache laut auszusprechen.

Das Schweigen dehnte sich immer weiter aus, schien den ganzen Raum auszufüllen. Die Stille donnerte in Broots' Ohren, hinderte ihn daran, seine Gedanken zu sammeln. Er suchte fieberhaft nach einer tröstenden Bemerkung, irgend etwas, um das Schweigen zu brechen, in dem er sich zunehmend unwohler fühlte, aber ihm wollte einfach nichts einfallen.

"Ich dachte immer, es macht keinen Unterschied, ob man einen Sohn oder eine Tochter großzieht", murmelte Sydney auf einmal. Broots hatte den Eindruck, daß der ältere Mann eher zu sich selbst gesprochen hatte, doch er antwortete trotzdem.

"Nun, ich bin natürlich nicht hundertprozentig sicher, schließlich kenne ich mich mit Söhnen nicht so gut aus, aber... Ich sehe tatsächlich keinen großen Unterschied", erklärte Broots. "Wenn sie erwachsen werden, muß man sie beide loslassen."

Sydney neigte den Kopf zur Seite und schien über diese Worte nachzudenken.

"Vielleicht liegt es ja auch an mir. Es war nicht so schwer, Jarod gehenzulassen. Ich wußte immer, daß der Tag kommen würde, an dem er selbständig genug ist, um mich nicht mehr zu brauchen. Darauf habe ich ihn ja schließlich immer vorbereitet. Und mich selbst auch. Aber das hier ist nicht richtig, verdammt!"

Broots machte einen erschrockenen Satz, als Sydneys Faust ganz unvermittelt auf die Tischplatte donnerte.

"Jemand hat sich große Mühe gegeben, um Miss Parker zu dem zu machen, was sie heute nach außen scheinbar auch ist. Und ich habe alles getan, um ihr eine Chance zu geben, so aufzuwachsen, wie Catherine es für sie gewollt hätte. Selbst, als sie nach all den Jahren wiedergekommen ist, war ich mir ganz sicher, daß ich ihr den richtigen Weg weisen kann."

Er seufzte frustriert.

"Doch jetzt ist es vorbei", fuhr er düster fort. "Irgendwer versucht, sie zu zerstören. Und er macht das erstaunlich gut. Ich verliere sie, Broots."

Sein letzter Satz ließ Broots erst erkennen, wie unauslotbar tief Sydneys Schmerz wirklich sein mußte. Miss Parker war wie eine Tochter für ihn; und Broots war fast sicher, daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Als Vater wußte er, was es bedeutete, sein Kind leiden zu sehen und nicht helfen zu können. O ja, er wußte es. Aber so sehr er es auch wollte, er konnte Sydney keinen Trost anbieten.

Wortlos ging Broots zu einem der hohen Stühle, die auf der anderen Seite des Schreibtischs standen, und setzte sich. Wieder breitete sich das Schweigen wie eine erstickende Decke über ihnen aus, und diesmal fühlte es sich noch viel schlimmer an.

*****

Lyle war glücklich. Er war nicht einfach nur froh, daß Jarod wieder zurück im Centre war; er war einfach absolut glücklich.

Zufrieden sah er auf die dicke Stahltür, die den Pretender in seiner Zelle einschloß. Rechts und links neben der Tür standen zwei kräftige Sweeper, mit allem bewaffnet, was nötig war, um eine erneute Flucht zu verhindern.

Mit einem selbstgefälligen Grinsen wandte er sich an einen der beiden Wächter.

"Zeit, einen Blick auf unseren Heimkehrer zu werfen und ihm die neuen Regeln zu erklären", sagte er. Der Sweeper erwiderte sein Grinsen und öffnete wortlos die Tür für Lyle, während sein Kollege die Tür sicherte - nur für den Fall, daß ihr Sorgenkind auf falsche Gedanken kam.

Lyle betrat den halbdunklen Raum und sah sich vorsichtig um. Er mochte siegessicher sein, aber er war nicht dumm. Selbst bei all den Vorsichtsmaßnahmen, die Raines und er getroffen hatten, stellte Jarod noch immer eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar.

Doch der Pretender überraschte Lyle.

Er saß mit gesenktem Kopf auf seinem Bett, offenbarte nicht die geringste Spur von Angriffslust. Was natürlich auch ein Trick sein konnte.

Lyle hatte Jarod in seinem alten Zimmer untergebracht, natürlich unter verschärften Sicherheitsmaßnahmen. Er war ja nicht grausam. So weit das möglich war, sollte Jarod sich hier im Centre durchaus wohl fühlen. 'Schließlich leisten glücklichere Menschen bessere Arbeit', dachte Lyle amüsiert.

"Nun, haben wir uns schon wieder eingelebt?" erkundigte er sich fröhlich.

Es dauerte gute zehn Sekunden, bevor Jarod den Kopf hob, um ihn aus blutunterlaufenen Augen anzusehen. Dunkle Ringe unter seinen Augen verrieten Lyle, daß der Pretender eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Gut, das würde für eine Weile seine Konzentration stören, und solange das der Fall war, konnte er nicht auf dumme Gedanken kommen.

"Lyle", grollte Jarod dumpf. Seine Stimme produzierte ein bleiernes Echo in dem kleinen Raum.

"Gut erkannt", entgegnete Lyle und tippte mit dem Zeigefinger an seine Nasenspitze. Sein Lächeln wuchs noch etwas in die Breite. Es gefiel ihm, Jarod so zu sehen; es gefiel ihm sogar sehr. Das würde ihn lehren, sich zwischen ihn und seine Familie drängen zu wollen. Doch zu diesem Thema würden sie später noch kommen. Sie hatte viel Zeit. Es gab keinen Grund, etwas zu überstürzen. Besonders nicht im Moment, wo alle wichtigen Leute im Centre so zufrieden mit Lyles Arbeit waren. Und das machte Lyle auch zu einer wichtigen Person. 'Wichtiger, als alle ahnen', überlegte er mit einem raubtierhaften Grinsen. Bald, schon sehr bald...

"Auch, wenn es so aussieht", fuhr Lyle fort und badete in Jarods haßerfülltem Blick, "das hier ist kein Höflichkeitsbesuch. Hier haben sich einige Dinge geändert. Es gibt Regeln. Neue Regeln. Das Triumvirat ist erstaunlich nachsichtig gewesen. Solange wir mit einer erfolgreichen Zusammenarbeit rechnen können, haben Sie nichts zu befürchten."

Einigermaßen gespannt wartete er auf irgendeine Reaktion des Pretenders. Nach einer Minute gestand er sich enttäuscht ein, daß er keine bekommen würde. Soviel dazu. Aber es gab andere Mittel und Wege...

"Meine Schwester schien nicht besonders angetan zu sein von der Zeit, die sie mit Ihnen zusammen in Alaska verbracht hat", meinte Lyle beiläufig.

Jarods Kopf, der schon vor einer ganzen Weile wieder nach unten gesunken war, ruckte nach oben. Frischer Haß ließ seinen Blick brennen.

"Raus hier."

Lyle lachte. Oh, es war herrlich, Jarod zurück unter der Kontrolle des Centre zu wissen. Unter seiner Kontrolle.

"Hm, warum nicht? Privatsphäre ist ein kostbares Gut; ich verstehe das. Heute erwarte ich dafür noch keine Gegenleistung, aber in Zukunft wird sich das ändern."

Nach einem letzten, langen Blick auf Jarod verließ Lyle den Raum wieder, gefangen in seiner ganz eigenen Welt aus Machtrausch und Selbstgefälligkeit.

*****

Regentropfen fielen wie winzig kleine Sterne vom Himmel; jeder von ihnen spiegelte die Lichter der riesigen Stadt wider.

Miss Parker sah weder den Regen, noch die Lichter. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht das Blut zu sehen, das allgegenwärtig in ihrer Erinnerung war. 'Blut von meinem Blut', dachte sie bitter, kämpfte ganz automatisch gegen die Tränen an, die schon wieder in ihren Augen brannten. Mittlerweile viel es ihr immer leichter, sich wieder all der antrainierten Reflexe und Gewohnheiten zu bedienen, die sie sich im Centre angeeignet hatte. Doch der Schmerz loderte noch immer unvermindert in ihr, ließ sich auch nicht hinter ihrer Fassade aus Eis verbergen.

"Wir sind da, Miss."

Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um und musterte sie geduldig, mit dem Blick eines Mannes, der in seinem Leben schon viel Leid gesehen hatte und dankbar dafür war, daß es meistens anderen Leuten zugestoßen war.

Miss Parker nickte, nahm seinen mitfühlenden Blick nicht einmal zur Kenntnis. Sie griff in ihre Manteltasche und zog ihre Brieftasche hervor. Abwesend bezahlte sie den Mann, dann nahm sie ihre Tasche und stieg aus. Kaum, daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, rauschte das Taxi auch schon davon.

Ihr Blick glitt an der silbrig-grauen Fassade des Hochhauses empor, vor dem sie stand. Es sah kalt, anonym und ein wenig abweisend aus. Perfekt.

Miss Parker zog einen Zettel aus der Innentasche ihres Mantels, warf einen kurzen Blick darauf. Dann zerknüllte sie ihn und warf ihn in einen Mülleimer, bevor sie das Hochhaus betrat.

Sie fühlte sich noch immer so, als wäre sie nicht richtig wach. Die Welt zog an ihr vorbei, ohne daß sie großen Einfluß darauf nehmen konnte. Ihr Körper schien von einer Art Autopilot gesteuert zu werden, der sie atmen und laufen ließ. Atmen und laufen, zu viel mehr war sie im Moment nicht fähig. Ihre Gedanken gehorchten ihr nicht richtig; mal rasten sie so schnell, daß sie nur unsinnige Fetzen erkannte, dann wieder schienen sie geradezu durch ihr Bewußtsein zu kriechen. Und dann waren da natürlich noch ihre Gefühle, die sie sorgsam unterdrückte, weil sie wußte, daß sie andernfalls daran zerbrechen würde.

Miss Parker erreichte ihr Appartement. Sie zog den Schlüssel aus einer der Manteltaschen hervor und schloß auf. Mit langsamen Schritten betrat sie die kleine Wohnung und sah sich gleichgültig um. Es war ein Ort, an dem sie bleiben konnte, nicht mehr und nicht weniger. Und es war das beste gewesen, was sie in der kurzen Zeit hatte auftreiben können.

Behutsam stellte sie die Tasche auf den Tisch, der in der Mitte des Wohnzimmers stand, dann ging sie zurück zur Tür und verließ die Wohnung wieder. Noch konnte sie nicht hierbleiben. Zuerst mußte sie ein zuverlässiges Mittel finden, um ihren Schmerz zu betäuben. Im Moment fiel ihr nur eines ein; glücklicherweise gab es in einer Stadt wie New York mehr als genug Orte, wo sie es finden konnte.

Wie im Halbschlaf schritt sie von einer Straße zur anderen, wich Autos aus und stieß immer wieder mit anderen Leuten zusammen. Ihr Blick glitt dabei immer wieder suchend über die Fassaden der Häuser, bis sie schließlich ein Schild entdeckte, das verheißungsvoll genug aussah, um sie anzulocken.

Miss Parker zog sich ihren Mantel enger um die Schultern, bevor sie den Nachtclub betrat, der ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Wie sie es erwartet hatte, war die Bar so früh am Abend noch fast leer. Nach einem kleinen Zwischenstop am Tresen ging sie mit einer Flasche und einem kleinen Glas in der Hand zu einer der abgeschiedenen Nischen und ließ sich dort nieder.

Ihr Kummer schnürte ihr die Kehle zu, andernfalls hätte sie erschöpft geseufzt. Doch jetzt begnügte sie sich damit, das Glas sehr viel heftiger auf dem Tisch abzustellen, als nötig gewesen wäre. Es zersplitterte in ihrer Hand; die winzigen Glassplitter schnitten in ihre Handfläche und ihre Finger. Warmes Blut strömte über ihre Haut. Das Gefühl ließ sie zittern und Panik in ihr aufsteigen, die sie mühsam wieder niederkämpfte.

"Alles in Ordnung, Miss?"

Als sie aufsah, begegnete sie dem besorgten Blick des Barkeepers. Nach einer kleinen Ewigkeit nickte sie.

"Ich brauche ein neues Glas."

Der Mann sah aus, als wollte er ihr sagen, daß sie ganz etwas anderes brauchte, aber zu ihrer Überraschung tat er es nicht.

"Ist gut", entgegnete er und reichte ihr ein Taschentuch. Sie nahm es entgegen und sah ihm nach, als er zur Bar hinüber ging.

'Was hast du erwartet?', wisperte eine leise, sanfte Stimme in ihr. 'Sie sind nicht alle so sehr um dich besorgt wie Jarod. Der Barmann ist nur daran interessiert, Geld an dir zu verdienen.'

Miss Parker schüttelte den Kopf. Jarod war der letzte Mensch, an den sie im Moment erinnert werden wollte. Nun, vielleicht nicht wirklich der letzte.

Sie wartete, bis der Barkeeper ein neues Glas vor ihr abgestellt hatte, dann wickelte sie das Taschentuch um ihre Hand. Das Blut - ihr Blut, erinnerte sie sich - zog ihren Blick wie magisch an, aber sie zwang sich, nicht darauf zu starren. Statt dessen schraubte sie die Flasche auf und goß sich einen Drink ein. Dann leerte sie das Glas in einem einzigen Zug.

Der Wodka brannte in ihrer Kehle und erfüllte sie mit der völlig falschen Art von Wärme. Die Wärme würde sich schon sehr bald wieder in Schmerz verwandeln, aber im Moment war das nicht wichtig. Im Moment wollte sie nur noch vergessen.

Der Alkohol riß einige ihrer sorgsam errichteten Barrieren nieder. Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf, aber es war nicht Ben, den sie sah. Es war Thomas.

Miss Parker preßte ihre unverletzte Hand auf ihren Mund, unterdrückte ein Schluchzen. Nach Tommys Tod hatte sie sich ebenfalls betrunken, aber damals hatte Jarod sie gefunden und aufgehalten. Doch heute würde das nicht passieren; sie hatte selbst dafür gesorgt.

Ein zweiter Drink folgte dem ersten, dann noch einer und noch einer. Mit leerem Blick starrte sie in ihre leeres Glas. Es war einfach nicht fair. Der Schmerz hatte sie aus einer völlig unerwarteten Richtung überrascht. Sie hatte alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, aus ihrem Leben ausgeschlossen. Bis gestern hatte sie geglaubt, daß es der Verlust von Jarod oder vielleicht von Sydney sein würde, der sie zerbrach. Nicht einmal im Traum hatte sie daran gedacht, daß irgend jemand Ben als ein lohnendes Ziel betrachten würde...

Tränen lösten sich aus ihren Augen, liefen heiß über ihre Wangen. Miss Parker goß sich einen neuen Drink ein. Sie würde noch viele davon brauchen, bis sie es wagen konnte, in ihr Appartement zurückzugehen. Doch wenigstens würde sie heute niemand aufhalten.

"Heute nicht, Jarod", murmelte sie, das Glas halb erhoben. Für einen Moment starrte sie ins Leere, dann setzte sie das Glas an ihre Lippen und trank das flüssige Vergessen.

*****

In Jarods Welt gab es keine Lichter. Seine Welt war dunkel, und sie blieb es auch, wenn er die Augen öffnete.

Das hier war sein Zimmer. Sie hatten ihn zurück in sein Zimmer im Centre gebracht. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Zweifelsohne war das Lyles Idee gewesen.

Jarod setzte sich im Bett auf. Er durfte jetzt nicht in Panik geraten. Früher oder später würde er schon wieder einen Weg nach draußen finden. Übelkeit wallte in ihm auf.

Der Pretender war beinahe dankbar dafür, daß es so finster war. So konnte er wenigstens die Wände nicht sehen. Wände die ihn einengten, die sich immer weiter auf ihn zuzubewegen schienen.

Er stand auf und zwang sich, tief durchzuatmen. Ihm war klar, daß er es hier nicht lange aushalten würde. Schon jetzt hatte er das Gefühl, daß sein Verstand langsam auseinanderfiel. Doch noch konnte er dagegen ankämpfen. Noch hatte er sich unter Kontrolle.

Jarod versuchte, etwas zu finden, mit dem er sich ablenken konnte. Er dachte an Sydney. Sie ließen ihn nicht zu ihm, aber Jarod wußte, daß Sydney sich wahrscheinlich schwere Vorwürfe machte. Dabei war es gar nicht seine Schuld gewesen; Jarod hatte es seiner eigenen Nachlässigkeit zu verdanken, daß er wieder im Centre war. Er hatte Lyle unterschätzt.

Lyle.

Noch einmal zitterte Jarod, doch diesmal war es Wut, die dafür sorgte, daß er die Kontrolle über sich verlor. Sobald er die Gelegenheit dazu bekam, würde er Lyle bezahlen lassen. Für den Tod von Kyle. Für den Tod von Ben Miller. Für das, was er seiner Schwester angetan hatte.

Beim Gedanken an Miss Parker zuckte Jarod unwillkürlich zusammen. Er wußte, daß jede Minute zählte. Je länger sie auf sich allein gestellt war, desto größer wurde die Gefahr, daß Jarod ihr nicht mehr helfen konnte.

Erinnerungen liefen vor seinem inneren Auge ab. Sie hatte ihn zurückgewiesen, mehr als einmal, dennoch würde er niemals zögern, ihr zu helfen. Miss Parker war... Was war sie eigentlich für ihn?

'Wenn du aufhörst, dich selbst zu belügen, können wir keine Freunde mehr sein.'

Die Worte aus seinem Traum fielen ihm wieder ein. Jarod runzelte die Stirn. Was sollten sie bedeuten? Er legte sich wieder aufs Bett, versuchte nicht daran zu denken, daß Miss Parker noch vor kurzem hier gesessen hatte, gefangen in ihrem Schmerz und verzweifelt darum bemüht, jemanden zu finden, der sie davon befreien konnte. Miss Parker, die jetzt irgendwo allein dort draußen war, ohne jemanden, der ihr helfen konnte, der sie liebte...

Mit einem Ruck setzte sich Jarod wieder auf. War es möglich, daß er so ein Idiot gewesen war? Daß er die Augen vor dem verschlossen hatte, was die Miss Parker in seinem Traum so mühelos durchschaut hatte?

Er liebte sie. Dessen war er sich immer bewußt gewesen. Aber er hatte nie in Betracht gezogen, daß dieses Gefühl vielleicht über eine bloße Freundschaft hinausging.

Jetzt war ihm klar, was die Worte bedeuteten. Bisher hatte er immer geglaubt, daß es ihm genügen würde, Miss Parkers Freundschaft zurückzugewinnen, aber langsam verstand er, daß ihm das nun nicht mehr genügen würde. Es gab mehr zwischen ihnen, etwas, das noch tiefer ging als Freundschaft. Und das war es, was verhinderte, daß sie wieder zu Freunden wurden.

Jarod setzte sich auf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Was sollte er bloß tun? Er konnte doch nicht einfach so hier herumsitzen, während Miss Parker litt und seine Hilfe brauchte.

Ein Geräusch ließ ihn aufsehen. Draußen vor der Tür fand eine leise Unterhaltung statt, dann trat wieder Stille ein. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, nur einen Spalt breit. Ein leises, metallisches Klappern hallte durch das Zimmer und die Tür schloß sich wieder.

Verwirrt stand Jarod auf, tastete sich vorsichtig durch die Dunkelheit. Nach einer Weile erreichte er die Tür. Er ging langsam in die Knie, tastete dann behutsam den Boden ab. Als seine Finger sich um einen länglichen Gegenstand schlossen, konnte er es kaum fassen.

Lyle hatte recht gehabt. Es hatte sich wirklich einiges verändert.

In der Dunkelheit verzerrte ein grimmiges Lächeln Jarods Züge.
Part 9 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.



Kostbare Momente
Teil 9

von Miss Bit





Trübes Licht fiel durch das kleine Fenster in ihrem Schlafzimmer. Miss Parker öffnete unwillig die Augen, hob den Kopf ein wenig und sah sich desorientiert um. Wo war sie?

Einen Augenblick später fiel es ihr wieder ein. New York. Sie war noch immer in New York. Ihre Erinnerungen kehrten Stück für Stück zurück, veranlaßten sie zu einem Stöhnen. Ganz dunkel erinnerte sie sich an eine leere Wodkaflasche, und möglicherweise war da noch eine zweite gewesen...

"Oh Gott", murmelte sie mit rauher Stimme, ließ ihren Kopf zurück auf das Kissen sinken. Wenigstens hatte sie in dieser Nacht - oder vielmehr den größten Teil des Tages - halbwegs ruhig durchgeschlafen. Der Schmerz war noch immer da gewesen, ein wenig zu ihrer Überraschung; aber keiner ihrer üblichen Alpträume hatte sie heimgesucht.

Ein leises Knurren ließ Miss Parker aufsehen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, daß sie ihren Magen gehört hatte. Sie hatte Hunger; aber sie hatte keinen Appetit. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr schließlich, sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Der bloße Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit.

Miss Parker schloß die Augen. Würde ihr Leben jemals wieder normal werden? Ihre Lippen verzogen sich bei diesem Gedanken zu einem bitteren Lächeln. Nicht, daß ihr Leben je normal gewesen wäre.

Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Es hatte keinen Sinn, im Bett zu liegen und zu brüten - das würde ihr auch nicht weiterhelfen. Irgendwie schaffte sie es, sich genügend zu motivieren, um aufzustehen.

Mit unsicheren Schritten ging sie hinüber zu ihrer Tasche, die noch immer auf dem Tisch stand. Miss Parker wühlte mit beiden Händen durch den Inhalt der Tasche, bis sie das Oberteil gefunden hatte, nach dem sie gesucht hatte. Dann erstarrte sie plötzlich mitten in der Bewegung, ließ eine Hand sinken und griff mit der anderen Hand nach dem Foto, das sie bei ihrer Suche an die Oberfläche befördert hatte.

Hilflos starrte sie auf das Bild. Gemischte Gefühle durchströmten sie, aber vorherrschend war dasselbe ungute Gefühl, das sie mehrfach vor ihrer Fahrt nach Maine gespürt hatte. Etwas sagte ihr, daß sie dieses Bild lieber nicht mitgenommen hätte. Beinahe verärgert schüttelte sie ihren Kopf. Niemals hätte sie ausgerechnet dieses Bild zurückgelassen; es bedeutete ihr zuviel. Und es war ein kleines Stück ihrer Vergangenheit, das ihr geblieben war, das ihr helfen würde, sich über ihre leere Zukunft hinwegzutrösten.

Nach einer halben Ewigkeit erwachte sie aus ihrem Tagtraum, erinnerte sich an eins der beiden Dinge, wegen denen sie überhaupt nur aufgestanden war. Eines ihrer Ziele heute hieß wieder Vergessen, doch das andere hatte zunächst Vorrang. Und dieses Ziel hieß Rache.

Behutsam legte sie das Bild zurück in die Tasche. Dann suchte sie den Rest der Sachen zusammen, die sie heute tragen wollte und ging ins Badezimmer, um zu duschen.

Zwanzig Minuten später verließ sie ihr Appartement. Nach außen wirkte sie nun wieder wie ihr altes, perfektes Selbst. Unter ihrem langen, schwarzen Ledermantel trug sie eine schwarze Jeans und ein kurzes, ebenfalls schwarzes Samtoberteil - eine Kombination, die nicht nur elegant genug für ihr Vorhaben war, sondern sich möglicherweise auch als praktisch erweisen mochte.

Miss Parker zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche ihres Mantels, blätterte kurz darin. Schließlich fand sie die Adresse, die sie gesucht hatte, und nickte zufrieden. Mit einer geschmeidigen Bewegung steckte sie das kleine Buch zurück an seinen Platz, dann trat sie hinaus auf den Bürgersteig und hielt ein Taxi an. In ihrem kühlsten Tonfall und mit knappen Worten erklärte sie dem Fahrer genau, wohin er sie bringen sollte und stieg dann ein. Sie spürte deutlich, daß der Taxifahrer nur sehr ungern in die Gegend fahren wollte, die sie ihm genannt hatte. Um alle seine Zweifel auszulöschen, hielt sie ihm wortlos einen Hundert-Dollar-Schein unter die Nase. Er starrte sie an, dann griff er nach dem Geld und fuhr los.

Miss Parker starrte aus dem Fenster, lenkte sich mit ihren Beobachtungen vom Nachdenken ab. Kein leichtes Unterfangen - es gab so vieles, das nach ihrer Aufmerksamkeit verlangte, aber im Moment war sie einfach nicht in der Lage, sich damit zu befassen.

Ihr Blick ruhte für eine Weile auf dem trüben, wolkenverhangenen Himmel, glitt dann weiter zu den unendlich wirkenden Häuserschluchten. Menschenmengen schoben sich über die Bürgersteige, bildeten eine einzige, graue Masse. Vor ein paar Jahren noch hatte dieser Ort so vertraut gewirkt, so vibrierend mit Leben. Doch jetzt war es nur eine weitere Großstadt, ein grauer Moloch, der still vor sich hin wucherte.

"Miss?"

Sie blinzelte überrascht, dann warf sie dem Fahrer einen kühlen Blick zu.

"Sind wir da?"

"Ja, Miss."

Miss Parker stieg aus dem Taxi. Diesmal fuhr der Fahrer bereits an, noch bevor sie die Tür richtig geschlossen hatte. Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen, als sie ihren Blick über die Häuserblocks schweifen ließ. Eine elegante Gegend, aber sicherlich nicht eine der besten von New York. Zumindest dann nicht, wenn man nicht die richtigen Beziehungen hatte.

Sie wurde schnell wieder ernst, als sie mit entschlossenen Schritten auf das Gebäude zuging, in dem das Büro untergebracht war, wegen dem sie hergekommen war. Neben den Hochhäusern in der Nachbarschaft wirkte das Haus beinahe lächerlich klein, obwohl es für den Maßstab, der in Blue Cove herrschte, noch immer recht groß war.

Vor dem Haus blieb Miss Parker kurz stehen, den Blick unverwandt auf das kleine, golden schimmernde Firmenschild gerichtet. 'Tanaka Enterprises' stand in eleganten, japanischen Buchstaben darauf.

Miss Parker stieg die vier Stufen hinauf, die zum Eingang hinaufführten und öffnete die schwere Eichentür. Dahinter lag ein langer Flur, der fast völlig leer war. Sechs mannshohe Vasen bildeten die einzige Dekoration, eskortierten den Besucher bis zu einer zweiten, weniger massiven Tür.

Bevor Miss Parker sie öffnete, zog sie erst eine kleine, rechteckige Karte aus der Innentasche ihres Mantels. Es war eine Visitenkarte, allerdings eine der wenigen, die sie nicht als Mitarbeiterin des Centres auswies. Nach dem Fiasko vor zwei Jahren wäre es mehr als unklug gewesen, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen.

Mit einem respektvollen Klopfen kündigte Miss Parker ihre Anwesenheit an, dann öffnete sie die Tür. Den kleinen Empfangsraum, der sich dahinter verbarg, betrat sie energisch genug, um die volle Aufmerksamkeit der Sekretärin auf sich zu ziehen. Die junge Frau, die ganz offenbar asiatischen Ursprungs war, sah mit höflichem Interesse zu ihr auf. Miss Parker deutete eine leichte Verbeugung an, die mit einem Nicken beantwortet wurde.

'Ist ein Mitglied der Tanaka-Familie zu sprechen?' erkundigte sich Miss Parker dann auf Japanisch, und überreichte der Sekretärin ihre Visitenkarte. Nach einem kurzen Blick darauf lächelte die junge Frau unverbindlich.

'Ich werde mich erkundigen. Bitte haben Sie einen Moment Geduld, Miss Parker.'

'Vielen Dank', erwiderte Miss Parker abwesend. Ihre Aufmerksamkeit ruhte auf einem der drei Bilder, die in dem Büro hingen. Es kam ihr vage bekannt vor. Nachdem sie eine Weile auf die einfache Kohlezeichnung gestarrt hatte, die einen japanischen Ziergarten zeigte, fiel ihr wieder ein, wo sie dieses Bild gesehen hatte. Wenn sie sich recht entsann, war sie sogar anwesend gewesen, als der Künstler es gezeichnet hatte.

"Miss Parker?"

Sie fuhr herum, konzentrierte sich statt auf das Bild nun auf den Mann, der das Büro betreten hatte. Ihre Brauen wanderten leicht in die Höhe, und sie musterte den Neuankömmling mit einem fragenden Blick. Er erwiderte ihren Blick, dann lächelte er leicht.

"Ich bin der persönliche Sekretär von Mr. Ioyushu", stellte er sich in makellosem Englisch vor. "Mr. Ioyushu ist gern bereit, Sie zu empfangen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen..."

Miss Parker überlegte einen Augenblick. Der Name kam ihr nicht bekannt vor, aber die Tanakas waren eine große Familie. Auch wenn sie nicht direkt mit jemandem sprechen konnte, den sie kannte, so mußte sie doch diese Gelegenheit nutzen. Sie war sich nicht sicher, ob sie in den nächsten Tagen noch einmal die Kraft finden würde, hierher zu kommen. Die Tanakas schuldeten ihr den einen oder anderen kleinen Gefallen, und die Bitte, die sie heute an sie richten wollte, würden sie ihr wahrscheinlich mit Freude erfüllen.

'In Ordnung', entgegnete sie, wieder auf Japanisch, und verbeugte sich leicht, zollte dem Mann erst jetzt ihren Respekt. Sein Lächeln verbreiterte sich etwas, als er die Verbeugung erwiderte, dann führte er sie aus dem kleinen Büro hinaus zu einem Aufzug.

Einen Herzschlag lang wurde Miss Parker von Panik erfüllt, dann erinnerte sie sich daran, daß sie sich hier nicht im Centre befand. Hier hatte sie nichts zu befürchten. Sie betrat den Lift und hoffte, daß das Ergebnis ihrer Mühe den Aufwand wert sein würde.

*****

Ein neuer Tag im Centre war gekommen und gegangen, ohne daß Jarod die Sonne gesehen hatte. Der Pretender hatte auch sonst nicht viel gesehen - außer einem Sweeper, der ihm zweimal ein Tablett mit Essen gebracht hatte, war sonst niemand zu ihm gekommen.

Jarod hatte den größten Teil des Tages damit verbracht, auf dem Bett zu liegen und Pläne zu schmieden. Die meisten davon schlossen das kleine 'Geschenk' des Unbekannten ein, und jeder einzelne neue Plan hielt ihn davon ab, sich daran zu erinnern, daß er sich eigentlich wie ein gefangenes Tier fühlen sollte.

Ein leises Rumpeln ließ ihn auffahren. Wie schon ein dutzendmal zuvor an diesem Tag lauschte Jarod angestrengt in die Dunkelheit. Sorge prägte seine Züge, als das Geräusch nach ein paar Sekunden wieder aufhörte, ohne daß er das leise Wispern hörte, das er halb erwartet hatte.

Obwohl Jarod nun schon seit mehr als zwei Tagen wieder im Centre war, hatte sich Angelo noch nicht blicken lassen. Dieser Umstand besorgte Jarod mehr, als er bereit war, sich einzugestehen. Bisher hatte sich der Empath immer um ihn gekümmert, hatte ihn mit Informationen versorgt, die Jarod die Flucht wenn schon nicht ermöglichten, so doch erleichterten.

Enttäuscht starrte Jarod in die Dunkelheit. Seine Enttäuschung galt vor allem sich selbst. Er hatte Miss Parker im Stich gelassen, in dem er sich von Lyle hatte fangen lassen. Und jetzt verlor er hier wertvolle Zeit.

Der Gedanke an Lyle entzündete erneut die Flamme heißen Zorns, die schon seit Tagen in ihm brannte. Oh, hoffentlich ließ sich Lyle noch einmal dazu hinreißen, allein in Jarods Quartier zu kommen! Dann würde Jarod Rache nehmen - Rache für Kyle und für Ben. Und diesmal würde er es Lyle mit gleicher Münze heimzahlen...

Als die Tür beinahe geräuschlos aufglitt und jemand das Licht anschaltete, war Jarod für einen Moment vor Überraschung wie gelähmt. Die plötzliche Helligkeit ließ ihn die Augen für ein paar Sekunden zusammenkneifen, bis er sich an das Licht gewöhnt hatte. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, um den flachen Metallgegenstand unter seiner Matratze hervorzuholen und in seinem Ärmel verschwinden zu lassen, bevor Lyles selbstzufriedene Stimme durch den Raum hallte.

"Hallo, Jarod."

Lyle lehnte lässig am Geländer der kurzen Treppe, die hinunter in Jarods Raum führte. Der Pretender unterdrückte ein zufriedenes Lächeln und wahrte einen gleichmütigen Ausdruck, als er sah, daß Lyle tatsächlich allein war. Jarod konnte kaum fassen, daß Lyle sich so... dumm verhielt, aber das würde ihn nicht daran hindern, diesen glücklichen Umstand zu nutzen. Er blieb auf dem Bett sitzen und sah Lyle an, ließ nur einen kleinen Teil seines mühsam kontrollierten Zorns in seinen Augen aufblitzen. Wortlos starrte er Lyle entgegen, ließ seinen Blick für sich sprechen.

Nach einer Weile runzelte Lyle die Stirn.

"Hm, sieht ganz danach aus, als müßte ich die Hauptlast dieses Gesprächs tragen", meinte er gespielt nachdenklich. Dann verdüsterte sich seine Miene etwas.

"Das Triumvirat erwartet, daß Sie Ihre Arbeit so bald wie möglich wieder aufnehmen", fuhr er dann fort. "Und bald bedeutet morgen."

"Nein", entgegnete Jarod schlicht.

In Lyles Mundwinkeln zuckte es kurz, dann lächelte er amüsiert.

"Merkwürdig. Ich habe beinahe mit dieser Reaktion gerechnet", sagte er mit einem dünnen Grinsen. Er schwieg für eine Weile, dann beugte er sich interessiert vor.

"Ehrlich gesagt bin ich aber nicht nur deswegen hier. Das hätte schließlich noch bis morgen Zeit gehabt."

Sein Blick ruhte auf Jarod, als er zu überlegen schien, wie er fortfahren sollte. Nach einer kurzen Weile zuckte er ganz leicht mit den Schultern, war offenbar zu einer Entscheidung gelangt.

"Ich bin neugierig", gestand er. "Was ist passiert, nachdem Sie meine Schwester aus Claremont fortgebracht haben?"

Diese Frage genügte beinahe, um Jarods mühsam aufrecht erhaltene Selbstkontrolle zusammenbrechen zu lassen.

"Miss Parker wäre beinahe gestorben", brachte er gepreßt hervor. Er machte sich nicht mehr die Mühe, die Ausmaße seines Zorns zu verschleiern. Verdammt noch mal, Lyle war ihr Bruder! War es ihm denn wirklich völlig egal, ob seine Schwester lebte oder starb?

Lyle neigte den Kopf zur Seite, als würde er über Jarods Worte nachdenken.

"Das habe ich nicht gemeint", sagte er dann. In seinen Augen blitzte es spöttisch. "Oh, kommen Sie schon, Jarod. Eine einsame Hütte, eine traumatische Situation, nur Sie beide - und Sie wollen mir weismachen, daß dort nichts passiert ist?"

Seine Stimme hatte ihren spöttischen Klang verloren, und in seinen Augen stand ein kaltes Glitzern. Jarod spannte sich an, wartete auf seine Chance, den einen Augenblick, in dem er die Kontrolle über die Situation übernehmen konnte. Bis es soweit war, mußte er seine Wut noch unter Kontrolle halten, um einen klaren Kopf zu behalten.

Wie beiläufig schritt Lyle von der Treppe fort, ging hinüber zu dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Auch er schien sich nur noch mühsam unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt begriff Jarod, daß Lyle seiner Schwester gegenüber überhaupt nicht so gleichgültig war wie er sich gab. Ganz im Gegenteil - Lyles Emotionen schienen in diesem Punkt fast ebenso stark zu sein wie seine eigenen.

"Sie kennen Miss Parker - sie hält alle auf Distanz", antwortete Jarod, selbst erstaunt über den leichten Tonfall seiner Worte. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, Lyle ein wenig zu provozieren.

"Nicht alle", entgegnete Lyle, und diesmal waren seine Gefühle noch offensichtlicher. Jarod verspürte einen Hauch von Überraschung. War Lyle etwa eifersüchtig?

Lyle schien zu ahnen, daß er langsam die Kontrolle über die Situation verlor. Er holte zu seinem nächsten Schlag aus.

"Eine merkwürdige kleine Sache, die da in Maine passiert ist", wechselte er abrupt das Thema. Jarod runzelte die Stirn, sowohl aus Verwirrung als auch aus Wut über die Art, wie Lyle über Bens Ermordung sprach. Als wäre es ein unwichtiges Ereignis, das sein Leben, wenn überhaupt, nur am Rand berührte. Das selbstzufriedene Lächeln kehrte auf Lyles Gesicht zurück; der Ausdruck in seinen Augen wirkte beinahe verträumt.

"Und meine Schwester", fuhr er fort, sein Tonfall eindeutig besitzergreifend, "hat recht eigenartig darauf reagiert. Ihr kleiner Auftritt hier im Centre war äußerst... interessant. Zu schade, daß Sie sie verpaßt haben."

Es waren seine letzten Worte, die dafür sorgten, daß Jarods Zorn überschwappte. Eine Erinnerung daran, daß Jarod nicht für Miss Parker da sein konnte, gerade jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte. Und Lyle rieb ihm diese Tatsache immer wieder genüßlich unter die Nase. Lyle, der die Schuld an allem trug.

Mit einem wütenden Aufschrei war Jarod auf den Beinen und hatte Lyle erreicht, noch bevor er reagieren konnte. Jarods Faust traf Lyle mit voller Wucht am Kinn, schickte ihn zu Boden. Einen winzigen Augenblick lang meinte Jarod, Furcht in Lyles Augen aufblitzen zu sehen, doch dann war Wut die vorherrschende Emotion. Lyle öffnete den Mund, um nach den beiden Sweepern zu rufen, die draußen vor der Tür Wache standen, aber Jarod war bei ihm, bevor er die Gelegenheit dazu hatte. Ein zweiter Schlag ins Gesicht ließ Lyles Unterlippe aufplatzen, so daß ein dünner Blutstrom über sein Kinn rann.

Jarod befand sich in einem Rausch, hervorgerufen von seiner Überzeugung, daß er in gerechtem Zorn handelte und von dem Adrenalin, das seine Reflexe und Reaktionen noch schneller als gewöhnlich werden ließ.

Lyle schaffte es, sich wieder aufzurappeln, und begann, sich zu wehren. Doch Jarod spürte die wenigen Treffer kaum, die sein Gegner landete. Viel zu lange hatte er auf eine Gelegenheit wie diese warten müssen. Seine Wut steigerte sich noch, als er kurz daran dachte, daß er bereits die Chance gehabt hatte, Lyle zu töten. Vor einem Jahr, als Lyle die Entführung von Sydneys Sohn Nicholas inszeniert hatte, hatte Jarod ihn in seiner Gewalt gehabt, die Mündung seiner Waffe auf Lyles Kopf gerichtet. Aber er hatte nicht abgedrückt. Heute würde er diesen Fehler nicht noch einmal begehen. Heute würde Lyle bezahlen.

Ein weiterer zorniger Schrei entrang sich Jarods Kehle. Er holte aus, schlug Lyle mitten ins Gesicht. Lyle stolperte und fiel nach hinten. Nur einen Sekundenbruchteil später war Jarod über ihm, hielt ihn mit seinem Gewicht am Boden.

Eine kurze Bewegung seines Arms genügte, um das Messer aus seinem Ärmel in seine Hand rutschen zu lassen. Jarod hielt die Klinge an Lyles Hals. Lyle erholte sich von seiner Benommenheit und schluckte trocken, als er seine Situation voll erfaßte.

"Und jetzt, Jarod? Wollen Sie mich töten?" brachte er keuchend hervor. "Vergessen Sie's. Das können Sie nicht."

"Ach nein?" wisperte der Pretender zurück. Kalter Zorn erfüllte ihn, würde ihm dabei helfen, Lyle zu beweisen, daß er sehr wohl in der Lage war, sein Vorhaben durchzuführen.

"Nein", keuchte Lyle. Seine Stimme klang selbstbewußt, aber in seinen Augen flackerte Furcht. "Beim letzten Mal haben Sie es auch nicht gekonnt."

"Sie vergessen, Mr. Lyle", zischte Jarod wütend, "daß ich letztes Mal aufgehalten worden bin. Aber das wird heute nicht passieren. Es gibt nichts, daß Ihr Leben noch retten könnte."

"Sie sind kein eiskalter Killer."

Erste Anzeichen von Todesangst ließen Lyles Stimme zittern.

"Ich bin ein Pretender - ich kann sein, wer immer ich sein möchte. Und jetzt bin ich Ihr Henker. Sie werden für alles bezahlen, was Sie getan haben."

"Das ist keine Gerechtigkeit!"

Lyles Stimme hatten einen schrillen Klang angenommen. Seine Panik verlieh ihm neue Kräfte; er bäumte sich auf und rollte sich zur Seite. Mit der rechten Hand versuchte er, Jarod das Messer zu entwinden, während er mit der anderen Hand einen schmerzhaften Schlag gegen Jarods Hals ausführte.

Jarod war erstaunt über Lyles Angriff. Doch weit stärker als sein Erstaunen war seine Wut, die durch Lyles Versuch, ihm zu entkommen, nur noch heftiger wurde. Diesmal würde Lyle ihm nicht entkommen.

Er ignorierte den Schmerz, den Lyles Schlag ausgelöst hatte, und konzentrierte sich statt dessen ganz auf seinen Gegner. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lyle eines seiner Knie an den Körper zog, um es ihm in die Magengrube zu rammen. Jarod wich Lyle geschickt aus und stieß mit dem Messer zu. Doch Lyle rollte sich erneut zur Seite, so daß Jarod nur seinen Arm traf. Er fügte Lyle eine tiefe Schnittwunde zu, die ihm offenbar große Schmerzen bereitete. Lyles Widerstand erstarb, und er starrte mit großen Augen zu Jarod empor.

"Na los, tun Sie's endlich, wenn Sie es können! Das ist Ihre letzte Chance. Wenn Sie es jetzt nicht zuende bringen, dann verspreche ich Ihnen, daß es Ihnen bald leid tun wird. Denn ich werde keine Schwäche zeigen. Sie werden meine Schwester nie bekommen!"

Diese ärgerlich hervorgezischten Worte rissen die letzte Schranke in Jarod nieder. Die letzten Reste seiner Vernunft wurden fortgespült, und er gab sich ganz seinem überwältigenden Zorn hin.

Lyles Blick bohrte sich in seinen; diesmal bettelte er nicht um sein Leben. In seinem Blick stand eine Herausforderung, die die letzten Zweifel in Jarod auslöschte. Langsam hob er das Messer, zielte genau auf den Punkt, von dem er wußte, daß ein Treffer an dieser Stelle Lyle sofort und relativ schmerzlos töten würde. Mehr, als der Bastard verdiente.

Er hörte, wie sich die Tür erneut öffnete. Triumph blitzte in Lyles Augen auf.

"Freu dich nicht zu früh, Mistkerl", flüsterte Jarod dunkel, ohne aufzusehen. Auch ein Dutzend Sweeper würde ihn jetzt nicht mehr aufhalten. "Du bist schon tot."

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung war und machte sich daran, das Messer mit einem schnellen Ruck in Lyles Brust zu stoßen.

"Das reicht jetzt, Jarod!"

Das Messer noch immer zum Stoß erhoben, wandte Jarod ungläubig den Kopf.

"Dad?"

"Allerdings", erwiderte sein Vater trocken. Major Charles stand in der Tür, und dahinter erkannte Jarod Sydneys hochgewachsene Gestalt. Der Major zog eine Waffe aus seiner Manteltasche. "Du kannst das Messer jetzt wegstecken."

"Du verstehst das nicht, Dad!" widersprach Jarod. Seine Finger schlossen sich fester um den Griff des Messers. Sein Vater neigte den Kopf leicht zur Seite, dann trat er ein paar Schritte in den Raum. Sydney folgte ihm und starrte mit gerunzelter Stirn auf die Szene vor ihm herunter.

"Ich verstehe mehr, als du glaubst. Mach dich nicht unglücklich. Er ist es nicht wert."

Verwirrung machte sich in Jarod breit. Die ruhige Stimme seines Vaters dämpfte seinen Zorn.

"Er hat Kyle ermordet!"

Major Charles schloß kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder und schüttelte heftig den Kopf.

"Wenn du ihn jetzt tötest, machst du deinen Bruder dadurch auch nicht wieder lebendig", sagte der Major ruhig. Einen Moment lang fühlte Jarod ob der unverständlichen Ruhe seines Vaters neuen Zorn in sich aufsteigen, doch dann begann er den Standpunkt des Majors zu begreifen. Langsam ließ er das Messer sinken. Sydney seufzte erleichtert. Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, meldete er sich zu Wort.

"Broots hat auf der obersten Ebene ein wenig Verwirrung gestiftet, aber die wird nicht mehr sehr lange vorhalten. Ihr müßt jetzt sofort gehen", erklärte er drängend.

Jarod starrte auf Lyle hinunter, der seinen Blick mit einem wissenden Lächeln erwiderte. Angewidert wandte der Pretender den Blick ab; dann stand er auf.

"Wir sind noch nicht fertig", knurrte Jarod. Lyle schloß die Augen.

Mit wenigen Schritten war Jarod bei seinem Vater und Sydney. Die Freude, seinen Vater wiederzusehen, wurde gedämpft durch die Ereignisse, die er gerade durchlebt hatte. Jarods Blick glitt von seinem Vater zu Sydney. In Sydneys Miene meinte er Enttäuschung zu sehen. Hätte Sydney ihn vielleicht nicht aufgehalten? Nur Momente später kehrte seine Sorge um Miss Parker zurück.

"Sydney, hast du etwas von ihr gehört?"

"Nein, Jarod. Tut mir leid", erwiderte Sydney und schüttelte betrübt den Kopf. Neben ihm räusperte sich Major Charles.

"Wir müssen jetzt gehen, Jarod", drängte er. In seinem Gesicht spiegelten sich sowohl Verständnis als auch Sorge. Jarod fühlte sich hin- und hergerissen.

"Sydney, ich...", begann er, doch Sydney schob ihn sanft in Richtung Tür.

"Ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, um sie zu finden. Und ich gebe dir sofort Bescheid, sobald ich etwas erfahre. Aber wenn du jetzt nicht gehst, dann wirst du ihr nicht helfen können. Bitte, Jarod!"

Jarod warf noch einen letzten Blick zurück zu Lyle, der sich gerade aufsetzte und feindselig zu ihnen herübersah. Dann gab er sich geschlagen.

"In Ordnung. Vielen Dank, Sydney."

"Schon gut, Jarod", erwiderte Sydney und berührte ihn kurz am Arm. Major Charles brummte erleichtert, nickte Sydney kurz zu und ging dann voraus in den Korridor. Jarod folgte ihm, erfüllt mit Erleichterung, daß er das Centre endlich wieder verlassen konnte und einem schwachen Schatten seiner Sorge um Miss Parker. Hoffentlich kam er nicht zu spät.
Part 10 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.
Heißer Dank an Dara, die schnellste Betaleserin jenseits des Ärmelkanals!

Für alle, die mich ermutigt haben, diese Geschichte weiterzuschreiben.




Kostbare Momente
Teil 10

von Miss Bit





"Möchten Sie nicht vielleicht doch einen Anruf machen, Sir?"

Die Miene des Polizisten war ausdruckslos, aber in seinen Augen glomm mühsam unterdrückte Wut. Lyle neigte seinen Kopf leicht zur Seite und tat, als würde er überlegen. In Wirklichkeit war er sich schon seit langem im klaren darüber, daß es niemanden gab, der ihm aus dieser Situation heraushelfen konnte. Jedenfalls nicht, ohne ihn dadurch möglicherweise in noch größere Schwierigkeiten zu bringen...

"Ich sagte Ihnen doch bereits, daß ich das nicht tun will!"

Allmählich neigte sich Lyles Geduld ihrem Ende zu. Mit was für einem begriffsstutzigen Idioten hatte er es hier eigentlich zu tun? Ein stechender Schmerz in seinem Arm erinnerte ihn an die Ereignisse des vergangenen Tages. Geistesabwesend rieb er über den Verband und versuchte, doch noch einen Ausweg aus dieser absurden Situation zu finden.

"Sind Sie sich auch ganz sicher, Sir?"

"Ich habe Ihnen diese Frage jetzt schon dreimal beantwortet! Die Antwort lautet immer noch: nein, ich möchte niemanden anrufen. Haben Sie das jetzt endlich verstanden?" erwiderte Lyle mit mühsam beherrschter Stimme.

Der Gesichtsausdruck des ihm gegenüber sitzenden Polizisten erfuhr einige subtile Veränderungen, wirkte jetzt nicht mehr skeptisch, sondern vielmehr feindselig.

"Wie Sie meinen, Sir", antwortete der Beamte steif und erhob sich. "Einer meiner Kollegen wird das Verhör gleich fortsetzen."

Er schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

"Fortsetzen?" platzte es ungläubig aus Lyle heraus. "Sie halten mich jetzt schon seit mehr als fünf Stunden fest! Ich habe mit dieser Sache nicht das Geringste zu tun. Ich habe ein Alibi, verdammt!"

"Ein Alibi, das Sie uns nicht nennen wollen", sagte der Beamte, ohne sich zu Lyle umzudrehen. Lyle schnaubte ungehalten, sagte aber nichts. Der Polizist zuckte kaum merklich mit den Schultern und verließ dann den fensterlosen Raum.

"Verdammt!" fluchte Lyle.

Wäre er nicht so wütend gewesen, hätte ihn vielleicht die Ironie dieser ganzen Angelegenheit amüsiert. Anders als bei früheren Begegnungen mit der Polizei hatte er diesmal nämlich die Wahrheit gesagt. Er hatte tatsächlich nichts mit dieser absurden Anklage zu tun. Allerdings konnte er sein Alibi der Polizei gegenüber nicht enthüllen. Schließlich konnte er ihnen ja wohl kaum sagen, daß er zum fraglichen Zeitpunkt im Centre gegen Jarod um sein Leben gekämpft hatte. Aus demselben Grund konnte er auch seinen Anwalt nicht anrufen. Sein Anwalt wurde vom Centre bezahlt, und seit dem gestrigen Tag war das Centre nicht mehr allzu gut auf ihn zu sprechen. Zwar war es ihm bisher gelungen, seine Rolle bei Jarods Flucht zu verschleiern, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die genauen Umstände ans Licht kommen würden.

Wütend hieb er mit der Faust auf den Tisch und ließ zischend seinen Atem entweichen, als ihn ein scharfer Schmerz in seinem Arm an die Verletzung erinnerte, die er sich in seinem Kampf gegen Jarod zugezogen hatte. Seit diesem Kampf hatte sich Lyles Lage kontinuierlich verschlechtert; er war vom Regen in die Traufe geraten.

An die ersten Minuten nach der Auseinandersetzung konnte er sich nur recht vage erinnern, aller der Schmerz der Demütigung brannte mit unverminderter Klarheit in ihm. Die erste klare Erinnerung, die er hatte, bezog sich auf die Krankenstation des Centres. Zwei seiner Sweeper hatten ihn dorthin gebracht, nachdem sie ihn Jarods nun verlassenem Raum gefunden und Großalarm ausgelöst hatten. Mit einem Anflug von Bitterkeit erinnerte sich Lyle daran, wie er einige Zeit lang in einer stetig größer werdenden Lache seines eigenen Blutes gelegen und über die Prioritäten des Centres nachgedacht hatte. Seine eigenen Sweeper hatten es für wichtiger gehalten, zuerst den Alarm auszulösen, anstatt ihm sofort zu helfen.

Die Ärzte auf der Krankenstation hatten ihn schweigend behandelt, vorsichtig darauf bedacht, ihn nicht noch weiter zu verärgern. Mit dem Hinweis, daß er den verletzten Arm noch ein paar Tage schonen und in der Schlinge tragen sollte, hatten sie ihn dann entlassen.

Fünf Stiche! Lyle schauderte, sowohl aus Wut, als auch aufgrund der Erinnerung an den Schmerz, den die tiefe Schnittwunde ihm bereitet hatte. Eine Narbe würde wohl nicht zurückbleiben, aber die brauchte Lyle auch gar nicht, um sich für den Rest seines Lebens an diese Nacht zu erinnern.

Nachdem er die Krankenstation verlassen hatte, war er auf direktem Weg zu Sydneys Büro gegangen, wo er nicht nur den Psychiater, sondern auch einen reichlich verstörten Broots angetroffen hatte. Mit ein paar unmißverständlichen Worten hatte er ihnen klargemacht, daß die Ereignisse in Jarods Zimmer zu ihrer aller Wohl besser im Dunkeln bleiben sollten. Etwas überrascht hatte er zur Kenntnis genommen, daß Sydney seine Meinung teilte. Allerdings hatte er Lyle zu bedenken gegeben, daß die Überwachungsbänder nicht für ihn lügen würden.

Lyle lächelte kalt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Sweeper, die ihn gefunden hatten, schon alle existierenden Kopien des Bandes aufgespürt und vernichtet. Wenigstens von dieser Seite hatte er absolut nichts zu befürchten.

Er runzelte die Stirn und sein Lächeln verblaßte, als seine Erinnerung ihn weiter durch die Ereignisse der Nacht führte. Malcolm, einer seiner Sweeper, hatte ihn nach Hause gefahren. Doch kaum, daß Lyle die Tür hinter sich geschlossen hatte, hatte jemand geklingelt. Wäre er in diesem Moment nicht so erschöpft und unbeschreiblich wütend gewesen, hätte er vielleicht darüber gegrinst, doch so hatte er einfach nur zähneknirschend die Tür wieder geöffnet und in die roten Gesichter zweier Polizisten gestarrt. Einer der beiden hatte flüchtig auf die Schlinge geschaut, in der Lyles Arm jetzt noch immer steckte, und dann einen vielsagenden Blick mit seinem Partner getauscht.

"Was?" hatte Lyle mehr geknurrt als gefragt.

"Sir, wir möchten Sie bitten, uns zur Wache zu begleiten."

An dieser Stelle hatte Lyles gesunder Menschenverstand - so wenig er davon auch in den Augen anderer besitzen mochte - eine Auszeit genommen und das Feld kampflos seinem Zorn überlassen. Lyle konnte sich nicht mehr an seine genauen Worte erinnern, aber die folgende häßliche Szene hatte damit geendet, daß er in Handschellen abgeführt und sehr unsanft in ein Polizeiauto verfrachtet worden war.

Den Grund für seine Verhaftung hatte er dann auf dem Revier erfahren. Offenbar wurde er verdächtigt, an einem brutalen Raubüberfall auf zwei asiatische Geschäftsleute beteiligt gewesen zu sein. Bei einem Messerkampf war einer der beiden Männer getötet worden, und mehrere Zeugen hatten einen Mann vom Tatort flüchten sehen, deren Größe und Statur der Lyles entsprochen hatten. Der überlebende Geschäftsmann hatte ausgesagt, daß einem der Täter ein Daumen gefehlt hatte. Selbst in seiner Wut mußte Lyle zugeben, daß alle diese Hinweise auf ihn deuteten - nur, daß er nichts damit zu tun hatte!

Wieder und wieder hatte er die Polizisten zu überzeugen versucht, hatte sogar mit seiner Wunde als Beweis für sein Alibi - und seine Unschuld - argumentiert. Das hatte ihn nur tiefer in die Sache hineingeritten, denn zu diesem Zeitpunkt hatte ihm noch niemand gesagt, daß der Mord mit einem Messer verübt worden war. Und nun schienen alle von seiner Schuld überzeugt zu sein.

Lyle stand auf und begann, unruhig in dem kleinen Zimmer umherzulaufen. Zunächst einmal mußte er seine Gedanken ordnen, sonst würde ihm nie ein Weg aus dieser mißlichen Lage einfallen. Er brauchte jemanden, der die Kaution für ihn...

"Sir?"

Ein Polizist hatte die Tür geöffnet und sah Lyle verärgert an.

"Was denn noch?" schnappte Lyle übellaunig, sein Tonfall bei der nächsten Frage sarkastisch. "Soll ich mich vielleicht einem Lügendetektortest unterziehen?"

"Jemand hat die Kaution für Sie bezahlt und sich für Sie verbürgt", erwiderte der Beamte unwirsch und es war klar, daß es ihm unverständlich war, wie ein vernünftiger Mensch so etwas tun konnte. Deutlich widerwilliger fügte er hinzu: "Sie können gehen."

Lyle verspürte eine Welle der Erleichterung. Wenn er erst einmal hier raus war, würde er schon herausfinden, wer ihn in diese Lage gebracht hatte. Denn daß es sich bei dieser Sache um einen bloßen Zufall handelte, glaubte er nicht für eine Sekunde.

Er verließ das Verhörzimmer, froh, daß er nicht wieder in die winzige Zelle zurückkehren mußte, in der er die ersten zwei Stunden seines Aufenthalts hier verbracht hatte. Ihm war durchaus klar, daß die Polizei genug Indizien hatte, um ihn zumindest für 24 Stunden festzuhalten und daß sie ihn jetzt nur gehen ließ, weil sich jemand für ihn eingesetzt hatte. Nur wer?

Ein paar Minuten später stand Lyle auf dem Bürgersteig vor dem Polizeirevier. Im Osten hellte der Himmel bereits auf; das Morgengrauen kündigte sich an.

Von Lyle unbemerkt glitt eine dunkle Limousine fast geräuschlos durch die Nacht und hielt neben ihm an. Das hintere Fenster öffnete sich mit einem leisen Surren und Lyle fuhr herum. Er rechnete fast damit, in Raines' schadenfrohe Miene zu starren, doch statt dessen erkannte er seinen Vater, der ihn mit kalter Wut in den Augen betrachtete.

"Schön dich zu sehen, Dad", sagte Lyle leichthin. Mr. Parkers Augen verengten sich. Lyle sah etwas darin aufblitzen, daß ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

"Erspar mir das!" sagte der alte Mann verärgert. "Glaub' bloß nicht, ich wäre deinetwegen hier. Diese Situation ist für das Centre untragbar! Wage es nie wieder, das Centre in so eine Sache hineinzuziehen."

Eine unausgesprochene Drohung schien in der Luft zu hängen. Die Sekunden zogen sich in die Länge, und dann, bevor Lyle die Gelegenheit hatte, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, schloß sich das Fenster wieder. Beinahe lautlos setzte sich die Limousine wieder in Bewegung, ließ Lyle allein im einsetzenden Zwielicht des neuen Morgens zurück. Ein unvertrautes Gefühl breitete sich in Lyle aus und ließ seine Hand ganz leicht zittern, als er nach seinem Handy griff.

Angst.

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ihn jemand in Angst versetzt, ohne ihn mit einer Waffe zu bedrohen.

Während Lyle darauf wartete, von Malcolm abgeholt zu werden, begann er sich zu fragen, ob sein Vater bereits gewußt hatte, daß Jarod entkommen war, obwohl Lyle zu diesem Zeitpunkt bei ihm gewesen war, und ob das vielleicht der Grund für die Kälte und die stumme Drohung in seinen Augen gewesen war. Lyles Zittern verstärkte sich, und er versuchte erfolglos, sich einzureden, daß der Grund dafür allein die morgendliche Kälte war.

***

Das Licht des neuen Tages tauchte die Landschaft in ein sanftes, unwirklich wirkendes Licht. Nebelschwaden trieben dicht über dem Boden dahin, vermittelten dem Beobachter beinahe das Gefühl, über allem zu schweben.

Mit einem schweren Seufzen ließ Jarod die Gardine los, die daraufhin wieder vor das Fenster fiel und den Raum in ein trübes Halbdunkel hüllte.

Jarod setzte sich auf das unberührte Bett. Seit sie vor ein paar Stunden in diesem Motel unweit der Grenze zu Delaware angekommen waren, hatte er nicht einmal an Schlaf gedacht. Sein Kopf sank nach vorn, bis sein Kinn seine Brust berührte. In dieser Position verharrte er, versunken in eine Mischung aus Selbstekel und Schuldgefühlen.

Ein leises Klopfen ließ ihn aufsehen. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und Major Charles streckte den Kopf ins Zimmer.

"Wie geht's dir, Sohn?"

In seinen Augen stand ein Besorgnis, von der Jarod glaubte, daß er sie nicht verdiente. Er ließ den Kopf wieder auf seine Brust sinken.

"Dachte ich mir", murmelte Charles. "Was dagegen, wenn ich reinkomme?"

Seine Stimme hatte nun einen fast heiteren Klang. 'Aufmunternd', dachte Jarod. 'Ich will aber nicht aufgemuntert werden.'

Der Major wartete keine Antwort ab, sondern betrat das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

"Jay ist nebenan und schläft", fuhr Major Charles im Plauderton fort. Nach einem kurzen Blick auf Jarods Bett fügte er hinzu: "Offenbar hast du keinen Schlaf gefunden."

"Ich habe vor ein paar Stunden beinahe einen Menschen getötet", entfuhr es Jarod ungläubig und lauter, als er beabsichtigt hatte. Sein Vater sah ihn daraufhin ruhig an, doch Jarod wich seinem Blick aus.

"Eben", brummte Charles. "Beinahe."

"Weil du mich aufgehalten hast."

"Spielt das eine Rolle?"

"Für mich schon! Ich war bereit, ihn zu töten! Einen Menschen!"

Charles berührte seinen Sohn an der Schulter. Es erstaunte Jarod, wieviel Trost ihm allein diese einfache Berührung spendete.

"Soweit ich weiß, ist dieser Lyle so weit von einem Menschen entfernt, wie man es sein kann, ohne ein Ganzkörperfell zu tragen."

Die Stimme des Majors war ausdruckslos. Jarod drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Für einen Moment hätte er schwören können, ein amüsiertes Funkeln in den Augen seines Vaters gesehen zu haben.

"Das ist nicht die Zeit für Scherze, Dad", sagte er düster.

"Wer macht denn Scherze?"

Jarod schwieg und wich dem forschenden Blick seines Vaters einmal mehr aus. Die Ereignisse der Nacht hatten ihn nicht einfach nur beunruhigt oder ihn aus der Bahn geworfen - Jarod verspürte eine tiefsitzende Furcht. Vor ein paar Stunden hatte er tief in die dunklen Abgründe seiner Seele geblickt und ihm gefiel nicht, was er dort entdeckt hatte. Und sein Vater ahnte nicht einmal, wie nahe Jarod am Abgrund des Wahnsinns gestanden hatte. Die Tatsache, daß er wieder im Centre eingesperrt gewesen war, hatte ihn nicht halb so sehr beunruhigt wie sein Verhalten kurz vor seiner erneuten Flucht. Was, wenn er wirklich zum Mörder geworden wäre?

"Ich hätte ihn umgebracht", wisperte er, mehr zu sich selbst. Neben ihm holte sein Vater tief Luft und erhob sich.

"Das reicht jetzt, Jarod", sagte er, sein Tonfall scharf und autoritär. Überrascht sah Jarod zu ihm auf.

"Das führt doch zu nichts", fuhr sein Vater fort. "Du sitzt hier und zerbrichst dir den Kopf über eine Frage, die du nicht beantworten kannst. Es ist doch unwichtig, ob meine Worte nun Schlimmeres verhindert haben oder nicht. Letztendlich kannst nur du wissen, ob du wirklich in der Lage gewesen wärst, diesen Mann zu töten. Ich verstehe dich nicht, Sohn. Als Pretender kannst du die Gedanken und Gefühle anderer Menschen problemlos nachvollziehen. Kannst Du denn nicht in dein eigenes Herz sehen und dort die Wahrheit erkennen?"

"Und welche Wahrheit ist das, Dad?"

"Ach, Jarod. Hör doch mal für einen Moment auf, in hypothetischen Bahnen zu denken. Ich mag dich noch nicht sehr lange kennen, aber du bist mein Sohn, und es gibt Dinge, die ich sehr schnell über dich gelernt habe. Du bist kein Killer, und du hättest ihn nicht umgebracht; das konnte ich in deinen Augen sehen. Ich habe nur aus einem einzigen Grund in die Situation eingegriffen - weil wir keine Zeit hatten darauf zu warten, daß du zu demselben Schluß kommst."

Sein Vater schien tatsächlich von seinen Worten überzeugt zu sein, aber Jarod fiel es schwer, daran zu glauben. Schließlich würde er nie Gewißheit haben.

"Ich wünschte, ich wäre da so sicher wie du", faßte er seine Zweifel in Worte. Major Charles legte seine Hände auf Jarods Schultern und sah in fest an.

"Du kannst deinem alten Vater ruhig glauben", sagte er, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen. Doch dieser Hauch verblaßte schnell, und die Wärme in seinen Augen wurde von Entschlossenheit verdrängt. "Seine eigenen Taten kritisch zu beurteilen ist eine bewundernswerte Eigenschaft; Selbstzweifel sind aber nur destruktiv. Ich glaube, es gibt da etwas, das tun wolltest, und damit es dir gelingt, mußt du dir deiner selbst sicher sein und mit Entschlossenheit handeln."

Jarod wurde von einem heftigen Schuldgefühl durchzuckt. In all seinem Selbstmitleid hatte er nicht einmal an Miss Parker gedacht. Nein, das stimmte so nicht. Er hatte an sie gedacht, hatte sich gefragt, was sie wohl davon halten würde, daß er beinahe jemanden getötet hatte. Und daß dieser Jemand ihr Bruder war. Langsam spürte Jarod, wie seine Entschlossenheit zurückkehrte. Sein Vater hatte recht. Solange er hier saß und sich Gedanken um etwas machte, daß er nicht mehr ändern konnte, würde er Miss Parker nicht finden. Er mußte seine Gedanken auf die Zukunft richten. Was zählte, war, daß er es in Zukunft besser machen würde als in der letzten Nacht.

Er umfaßte die Unterarme seines Vaters und drückte sie sanft.

"Danke, Dad."

"Schon gut, Sohn", erwiderte sein Vater und zog ihn für eine kurze Umarmung in seine Arme. Dann ließ er ihn wieder los und lächelte ihn warm an. "Wie wär's mit einer schönen Dusche, während ich uns Frühstück mache?"

"Klingt toll."

Major Charles warf ihm einen letzten prüfenden Blick zu, nickte dann zufrieden und verließ das Zimmer. Jarod sah ihm nach und dankte dem Schicksal stumm dafür, daß es sie nach all den Jahren wieder zusammengeführt hatte. Dann schüttelte er die letzten trüben Gedanken ab und begann sich darauf zu konzentrieren, wie er Miss Parker am besten finden konnte. Sie brauchte ihn, und er würde alles in seiner Macht Stehende tun, endlich für sie da zu sein.

***

Ein leises Klopfen an seiner Bürotür ließ Sydney von der Akte aufsehen, die vor ihm lag. Er warf noch einen letzten Blick auf das Foto, das zuoberst in der Akte lag, dann schloß er den Deckel und sah zur Tür.

"Herein."

Die Tür ging langsam auf. Sydney war nicht besonders überrascht, Broots hereinkommen zu sehen. Niemand sonst im Centre klopfte auf so eine respektvolle Weise. Eigentlich klopfte außer Broots ohnehin niemand an seine Tür, bevor er - oder sie - hereinkam.

Broots bot einen traurigen Anblick. Seine Kleidung war leicht zerknittert, und er war nur schlecht rasiert. Die blutunterlaufenen Augen boten Sydney den letzten Hinweis, den er noch brauchte.

"Guten Morgen, Mr. Broots", begrüßte er seinen Kollegen freundlich und verzichtete auf die Frage, ob er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.

"An diesem Morgen ist nichts gut, Sydney", erwiderte Broots nervös und mit belegter Stimme. Sein Blick huschte immer wieder durch den Raum, so als suchte er nach verborgenen Kameras oder Mikrofonen. Sydney stellte das mit einiger Besorgnis fest, denn es schien langsam zu einer schlechten Angewohnheit zu werden. Vorsicht war für das Überleben im Centre essentiell, aber Broots' Verhalten grenzte schon fast an Paranoia.

"Was meinen Sie?"

"Was ich meine?", fragte Broots fassungslos. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. "Haben Sie schon vergessen, was letzte Nacht passiert ist? Da draußen ist alles voller Sweeper, die die ganze Gegend absuchen. Früher oder später wird jemand darauf kommen, daß wir an Jarods Flucht beteiligt waren, und dann sieht es ganz übel für uns aus!"

"Sie waren doch hier, als Lyle letzte Nacht mit mir gesprochen hat", sagte Sydney ruhig, in einem Versuch, an Broots' logischen Verstand zu appellieren.

"Ja! Oh ja", wisperte der Techniker entsetzt, und ein sichtbares Schaudern lief durch seinen Körper.

"Broots, es liegt nicht in Lyles Interesse, uns zu verraten. Das kann er auch gar nicht, ohne sich selbst ans Messer zu liefern. Wir sind sicher. Sie haben doch selbst gesagt, daß sich von dem Überwachungsband aus Jarods Raum keine Spur finden läßt."

Der Techniker nickte und Sydney stellte erleichtert fest, daß Broots sich ein wenig entspannte.

"Kommen Sie, setzen Sie sich für einen Moment hin. Sie sehen erschöpft aus."

Das war untertrieben, aber Sydney sah keinen Sinn darin, Broots noch weiter zu beunruhigen. Broots leistete seiner Aufforderung Folge und ließ sich auf das Sofa sinken, das Sydneys Schreibtisch gegenüber stand.

"Ich kann nicht glauben, daß Jarod wirklich schon wieder entkommen konnte", sagte er nach etwa einer Minute, nun deutlich ruhiger. Sydney lächelte.

"Bei all der Hilfe, die er dieses Mal hatte, konnte er ja gar nicht anders."

"Sydney!"

Broots entsetzter Blick war eine einzige stumme Bitte, nie wieder ihre Rolle bei Jarods Flucht zu erwähnen, und wenn doch, dann wenigstens nicht innerhalb der Mauern des Centres.

"Ich frage mich aber, von wem er dieses Messer hatte", fuhr Sydney gedankenverloren fort.

"Jedenfalls nicht von uns", erklärte Broots mit Nachdruck, und Sydney fragte sich einen Moment lang amüsiert, ob er zu ihm oder einem eingebildeten Überwachungsgerät des Centres gesprochen hatte.

"Richtig. Ich weiß, daß sein Vater es ihm ebenfalls nicht zukommen ließ. Das schränkt den Kreis der Verdächtigen ziemlich stark ein."

"Wer kann es bloß gewesen sein? Das alles ist so geheimnisvoll! Und das ist noch nicht alles", sagte Broots, wobei seine Stimme zunächst einen verwirrten, dann einen zunehmend mysteriösen Klang annahm.

Sydney sah ihn aufmerksam an, denn er vermutete, daß Broots ihm nun erzählen würde, warum er hier war. Broots beugte sich ein wenig zu Sydney vor, ein neugieriges Leuchten in den Augen.

"Mr. Parker soll sehr aufgeregt gewesen sein, als er heute morgen ins Centre gekommen ist. Aber das hat nicht an Jarods Flucht gelegen; jedenfalls nicht nur."

Gespannt wartete Sydney darauf, daß Broots endlich mit den Neuigkeiten herausrückte.

"Heute morgen ist auf Catherine Parkers Grab eine schwarze Lilie gefunden worden", sagte Broots endlich und sah Sydney erwartungsvoll an. Seine Aufregung wegen Jarods Flucht schien für den Moment vergessen zu sein.

"Eine schwarze Lilie?" wiederholte Sydney irritiert. Er hatte keine Ahnung, warum sich Mr. Parker darüber so sehr aufregen sollte. Sicher, es war eine ungewöhnliche Geste, aber nichts, weswegen man beunruhigt sein mußte. Oder vielleicht doch? "Weiß man, wer sie dorthin gelegt hat?"

"Nein. Aber Mr. Parker ist sich sicher, daß es Jarod war."

"Ich verstehe", meinte Sydney. Das erklärte natürlich Parkers Aufregung. Allerdings glaubte er nicht, daß Jarod etwas mit der Sache zu tun hatte. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten Sydneys ehemaligen Schützling sehr mitgenommen. Momentan war er bestimmt nicht daran interessiert, Mr. Parker mit kryptischen Hinweisen zu ärgern.

"Sie glauben nicht, daß es Jarod war, oder?" fragte Broots, obwohl er die Antwort bereits zu kennen schien. Sydney schüttelte den Kopf.

"Nein. Sie haben ihn doch letzte Nacht gesehen. Wie ich Jarod kenne, hat er im Moment ganz andere Sorgen. Ich frage mich, ob vielleicht..." Er brach mitten im Satz ab und starrte einige Sekunden lang ins Leere.

"Was fragen Sie sich, Sydney?" wollte Broots ungeduldig wissen.

"Ach, es ist nur so ein Gedanke gewesen. Ein sehr unwahrscheinlicher."

Broots zuckte mit den Schultern um anzudeuten, daß er Sydneys Vermutung trotzdem hören wollte, ganz egal, wie unwahrscheinlich sie auch sein mochte.

"Für einen Moment hatte ich das Gefühl, daß Miss Parker vielleicht etwas mit dieser Lilie zu tun haben könnte."

"Aber dann müßte sie ja noch in der Nähe sein!" entfuhr es Broots in einer Mischung aus Erleichterung und Ungläubigkeit. Sydney teilte die Erleichterung, die Broots fühlte, wenn auch aus anderen Gründen. Sein Gefühl sagte ihm, daß Miss Parker tatsächlich hinter dieser Sache steckte. Wenn das stimmte, bewies es, daß sie dabei war, sich wieder in den Griff zu bekommen. Lange Zeit hatte Sydney befürchtet, daß ihre Trauer und der Schock zu einem schweren Realitätsverlust bei ihr führen könnten, so daß sie sich schließlich gänzlich von der Welt zurückziehen würde.

Sydney wagte kaum zu hoffen, daß sie es war, die für diese eigenartige Geste verantwortlich war. Leider hatte er keine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie etwas damit zu tun hatte oder nicht, aber glücklicherweise kannte er jemanden, der genau der richtige Mann für diesen Job war.

"Broots, ich glaube zwar, daß Miss Parker dahintersteckt, aber sie ist bestimmt nicht mehr hier in Blue Cove. Trotzdem sollten Sie vielleicht noch einmal zu ihrem Haus rausfahren und nachsehen, ob sich dort irgend etwas verändert hat. Ich werde in der Zwischenzeit einen wichtigen Anruf machen."

Zwar schien Broots nicht ganz glücklich darüber zu sein, daß er allein zu Miss Parkers Haus fahren sollte, aber gleichzeitig wirkte er erleichtert darüber, endlich nicht mehr untätig zu sein.

"Ich melde mich, wenn ich etwas entdecken sollte", versprach er und hatte kurz darauf das Büro wieder verlassen. Sydney sah ihm kurz nach, dann schlug er die Akte wieder auf und sah hinunter auf das Foto der jungen Miss Parker. Es schmerzte ihn, daß sie sich nicht bei ihn gemeldet hatte, daß sie nicht bereit war, sich von ihm in ihrem Kummer helfen zu lassen, aber wenigstens hatte er jetzt einen Anhaltspunkt dafür, daß sie sich auf dem Wege der Besserung befand.

Den Blick noch immer unverwandt auf das Foto gerichtet, hob er schließlich den Hörer ab und begann zu wählen.

***

Die Dämmerung brach langsam über Blue Cove herein, als Jarod mit seinem Vater in der Ortschaft eintraf. Es war für sie beide äußerst gefährlich, hierher zu kommen, denn nach Jarods Flucht in der letzten Nacht wimmelte es in der ganzen Gegend von Angestellten des Centres, die nach Spuren und Hinweisen suchten. Doch Jarod wußte, daß er nur hier eine Chance haben würde, die Spur von Miss Parker aufzunehmen.

"Da vorne ist es, Dad", sagte er leise zu seinem Vater, als sie in eine Nebenstraße einbogen. Jarod zeigte auf ein Appartementhaus, das am Ende der Straße stand. "Du kannst mich hier raus lassen."

"In Ordnung. Ich nehme an, daß ich dich nicht extra zur Vorsicht ermahnen muß, Sohn", erwiderte Major Charles und warf seinem Sohn einen strengen Blick zu. Jarod nickte nur. "Wenn du mich brauchst, ruf einfach an. Ich bleibe in der Nähe."

"Ist gut, Dad. Bis später."

Nach einem letzten Blick auf seinen Vater öffnete Jarod die Tür und verließ in einer geschmeidigen Bewegung den Wagen. Leise warf er die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg zu seinem Ziel.

Trotz der einsetzenden Dunkelheit und seiner dunklen Kleidung nutzte er jede Deckung, die sich ihm bot. Außerdem bemühte er sich, sich so unauffällig wie möglich zu bewegen. Als er gegenüber des Hauses angekommen war, kauerte er sich hinter eine dichte Hecke und verschmolz mit den Schatten. Jetzt mußte er nur noch warten.

Seit Sydney ihn am späten Morgen angerufen hatte, hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Ebenso wie Sydney glaubte er, daß Miss Parker etwas mit der schwarzen Lilie auf Catherine Parkers Grab zu tun hatte. Aber anders als Sydney war er der Meinung, daß diese Blume nicht etwa zur Erinnerung an ein bestimmtes, für Miss Parker wichtiges Datum dorthin gelegt worden war, sondern daß es sich um einen Hinweis handelte, um ein Zeichen dafür, daß Miss Parker gefunden werden wollte. Der Gedanke ließ Jarods Herz schneller schlagen, und er schloß für einen Moment die Augen, um sowohl die aufkeimende Hoffnung, als auch seine Sorge zu unterdrücken. Es blieb ein Gefühl der Wärme zurück, verursacht durch das Wissen, daß Miss Parker ihn - unbewußt oder bewußt - zu sich führen würde.

Versunken in seine Gedanken hätte Jarod beinahe den Mann übersehen, wegen dem er heute abend hierher gekommen war. Ein dunkler Wagen setzte ihn vor dem Haus gegenüber ab, und in der Dunkelheit fiel es Jarod schwer, ihn eindeutig zu identifizieren. Doch dann tauchte das Scheinwerferlicht des davonfahrenden Wagens ihn für einen Moment in gleißendes Licht, und Jarod erkannte den Mann, dessen Schatten er von nun an sein würde.
Part 11 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Da ich erst kürzlich gelesen habe, daß man eine Präsentation nicht mit einer Entschuldigung beginnen soll, werde ich das hier auch nicht tun. ;-) Nur soviel - ich bin in letzter Zeit mal wieder nicht dazu gekommen, an dieser Geschichte weiterzuarbeiten, aber das heißt nicht, daß ich kein Interesse mehr daran hätte! Ganz im Gegenteil, in den letzten Wochen sind mir bestimmte Szenen aus dieser Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und ich freue mich darauf, sie so bald wie möglich zu beenden. Damit Ihr nicht mehr so lange auf die nächsten Teile warten müßt, habe ich mich entschlossen, die Länge der einzelnen Teile noch einmal zu halbieren. Auf diese Weise hoffe ich, etwa einen Teil pro Woche zu schaffen.

So, genug der trockenen Fakten - viel Spaß beim Lesen!




Kostbare Momente
Teil 11

von Miss Bit




Ein kalter Wind wehte über die hügelige Landschaft des Friedhofs, peitschte durch kahle Baumkronen und trieb ein Heer aus toten Blättern vor sich her. Der Himmel darüber wirkte wie eine stürmische See aus grauen Wolkenbergen, die, hoch aufgetürmt und ständig miteinander um die Vorherrschaft ringend, hastig vorüberzogen.

Zwei Tage waren vergangen, seit er das letzte Lebenszeichen von Miss Parker erhalten hatte. Wie verlangt, hatte er eine schwarze Lilie auf das Grab ihrer Mutter gelegt. Ihr Vater hatte sich erstaunlich stark darüber aufgeregt, doch das war die einzige ihm bekannte Reaktion geblieben.

Er schritt mit hochgezogenen Schultern eilig zwischen den endlosen Reihen aus Gräbern hindurch, die Augen fest auf den Boden gerichtet. Die linke Hand hatte er zum Schutz vor der Kälte in die Manteltasche gesteckt; in der rechten ruhte eine weitere schwarze Lilie. Verdrossen schüttelte er den Kopf. Das hier war einfach nicht seine Welt. Gedankenspielchen, Psychotricks - damit kannte er sich nicht besonders gut aus. Zugegeben, nach so vielen Jahren im Dienst des Centres sollte das eigentlich anders sein, aber er hatte Zeit seines Lebens mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen gestanden und immer nur handfeste Jobs erledigt.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis er das Grab erreichte, das ihn nun schon zum zweiten Mal innerhalb dieser Woche hierhergeführt hatte. Seine Schritte verlangsamten sich, bis er schließlich mit gesenktem Kopf in stiller Andacht stehenblieb. Das Grab war schmucklos, einfach; allein die Tatsache, daß es weit mehr Platz für sich beanspruchte als eigentlich nötig war, verriet, daß es etwas Besonderes war. Ein einfacher, schwarzer Stein mit goldener Inschrift informierte den Besucher, wessen Gedenken diese Ruhestätte gewidmet war. 'Catherine Parker, geborene Jameson', stand dort, und ein paar nüchterne Zahlen gaben Auskunft über die viel zu kurze Dauer ihres Lebens.

Und was für ein Leben es gewesen war. Gewidmet dem Wunsch, anderen Menschen Gutes zu tun, beendet in Ausübung eben dieses noblen Ansinnens. Sie alle hatten Catherine bewundert, und sogar jene, die ihre Feinde gewesen waren, hatten ihren Mut und ihre Hingabe respektiert. Doch dieser Respekt hatte ihr Leben nicht gerettet; er hatte nur dafür gesorgt, daß ihre Tochter nun hin- und hergerissen war zwischen dem Andenken ihrer Mutter und dem Wunsch, die ungeteilte Aufmerksamkeit und das Wohlwollen ihres Vaters zu erringen.

Eine Bewegung, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Er hatte sich also nicht geirrt. Zufrieden nickte er, dann legte er die Lilie vorsichtig auf den kalten, schwarzen Grabstein. Seine Finger verharrten für einen Augenblick, als scheuten sie davor zurück, den Kontakt mit der zierlichen Pflanze zu verlieren, dann ballte er sie zu einer Faust und steckte sie in seine Manteltasche.

Er machte ein paar Schritte nach hinten, den Blick unverwandt auf die zerbrechlich wirkende Blume gerichtet. Seine Muskeln spannten sich an, eine unwillkürliche Reaktion auf das Wissen, daß ihm eine Konfrontation bevorstand. Noch während er überlegte, wie er sein Kommen und das eigenwillige Memento rechtfertigen sollte, hörte er eine Stimme, die ihn herumfahren ließ.

"Ich dachte mir, schon daß Sie dafür verantwortlich waren, Sam. Üben Sie für Ihren nächsten Job als Weihnachtsmann?"

Sam kämpfte tapfer gegen das Grinsen an, das sich auf seinem Gesicht auszubreiten drohte. Sein Blick glitt über die muskulöse Gestalt des Mannes, den er eigentlich jagen und ins Centre zurückbringen sollte. Das war wirklich eine Überraschung. Er hatte im Grunde damit gerechnet, mit einigen seiner Kollegen vom Centre konfrontiert zu werden, aber offensichtlich hatte Mr. Parker nicht geglaubt, daß jemand dumm genug sein könnte, sich noch einmal am Grab seiner Frau blicken zu lassen. Oder, und Sam hielt diese Möglichkeit für sehr viel wahrscheinlicher, der alte Mr. Parker hatte bereits wieder das Interesse an dieser Sache verloren. Bis zu einem gewissen Grad war das durchaus verständlich; schließlich verlangte das Triumvirat die sofortige Wiederbeschaffung ihres wertvollsten Besitzes. Menschliches Kapital; das war es, was Jarod für sie war. Sam sah das etwas praktischer - für ihn war Jarod ein interessanter Gegner, der ihm den Job sicherte und seine kleinen grauen Zellen auf Trab hielt.

"Was meinen Sie, Jarod?" erkundigte er sich in einem fast beiläufigen Tonfall.

Jarod schnitt eine Grimasse, wohl teils begründet in Ungeduld, doch zum größten Teil in spöttischer Herablassung.

"All diese Geschenke, die sie in letzter Zeit verteilen - das legt einen bevorstehenden Jobwechsel nahe, finden Sie nicht auch?"

Sam beobachtete sein Gegenüber aufmerksam. Das spöttische Funkeln war aus Jarods Augen verschwunden. Statt dessen wirkte er nun ernst und, ein wenig zu Sams Erstaunen, erwartungsvoll. Doch kurz darauf verstand er, denn Jarod neigte in einer angedeuteten Geste den Kopf, brachte stumme Dankbarkeit zum Ausdruck. Der Pretender testete ihn, ihn und seine Bereitschaft, weit genug nachzugeben, um wertvolle Informationen preiszugeben. Sollte er zugeben, daß er es gewesen war, der Jarod das Messer hatte zukommen lassen? Wie würde der Pretender reagieren, wenn er erfuhr, daß Sam in diesem einen Punkt nicht auf Anweisung seiner direkten - und in seinen Augen einzigen - Vorgesetzten gehandelt hatte? Nein, er sollte es wohl besser für sich behalten. Schließlich wollte Sam nicht, daß Jarod auf den Gedanken kam, in Sam nun einen Verbündeten gefunden zu haben. Denn dem war durchaus nicht so - Sam wollte nur, daß jemand Miss Parker half. Da er selbst das nicht konnte und sie Sydneys Hilfe offenbar nicht akzeptiert hatte, blieb nur noch der eigensinnige Pretender.

"Nun, um ganz ehrlich zu sein, habe ich durchaus darüber nachgedacht, mich zu verändern - in beruflicher Hinsicht", gab Sam unverbindlich zurück, neigte aber ebenfalls ganz leicht den Kopf, um Jarod wissen zu lassen, daß er mit seiner Vermutung über die Herkunft des Messers richtig lag. Jarods Miene blieb unbewegt, doch in seinen Augen blitzte für den Bruchteil einer Sekunde Überraschung auf.

Innerlich seufzte Sam. Jarods Ausbruch war nicht ganz so verlaufen, wie er es sich gewünscht hatte. Oh, er hatte natürlich gewußt, daß Jarod kein kaltblütiger Mörder war, doch trotzdem war er enttäuscht darüber gewesen, daß der erneute Aufenthalt im Centre und sein Haß auf Lyle nicht genug gewesen waren, um für Lyles vorzeitiges Ableben zu sorgen. Nun, man konnte wohl nicht alles haben. Früher oder später würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, Mr. Lyle endgültig aus dem Weg zu räumen. Der Gedanke erfüllte Sam mit grimmiger Zufriedenheit.

"Aber?" fragte Jarod und riß ihn damit aus seinen Überlegungen. Für einen Moment verwirrt, runzelte Sam die Stirn, doch dann erinnerte er sich wieder an das, was er gerade gesagt hatte.

"Aber ich habe gewisse Verpflichtungen, die ich nicht einfach aufgeben kann", erwiderte Sam ungerührt. Sie beide wußten ganz genau, daß Sam niemals das Centre verlassen würde - höchstens mit den Füßen voran. "Und wo sonst könnte ich einen so herausfordernden Job finden?" fuhr Sam mit einem dünnen Lächeln fort. Heimlich amüsiert beobachtete er, wie Jarod sein Gewicht von einem Bein aufs andere und wieder zurück verlagerte. Der Pretender war ungeduldig. Er wollte endlich die Informationen, deretwegen er gekommen war.

"Sam, so sehr ich dieses Gespräch auch genieße", sagte Jarod mit einem etwas gequält wirkenden Lächeln, "das ist es nicht, weswegen ich hergekommen bin."

Miss Parkers persönlicher Sweeper nickte beinahe unmerklich. Auch ihm lag daran, diesen Informationsaustausch so schnell wie nur irgend möglich zu beenden - obwohl es sich nicht wirklich um einen Austausch handelte, denn der Pretender besaß keine Informationen, die für Sam in irgend einer Weise nützlich sein könnten.

Jarod schien keine Antwort auf seine Worte zu erwarten, denn er fuhr fort, sobald er Sams kleine Geste bemerkt hatte.

"Sie steht in telefonischem Kontakt zu Ihnen, habe ich recht? Miss Parker hat Sie angerufen und gebeten, so lange schwarze Lilien auf das Grab ihrer Mutter zu legen, bis Sie damit Aufmerksamkeit erregen. Die richtige Art von Aufmerksamkeit. Meine, zum Beispiel."

"Sie sind hier der Pretender, Jarod", erwiderte Sam unbeeindruckt. Bis hierhin hätte sich jeder, der Miss Parker auch nur ein wenig kannte, die Ereignisse rekonstruieren können.

"Sie wissen, wo sie ist, aber Sie haben die strikte Anweisung, es niemanden - besonders nicht mir - zu verraten", fuhr Jarod nach einem ungeduldigen Schnauben fort. Die Augen des Pretenders verengten sich leicht, so, als sei es ihm lästig, sich wegen ein paar Informationen in Sam hineindenken zu müssen. 'Dabei sollte er doch eigentlich wissen, daß ich ihm nicht einfach alles sagen kann', überlegte Sam überrascht. Erwartete der Pretender wirklich, daß ihm alles auf dem silbernen Tablett serviert wurde? Noch dazu von jemandem, der, abgesehen von dieser besonderen Situation, immer sein Feind gewesen war und es aller Wahrscheinlichkeit nach bald wieder sein würde?

Während Sam ihn noch mit einer Mischung aus Erwartung und leichtem Erstaunen betrachtete, machte der Pretender einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus. Auf halbem Weg ließ er sie wieder sinken, einen resignierten Ausdruck in den Augen, als sei ihm eben klar geworden, daß er sich hier nicht mit einem Freund unterhielt, sondern mit jemandem, dessen Verhalten er genau beobachten und dessen Worte er sorgfältig abwägen mußte. Auch wenn sie in dieser Sache dasselbe Ziel hatten, herrschte zwischen ihnen doch ein unterschwelliges Mißtrauen, das sich nicht einfach so ablegen ließ.

"Miss Parker braucht unsere Hilfe, Sam - Ihre genauso sehr wie meine. Während wir hier stehen und uns langsam an das herantasten, was in einem fünfminütigen Gespräch geklärt werden könnte, sitzt Miss Parker irgendwo und leidet. Oder, schlimmer noch, sie plant ihre Rache an Lyle und dem Centre. In ihrem jetzigen Zustand würde das zu einer Katastrophe führen!" Jarods Stimme hatte einen eindringlichen Klang angenommen. "Wir haben jetzt keine Zeit für Spielchen. Ich dachte, das würde Ihnen entgegenkommen. Miss Parker hat keine Zeit mehr. Jede Sekunde, die verstreicht, verschlimmert ihren Schmerz, und sie gerät immer tiefer in ein Gefängnis aus Schuld und Selbstvorwürfen. Ich verlange nicht von Ihnen mir zu helfen. Helfen Sie Miss Parker. Bitte, Sam."

Sam preßte die Lippen aufeinander. Jarod hatte recht.

"Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß. Was Sie mit diesen Informationen anfangen, liegt ganz bei Ihnen", informierte er Jarod. Der Pretender ließ erleichtert den Atem entweichen, den er bis zu Sams Antwort angehalten hatte.

"Vielen Dank, Sam. Sie tun das richtige."

"Sagen Sie das Miss Parker", murmelte Sam so leise, daß nur er selbst es hören konnte. Laut sagte er: "Am Tag, als sie das Centre verließ, rief sie mich an und bestellte mich zu ihrem Haus. Als ich dort ankam, fing sie gerade an zu packen. Sie gab mir ein paar Anweisungen, von denen Sie nur zwei interessieren dürften. Eine davon war, zusammen mit Dr. Greene und Mr. Broots weiter nach Ihnen zu suchen und Sie ins Centre zurückzubringen. Die andere betraf ihre bevorstehende Abreise. Sie bat mich, ihr eine Unterbringungsmöglichkeit in New York zu empfehlen. Ich weiß nicht, ob sie sich entschieden hat, wirklich dort zu bleiben. Wenn sie noch dort ist, dürfen Sie wohl davon ausgehen, daß sie gefunden werden will."

Nach dieser für seine Verhältnisse ungewöhnlich langen Rede machte Sam eine bedeutungsschwere Pause. Die Erleichterung und die Hoffnung in Jarods Gesicht erfüllten ihn mit einem ganz untypischen Gefühl von Zufriedenheit. Er öffnete die oberen drei Knöpfe seines Mantels und griff in die Innentasche. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jarod erschrocken zusammenzuckte und einen Schritt nach hinten machte. Sam lächelte humorlos.

"Glauben Sie wirklich, daß ich Sie nach diesem Gespräch zurück ins Centre bringe?" fragte er, und diesmal war er es, der in seiner Haltung herablassenden Spott zum Ausdruck brachte. "Genausogut könnte ich mir mein eigenes Grab schaufeln."

Er zog einen kleinen Notizblock aus der Innentasche und klappte ihn auf. Nachdem er den kleinen Kugelschreiber, der daran befestigt gewesen war, abgelöst hatte, begann er zu schreiben. Ein paar Sekunden später riß er den obersten Zettel vom Block und reichte ihn Jarod.

"Das ist die Adresse eines Apartmenthauses in Brooklyn. Dort werden Sie sie finden, falls sie sich nicht entschlossen hat, endgültig mit ihrer Vergangenheit abzuschließen."

Sam hob bedeutungsvoll die Brauen und beobachtete, wie Jarod nervös schluckte, als er die verschiedenen Möglichkeiten von Sams letzter Bemerkung im Geiste durchging.

"Ich danke Ihnen, Sam. Wenn Miss Parker wirklich gefunden werden möchte, dann werde ich sie auch finden", versprach Jarod ernst. Miss Parkers Sweeper nickte.

"Grüßen Sie sie von mir."

Jarods Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

"Ich dachte, Sie wollten lieber nicht mit meiner Suche nach Miss Parker in Verbindung gebracht werden", sagte er und zog fragend die Augenbrauen hoch. Sam erwiderte das Lächeln, brachte damit nicht nur seine Dankbarkeit für Jarods Hilfe zum Ausdruck, sondern auch sein Bewußtsein für die Ironie der Situation. Der Gejagte würde sich auf die Suche nach seiner Jägerin machen um ihr zu helfen - und er, Sam, Miss Parkers Jagdgefährte, hatte Jarod auf ihre Spur gebracht. Wenn das nicht ein Grund zum Lächeln war, was blieb dann noch?

"Sie wird es ohnehin wissen, sobald sie Sie sieht. Niemand sonst weiß, wo sie ist, nicht einmal die hohen Tiere im Centre. Viel Glück bei Ihrer Suche, Jarod", verabschiedete sich Sam. "Und vergessen Sie nicht: das nächste Mal, wenn wir uns sehen, muß ich Sie zurück ins Centre bringen."

Der Pretender nickte ernst, doch dann zwinkerte er.

"Ganz wie Sie meinen, Sam. Ach ja, bevor ich es vergesse - Sie würden bestimmt einen guten Weihnachtsmann abgeben."

Mit diesen Worten drehte sich Jarod um und ging durch die Gräberreihen davon. Nach ein paar Metern begann er zu laufen, und Sam sah ihm nach, bis der Pretender durch das Tor gelaufen und hinter der Friedhofsmauer verschwunden war.

Sam drehte sich um, um noch einen Blick auf Catherine Parkers Grab zu werfen. Nachdenklich betrachtete er die schwarze Lilie. Eigentlich gab es nun keinen Grund mehr, sie dort liegenzulassen. Er streckte die Hand nach der Blume aus, doch kurz bevor er sie berührte, ließ er sie wieder sinken. Es fühlte sich falsch an, die Lilie wieder mitzunehmen. Zwar hatte sie nur als Signal für Jarod gedient, als Zeichen, daß er gebraucht wurde und seine Hilfe erwünscht war, aber das bedeutete nicht, daß sie nicht auch einfach ein Schmuck auf dem Grab eines guten Menschen sein konnte.

Mit einem zufriedenen Nicken wandte sich Sam von Mrs. Parkers Grab ab und ging langsam zurück zum Ausgang. In Gedanken war er noch immer bei seinem Gespräch mit Jarod. Er hatte dem Pretender verschwiegen, daß Miss Parker ihn nach ihrer Abreise noch zweimal angerufen hatte. Allerdings hatte er auch keinen Grund gesehen, warum er es Jarod erzählen sollte. Zum einen hatte sich Miss Parker mit diesen Anrufen nur Sams Loyalität versichert, zum anderen hatte der merkwürdige Klang ihrer Stimme Sam zutiefst beunruhigt. Und wenn es ihn schon verunsichert hatte, was hätte dieses Wissen dann mit Jarod angestellt? Nein, er hatte sich keinen Vorwurf zu machen. Der Pretender wußte nun alles, was er wissen mußte, um Miss Parker helfen zu können.

Sam schlenderte über den breiten Kiesweg, der zum Ausgang führte. Er hatte nun beide Hände in den Manteltaschen vergraben. Ein beißender Wind wehte über den Friedhof, und Sam hatte nicht einmal angenehme Gedanken, um sich zu wärmen. Während er die Stätte des Todes und der geendeten Existenzen verließ, um seinen Dienst im Centre, einem ganz ähnlichen Ort, anzutreten, fragte er sich, was Miss Parker wohl gerade machte und wie es ihr gehen mochte.


Ende Teil 11
Part 12 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.



Kostbare Momente
Teil 12

von Miss Bit




Ein grauer Himmel spannte sich über den geschäftigen Straßen von Brooklyn. Menschenmassen schoben sich über die Bürgersteige, während endlose Kolonnen von Autos und Bussen die langgezogenen Straßen verstopften. Das trübe Licht des Nachmittags war keine Konkurrenz für all die Laternen, Scheinwerfer und hell erleuchteten Fenster, die die Stadt mit ihren Reflektionen überzogen.

Ein leichter Nieselregen setzte ein und überall spannten sich Regenschirme auf, sprossen wie bunte, bizarr gemusterte Pilze aus dem Boden.

Wie schon in den letzten Tagen hatte Miss Parker auch diesmal kein Auge für das bunte Treiben um sie herum. All die Menschen, die sich an ihr vorbeischoben und dabei keinen Blick für ihre Mitbürger übrig hatten, vermittelten ihr ein Gefühl der Enge. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, und sie sehnte sich nach einem Ort, an dem sie allein sein konnte.

Allein. Nicht einsam. Um einsam zu sein, mußte sie nicht erst extra einen bestimmten Ort aufsuchen. Sie war immer einsam, ganz egal, ob sie allein in ihrem trostlosen Appartement saß oder, wie jetzt, von Hunderten von Menschen umgeben war. Im Moment kam es ihr so vor, als wäre sie immer einsam gewesen.

Ihr Herz schlug mit schmerzhafter Intensität gegen ihre Rippen, als wolle es sie daran erinnern, daß das nicht stimmte. Es schien ihr beweisen zu wollen, daß sie noch immer lebendig war, trotz all der Dinge, die in den letzten Tagen passiert waren. Ein ersticktes Schluchzen bahnte sich seinen Weg nach außen. Der Laut ging unter in dem Meer aus Geräuschen, von dem Miss Parker umgeben war. Stimmen waberten um sie herum, trugen Gesprächsfetzen und Seufzer an ihre Ohren. Im Hintergrund dröhnte der Verkehrslärm, schien immer lauter zu werden.

Ihr Kopf fühlte sich an, als werde er zwischen zwei riesigen, erbarmungslosen Händen zusammengepreßt. Der Druck schien sich nicht allein auf das Körperliche zu beschränken; auch ihre Gedanken wurden davon beeinflußt.

'Verliere ich jetzt den Verstand?' fragte sie sich, und das nicht zum ersten Mal, seit sie Bens Leiche gefunden hatte.

Unwillig schüttelte sie den Kopf, als sich eine Spur ihres alten Kampfgeistes in ihr regte.

'Jetzt reiß dich endlich zusammen, Parker', ermahnte sie sich selbst mit einer Schärfe, die sie überraschte. 'Tu bloß nicht so, als hättest du noch nie einen Kater gehabt.'

Obwohl dieser Gedanke alles andere als fröhlich war, heiterte er Miss Parker doch auf - bedeutete er doch, daß es um ihre geistige Gesundheit nicht so schlecht bestellt war, wie sie in ihren dunkleren Stunden befürchtet hatte.

"Miss? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

Überrascht sah Miss Parker auf, nur um kurz darauf den Blick wieder ein Stück weit zu senken. Ein junges Mädchen stand vor ihr, das Gesicht besorgt verzogen. Sie mochte etwa elf oder zwölf Jahre alt sein - 'Debbies Alter', dachte Miss Parker - und ihre großen, blauen Augen strahlten eine Wärme aus, die Miss Parker völlig unvorbereitet traf. Wie gebannt starrte sie für ein paar Sekunden auf die langen, blonden Zöpfe des Mädchens, dann erst begriff sie, warum das Mädchen sie angesprochen hatte.

Ohne, daß sie es gemerkt hatte, war Miss Parker stehengeblieben, die Füße in einer großen Pfütze, den Blick unverwandt auf den Beton des Bürgersteigs gerichtet. Sie mußte ein jämmerliches Bild abgeben, wie sie hier ohne einen Schirm im Regen stand, ganz in ihre Gedanken versunken.

"Ja. Ja, Kleines, mach dir keine Sorgen. Ich war nur für einen Moment... abgelenkt", brachte Miss Parker hervor und mit einiger Anstrengung gelang ihr ein beruhigend gemeintes, aber wohl eher gequält wirkendes, Lächeln.

Die Kleine sah Miss Parker einen Herzschlag lang zweifelnd an, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem leichten Lächeln.

"Sie sollten hier nicht so im Regen stehen", meinte sie zu Miss Parker, und dann zwinkerte sie. "Sonst werden Sie noch krank."

Damit machte das Mädchen auf dem Absatz kehrt, ging mit langen Schritten los und verschwand Sekunden später in der Menge. Miss Parker streckte die Hand nach ihr aus, als könnte sie die Kleine damit aufhalten. Als sie kurz darauf die Sinnlosigkeit dieser Geste erkannte, ließ sie die Hand wieder sinken. Verblüfft starrte sie auf die Stelle, an der Sekunden zuvor noch das junge Mädchen gestanden hatte. Konnte es möglich sein, daß in dieser Großstadt, wo das Leben der Menschen von Anonymität regiert wurde, ein so junger Mensch Sorge um eine Fremde empfand?

Ungläubig schüttelte Miss Parker erneut den Kopf. War das gerade wirklich passiert? Oder wandelte sie doch näher an der Grenze des Wahnsinns als sie geglaubt hatte? Ihr Herz schlug schneller, als ihr einfiel, an wen das Mädchen sie noch mehr als an Debbie erinnerte.

Faith.

Miss Parker schluckte trocken. Das letzte Mal, als sie an ihre vor vielen Jahren verstorbene Adoptivschwester gedacht hatte, hatte sie an der Schwelle des Todes gestanden. Damals hatte ihr die Erinnerung geholfen, den Weg zurück ins Leben zu finden.

Die kleine Faith, die versprochen hatte, immer auf sie aufzupassen.

Zutiefst erschüttert stolperte Miss Parker ein paar Schritte vorwärts, bis sie einen Laternenpfahl erreichte, an dem sie sich abstützen konnte. Was passierte hier nur? Hatte sie Halluzinationen? Faith war tot, und Miss Parker glaubte nicht an solche Dinge wie Engel und Geister.

Miss Parkers Augen weiteten sich, als sie die Bedeutung ihrer Gedanken erfaßte. Der Name Faith - er bedeutete auch Glaube. Und war ihr Glaube nicht wirklich tot? Gestorben in dem Moment, als sie Bens toten Körper ein letztes Mal in ihren Armen gehalten hatte? Ihr Glaube an sich selbst, ihre Kraft, an das Gute im Menschen - er existierte nicht mehr. Sie hatte zugelassen, daß ihr Schmerz und ihr Haß alles andere unter sich begruben und erstickten.

Zum ersten Mal seit Tagen hatte Miss Parker plötzlich wieder das Gefühl, einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie ließ den Laternenpfahl los, als hätte sie sich an dem regennassen Metall verbrannt. Was hatte sie bloß getan? Es war doch so gar nicht ihre Art, vor etwas davonzulaufen. Und hatte sie nicht genau das getan, als sie aus Blue Cove abgereist war?

Sie verspürte einen Ärger auf sich selbst wie selten zuvor. Ihre Augen verengten sich, als sie ihre Umgebung musterte. Hier konnte sie nicht in Ruhe nachdenken.

Miss Parker ging mit schnellen Schritten zur nächsten Ecke und sah dort auf die Straßenschilder. Überrascht blinzelte sie, als sie feststellte, daß sie seit dem Morgen einmal quer durch Brooklyn gelaufen war, ohne etwas davon mitzubekommen. Wirklich großartig. Wenn sie so weitergemacht hätte, wäre es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie das Opfer eines Unfalls oder, schlimmer noch, eines Verbrechens geworden wäre.

Sie überlegte einen Augenblick, wie sie am besten zurück zu ihrem Appartement gelangen konnte, dann machte sie sich auf den Weg. Zunächst lief sie eine ganze Weile die breite Hauptstraße entlang, sorgsam darauf bedacht, den eilig vorüberhastenden Passanten auszuweichen. Immer wieder glitten ihre Augen zur Straße, so, als suche sie dort etwas - allerdings wußte sie selbst nicht, was.

Nach etwa einer Viertelstunde erreichte sie eine Nebenstraße, die ihren Rückweg erheblich abkürzen würde. Sie verließ den Menschenstrom, der sich unaufhaltsam den Bürgersteig entlang wälzte, und betrat die kleine Straße, die zwar auch nicht gerade leer, aber nach dem Gedränge eben doch geradezu paradiesisch ruhig war. Nur einige wenige Autos und noch weniger Menschen waren hier unterwegs.

Erleichtert atmete Miss Parker durch, dann verlangsamte sie ihre Schritte etwas und ließ ihre Gedanken schweifen. Seit ihrer Abreise aus Blue Cove hatte sie sich wirklich viel zu sehr gehen lassen - sie konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, vor wie vielen Tagen sie in New York angekommen war. Das hatte sie nun davon, daß sie versucht hatte, ihre Erinnerungen in Alkohol zu ertränken. Es war ihr gelungen - allerdings nur mit den Erinnerungen der letzten Tage.

Der Nieselregen, der sie in den letzten Minuten bis auf die Haut durchnäßt hatte, hörte auf, gerade, als das Appartementhaus in Sicht kam, in dem sie zur Zeit lebte.

"Na, großartig", murmelte Miss Parker sarkastisch. "Schon mal was von Timing gehört?"

Ihre Gedanken drifteten vom aktuellen Wetter zu noch weitaus weniger angenehmen Dingen. Der Anblick des Appartementhauses hatte sie daran erinnert, mit wessen Hilfe sie diese Unterkunft gefunden hatte. Sam. Oh, was hatte sie sich nur dabei gedacht, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Nicht nur, daß er wußte, wo sie war - nein, er war vermutlich gerade dabei, Jarod auf ihre Spur zu bringen. Diese ganze Idee mit der schwarzen Lilie war nichts weiter als ein dummer Kinderstreich gewesen. Tief in ihrem Inneren wußte Miss Parker, daß das nicht stimmte. Sie wußte ganz genau, warum sie Sam um diesen Gefallen gebeten hatte.

Mit zusammengepreßten Lippen starrte Miss Parker auf den Boden, während sie, ganz in ihre Gedanken versunken, weiter auf ihr neues Zuhause zulief. Sie weigerte sich, diesen bestimmten Gedankengang zuende zu führen. Es stimmte einfach nicht, daß sie Jarod brauchte, daß sie in ihre tiefsten Verzweiflung instinktiv an etwas gedacht hatte, das ihn zu ihr führen würde!

Ein leichtes Kribbeln in ihrem Nacken ließ Miss Parker mitten in der Bewegung innehalten. Ihr Kopf ruckte nach oben, und sie wirbelte herum. Jemand folgte ihr; sie wußte es ganz genau. Suchend glitt ihr Blick über die Straße hinter ihr und blieb schließlich an einer dunklen Limousine hängen. Ihr Herz schien für einen Moment auszusetzen; ihr Mund wurde trocken. Ein Wagen des Centres?

Sie zwang sich, das Auto genau zu studieren. Erleichterung erfüllte sie, als sie erkannte, daß der Wagen nicht vom Centre stammte. Die Nummernschilder stimmten nicht, und auch der Wagentyp war ein anderer. Noch während sie ihn beobachtete, wurde der Wagen langsamer und wechselte die Spur. Miss Parker schluckte, als sie erkannte, daß die Limousine genau auf sie zuhielt.

Wie erstarrt wartete Miss Parker auf dem Bürgersteig. Ein Teil von ihr wollte einfach davonrennen, doch sie kontrollierte diesen Instinkt eisern. Kein Weglaufen mehr.

Der Wagen hielt; Wassertröpfchen glänzten auf dem schwarzen Metalliclack und den dunkel getönten Scheiben. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, in der Miss Parker sich plötzlich an mehrere andere Zeitpunkte erinnerte, zu denen sie diesen Wagen während ihres Aufenthaltes in New York gesehen, ihn aber nicht wirklich bemerkt hatte. Als sie am letzten Abend die Bar verlassen hatte. Vor zwei Tagen, als sie im Central Park gewesen war. Und das erste Mal, als sie...

Die hintere Wagentür ging auf und eine bekannte männliche Stimme erklang aus dem Wageninneren: "Ich weiß, es ist nicht mehr weit bis zu deiner... ah... Residenz, aber vielleicht möchtest du trotzdem einsteigen."

... die Zweigstelle von Tanaka Enterprises besucht hatte.

"Tommy Tanaka", sagte Miss Parker und bemühte sich gar nicht erst, das Erstaunen aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie trat um die geöffnete Tür herum und kletterte in die Limousine. Tommy sah ihr ernst entgegen, einen besorgten Ausdruck in den Augen. Er streckte ihr die Hand entgegen und zog sie auf den Sitz ihm gegenüber.

"Hast du jetzt genug gelitten, Parker?" fragte er, und obwohl sein Gesicht eine starre Maske der Ruhe war, verriet das leichte Zittern seiner Stimme, wie aufgebracht er in Wirklichkeit war.

"Ich hoffe, du erwartest nicht, daß ich mich freue, dich zu sehen", gab Miss Parker verärgert zurück. Wenn sie etwas absolut nicht leiden konnte, war das, wenn andere Menschen sich in ihr Leben einmischten. Mit voller Absicht ignorierte sie die Frage ihres ehemaligen Liebhabers. Nur, weil sie einmal eine intime Beziehung miteinander gehabt hatten, hieß das noch lange nicht, daß er ihr in ihr Leben hineinreden durfte.

Tommy ließ ihre Hand los - widerstrebend, soweit sie das beurteilen konnte - und lehnte sich zur Seite, um die Tür zu schließen. Dann wandte er sich an den Fahrer.

"Zurück in mein Büro", sagte er auf Japanisch.

"Ich möchte nicht in dein Büro", sagte Miss Parker mit einer Ruhe, die sie nicht fühlte, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Tanakas Augen weiteten sich leicht, verrieten so seine Überraschung.

"Hast du gedacht, ich hätte deine Sprache schon wieder verlernt?" erkundigte sich Miss Parker spöttisch. Sie drehte den Kopf halb zur Seite.

"Fahren Sie ein wenig durch die Gegend", wies sie den Fahrer ebenfalls auf Japanisch an. Der Mann starrte in den Rückspiegel, suchte den Blick seines Vorgesetzten. Tommy nickte knapp.

"Parker, was machst du hier?" erkundigte er sich dann. "Ich habe gehört, was passiert ist, und als Ioyushu-kun mir erzählte, daß du hier in New York bist und worum du ihn gebeten hast, da mußte ich einfach herkommen."

Er beugte sich ein wenig zu ihr vor, und seine Stimme nahm einen sanften Klang an.

"Dein Verlust tut mir wirklich sehr leid, Parker", erklärte er ernst und voller Mitgefühl. Der Hauch eines Lächelns zupfte an Miss Parkers Mundwinkeln. In Momenten wie diesen erinnerte sie sich wieder, warum sie einmal in Tommy Tanaka verliebt gewesen war. Es überraschte sie kaum, daß er nicht nur über Bens Ermordung Bescheid wußte, sondern anscheinend auch erahnte, was der Tod des alten Mannes für sie bedeutet hatte. Auch wenn sie einander nur noch sehr selten sahen, so behielt Tommy sie doch immer im Auge.

"Du hast also davon gehört", schloß sie trocken. Sie hatte nicht vor, sich von ihrer Wut auf sein Verhalten - seine Einmischung - ablenken zu lassen. Tommys Augen verengten sich. Eine seiner Hände ballte sich zur Faust.

"Das ist nicht alles, was ich gehört habe", sagte Tommy in dem leisen Tonfall, der mühsam unterdrückte Wut bedeutete. "Hör mal, ich weiß, daß du meine Einmischung weder schätzt noch wünschst, aber ich werde nicht dabei zusehen, wie du deinen Schmerz und deinen Kummer in die Länge ziehst. Wir sind Freunde. Mehr als das, wenn du mir meinen Willen lassen würdest. Ich will dir helfen."

Miss Parker verspürte eine verwirrende Mischung aus Rührung und Ärger. Es gefiel ihr, daß Tommy sich so sehr um sie sorgte, daß er sogar Japan für sie verlassen hatte. Auf der anderen Seite ärgerte es sie, daß er sie hatte überwachen lassen, seit sie die Niederlassung von Tanaka Enterprises betreten hatte.

"Du willst mir also helfen", wiederholte Miss Parker und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Und wie?"

Tommys Gesicht hellte sich auf.

"Komm mit mir nach Japan", schlug er vor. Miss Parker lachte laut auf.

"Wie bitte?"

"Du hast mich verstanden. Wieso willst du allein hier in dieser überfüllten Stadt bleiben, wenn du die Schönheit und die Ruhe meiner Heimat haben könntest? Ich respektiere, daß du trauerst - aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß du deine Trauer respektierst."

Sie starrte ihn wortlos an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde weicher, als er begriff, daß sie ihn nicht verstanden hatte.

"Was du hier tust, dient alles der Ablenkung. Du willst nicht an deinen Schmerz erinnert werden. Du..."

"Und ist das so falsch?" unterbrach Miss Parker ihn heftig. Er neigte den Kopf zur Seite.

"Falsch? Nein. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß man mit Schmerz und Trauer besser fertig wird, wenn man sich in aller Ruhe damit auseinandersetzt."

Tommy hob seine Hand und bewegte leicht den kleinen Finger, an dem das letzte Glied fehlte, um seine Worte zu unterstreichen. Miss Parker starrte auf die längst verheilte Narbe, fühlte eine explosive Mischung aus alten Erinnerungen und Trotz in sich aufsteigen. Sie war noch nicht bereit, Tommys Hilfe anzunehmen.

"Ich möchte aussteigen", sagte sie in einem knappen Befehlston. Ihr Gegenüber seufzte schwer, wies aber den Fahrer an, anzuhalten.

"Wie du meinst, Parker. Ich werde noch ein paar Tage länger in der Stadt sein - falls du es dir anders überlegst", erwiderte ruhig, beinahe sanft, in seinem überzeugendstem Tonfall.

"Rechne lieber nicht damit", gab Miss Parker zurück. Sie wußte durchaus, daß sie sich gerade wie ein verzogenes Kind benommen hatte, aber nach allem, was sie durchgemacht hatte, stand es ihr doch wohl zu, ihren Gefühlen entsprechend zu handeln.

Tommy suchte ihren Blick, doch sie wich ihm aus, starrte aus dem Fenster, bis der Fahrer rechts rangefahren war. Die braunen Augen ihre Ex-Geliebten erinnerten sie zu sehr an ein anderes Paar Augen, als das sie sich zugetraut hätte, ihrem Blick jetzt standzuhalten. Ein Teil von ihr - ein großer Teil - war mehr als versucht, sein Angebot anzunehmen, aber etwas, ein vages Gefühl nur, hielt sie zurück.

Die Limousine hielt, und Miss Parker streckte erleichtert die Hand nach dem Türgriff aus.

"Mach's gut, Tommy", sagte sie zum Abschied und schickte sich an, den Wagen zu verlassen. Doch sie hatte nicht mit Tommys Zuneigung zu ihr gerechnet. Er griff nach ihrer Hand und wartete, bis er ihre Aufmerksamkeit hatte. Dann hob er ihre Finger an seinen Mund und preßte seine warmen, weichen Lippen zärtlich gegen ihre Fingerspitzen. Sie schauderte, als diese vertraute Geste alte Erinnerungen weckte. Beinahe wehmütig erwiderte sie Tommys intensiven Blick. Für eine Weile sahen sie einander an, dann entzog sie ihm ihre Hand und drehte sich um.

Miss Parker verließ den Wagen, froh darüber, der verräterischen Enge entkommen zu sein. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und in ihren Augen standen Tränen.

'Nimm dich zusammen', ermahnte sie sich selbst zum zweiten Mal an diesem Tag. Was war nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so emotional.

Heftiger als nötig warf sie die Autotür zu. Der Knall, mit dem die Tür zufiel, schreckte sie auf aus ihren Gedanken. Sie sah auf ihre Hand, an deren Fingern sie noch immer die sanfte Berührung von Tommys Lippen spüren konnte, und bemerkte, daß sie zitterte. Mit einem Seufzend löste sie sich von der Limousine.

Als sie sich umsah, stellte sie fest, daß sie entweder nicht weit gefahren waren oder Runden um den Block gedreht hatten, denn sie stand beinahe an derselben Stelle, an der sie eingestiegen war. Es waren nur noch ein paar hundert Meter bis zu ihrer Wohnung, und seltsamerweise erfüllte sie dieses Wissen mit einer absurden Erleichterung.

Sie ging los, ohne sich nach der Limousine umzudrehen. Wenn Tommy die Nacht im Auto in Sichtweite ihres Appartements verbringen wollte, war das sein Problem, nicht ihres.

Es dauerte nicht lange, bis Miss Parker den Hauseingang erreichte. Nachdem sie die Schlüsselkarte aus ihrer Tasche gezogen und in das Lesegerät gesteckt hatte, schwang die Tür lautlos nach innen auf. Miss Parker betrat die Lobby, die - genau wie der Rest des Gebäudes - mit schlichter Eleganz eingerichtet worden war. Zielstrebig hielt sie auf den Fahrstuhl zu, um dann ungeduldig darauf zu warten, daß sich die Tür vor ihr öffnete. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie zu sehr in ihre Gedanken versunken, um sich in der engen Fahrstuhlkabine an das Schicksal ihrer Mutter zu erinnern.

Nach einer halben Ewigkeit, in der sich Miss Parker wieder und wieder fragte, ob sie nicht vielleicht doch Tommys Angebot annehmen sollte und sich im selben Moment dafür schalt, erreichte sie schließlich ihr Stockwerk. Die Türen glitten vor ihr auseinander, und Miss Parker trat müde in den schwach beleuchteten Korridor hinaus.

Der Abend war noch jung, doch trotzdem fühlte sie sich so müde wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Vielleicht war sie sogar müde genug, um in dieser Nacht etwas erholsamen Schlaf finden zu können, ohne auf die Hilfe von Alkohol oder Medikamenten zurückgreifen zu müssen. Ihre Erinnerungen waren schon schlimm genug, da konnte sie auf die quälenden Alpträume gut verzichten.

Miss Parker seufzte, als sie die Schlüsselkarte in das Lesegerät neben ihrer Tür steckte. Tommy hatte recht. Wieso tat sie sich das an? Warum war sie nicht einfach in Blue Cove geblieben, wo sie wenigstens den Komfort ihres eigenen Hauses hatte?

'Weil dein Vater dort ist. Weil Sydney dort ist. Weil es dich an deine Mutter erinnert. Weil es dich an Tommy erinnert', wisperte ihre innere Stimme gnadenlos.

Oh, ja. Das waren nun wirklich Gründe genug, Blue Cove für immer den Rücken zu kehren.

Sie betrat die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu, streifte ihre Schuhe von den Füßen und tapste barfuß den Flur entlang. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, das Licht einzuschalten, entschied sich dann aber dagegen. Das trübe Licht des frühen Abends paßte einfach zu gut zu ihrer Stimmung.

Unschlüssig blieb sie stehen, als sie das Wohnzimmer erreichte. Eigentlich hatte sie ja geplant, den Abend wieder in der kleinen Bar zu verbringen, die sich schnell zu einem ihrer Hauptaufenthaltsorte in New York entwickelt hatte, doch ihre Begegnung mit Tommy und die Erinnerung an Faith hatten sie zu sehr aufgewühlt - da wollte sie nicht auch noch Alkohol mit ins Spiel bringen.

'Jarod wäre stolz auf dich', beschied ihre innere Stimme, und Miss Parker fragte sich, ob das eine sarkastische Bemerkung gewesen war. Einen Herzschlag später runzelte sie die Stirn. Sich Gedanken über kryptische Bemerkungen einer imaginären inneren Stimme zu machen, war nicht unbedingt ein Zeichen für geistige Gesundheit.

"Zeit für ein bißchen sinnlose Berieselung", murmelte Miss Parker. Sie ging zum Sofa, setzte sich und zog die Decke vom Rücken der Couch, um sie sich um ihre Schultern zu legen. Dann griff sie nach der Fernbedienung, um den Fernseher einzuschalten. Ein paar Minuten lang surfte sie durch die Kanäle, bevor sie das Interesse verlor und sich mit dem Nachrichtensender zufriedengab, der als letztes auf dem Bildschirm erschien.

Es dauerte nicht lange, bis Miss Parkers Augen schwer wurden. Sie blinzelte bereits heftig, als plötzlich ein Bericht ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihre Hand flog zu ihrem Mund, als heftige Übelkeit in ihr aufstieg. Die Bilder, die dort über den Schirm flackerten, hätten genausogut aus einem ihrer Alpträume stammen könnten. Stumme Tränen des Entsetzens strömten über ihre Wangen, als sie hilflos auf ein vergrößertes Foto starrte, das die Ursache für alle ihre Schuldgefühle und ihren Schmerz zeigte.

"Oh Gott", würgte sie hervor, nur um kurz darauf die Lippen fest aufeinander zu pressen. Die Fernbedienung rutschte aus ihren wie tauben Händen und fiel klappernd zu Boden, während Miss Parker auf dem Monitor in ein Gesicht blickte, das ihrem eigenen ähnlich genug war, um sie ihren Kampf gegen die Übelkeit verlieren zu lassen.
Part 13 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Vielen lieben Dank an Dara, die mich trotz meiner Kaffeesucht immer wieder dazu antreibt, einen neuen Teil für diese Story zu schreiben! ;-)




Kostbare Momente
Teil 13

von Miss Bit




Seine Schritte hallten unnatürlich laut durch den halbdunklen Korridor, als Broots eilig durch das Centre hastete. Der Morgen hatte alles andere als gut angefangen - Angelo hatte nichts Neues über Miss Parker herausgefunden, und zu allem Überfluß war er gleich als erstes Mr. Raines in die Arme gelaufen - doch wenigstens jetzt hatte er eine gute Nachricht zu überbringen. Er grinste, als er an die Information dachte, die er von Miss Parkers Sweeper Sam erhalten hatte. Sein Grinsen verblaßte allerdings, als er überlegte, ob seine Neuigkeiten wohl gut genug waren, um Sydney ein wenig aufzuheitern.

Der alte Psychiater war in den letzten Tagen mehr als niedergeschlagen gewesen. Zwar versuchte er, sich das nicht anmerken zu lassen, aber Broots war natürlich trotzdem aufgefallen, daß Sydney mit seinen Gedanken sehr häufig woanders gewesen war. Seine Sorge um Miss Parker war ihm mehr als deutlich anzusehen, und Broots wußte, daß auch Jarod ein Grund zur Sorge für Sydney war.

Der Pretender hatte seit seinem erneuten Ausbruch aus dem Centre sporadischen Kontakt zu Sydney gehalten, daher wußten er und Broots, daß Jarod sich zur Zeit auf der Suche nach Miss Parker befand. Er hatte wohl einen Tip über ihren Aufenthaltsort bekommen, wollte aber nicht mehr dazu sagen.

Broots seufzte unglücklich. Auch seine eigene Laune war nicht gerade die beste. Miss Parker Verschwinden bedrückte und verängstigte ihn. Ohne sie fühlte er sich im Centre noch sehr viel unsicherer als sonst. Zudem hatte er am vergangenen Abend einen Bericht über Bens Ermordung gesehen - und da er diesen Bericht über einen Mord in Maine in Delaware gesehen hatte, bedeutete das, daß es sich um eine überregionale Sendung gehandelt hatte. Also standen die Chancen leider recht gut, daß Miss Parker, wo immer sie auch sein mochte, diesen Bericht ebenfalls gesehen hatte.

Das Geräusch seiner eigenen Schritte brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Seine Schritte klangen jetzt viel dumpfer, weil er, ohne es zu bemerken, den Hauptkorridor verlassen und den mit Teppich ausgelegten Nebenkorridor zu Sydneys Büro betreten hatte. Broots verscheuchte seine unangenehmen Gedanken, konzentrierte sich statt dessen auf seine Neuigkeiten. Er mußte Sydney mit gutem Beispiel vorangehen, indem er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, um so vielleicht zu Miss Parkers Rückkehr beizutragen. Niemandem war dadurch geholfen, daß er - oder auch Sydney - den ganzen Tag Trübsal blies.

Seine Hand schloß sich um die Klinke, doch bevor er sie herunterdrückte, klopfte er mit der anderen Hand leicht gegen das Holz von Sydneys Bürotür. Ein leises 'Herein' war die Antwort, die er nach ein paar Sekunden des Wartens erhielt.

Broots öffnete die Tür und betrat das Büro seines Freundes und Kollegen mit klopfendem Herzen. Wie schon in den letzten Tagen war er sich auch heute nicht ganz sicher, was ihn dort erwarten würde. Sydney war zwar nicht der depressive Typ, aber Broots hegte die leichte Befürchtung, daß in letzter Zeit alles etwas viel für Jarods ehemaligen Mentor gewesen war.

'Um so besser, daß ich heute gute Neuigkeiten habe', erinnerte sich Broots energisch an seinen Vorsatz, seinen Freund aufzuheitern.

"Guten Morgen, Sydney", grüßte er, während er Sydney unauffällig musterte. Zu seiner Überraschung sah Sydney an diesem Morgen endlich etwas besser aus; sein Gesicht wirkte nicht mehr so eingefallen - 'er muß etwas geschlafen haben', dachte Broots - und die Sorgenfalten auf seiner Stirn wirkten im Licht des neuen Morgens weniger scharf. Auch seine Augen wirkten jetzt nicht mehr so gebrochen, schienen einen Funken neuer Hoffnung zu enthalten. Er lächelte sogar leicht, als er Broots' Begrüßung erwiderte.

"Ihnen auch einen guten Morgen, Broots."

Erleichterung und Freude über die Informationen, die er besaß, ließen Broots grinsen. Sein Grinsen wuchs noch in die Breite, als sich Sydney von seiner guten Laune anstecken ließ und ihn mit einem auffordernden Grinsen ansah.

"Syd, das raten Sie nie", platzte es aus Broots heraus. Es bedurfte nur Sydneys leicht gehobener Brauen, um ihn fortfahren zu lassen. "Lyle ist verhaftet worden!"

"Was, schon wieder?" fragte Sydney ungläubig, und auch er grinste noch breiter als zuvor.

Broots nickte heftig und dachte daran zurück, wie er sich mit Sydney über Lyles erste Verhaftung unterhalten hatte. Diese Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer im Centre verbreitet - sehr zu Lyles Verdruß - und war noch immer eins der wichtigsten Gesprächsthemen im Technikraum. Es waren zwar nur wenige Einzelheiten bekannt geworden, doch sowohl Sydney, als auch Broots hätten ihm diesen Raubmord ohne weiteres zugetraut. Nur wußten sie beide, daß er es nicht gewesen sein konnte, da sie ihn zur fraglichen Zeit im Centre gesehen hatten. Sydney hatte während ihres Gesprächs auf die Ironie der Situation hingewiesen und dann geäußert, daß es ihm egal wäre, für welches Verbrechen Lyle letztendlich verurteilt werden würde - aber es wäre doch geradezu ausgleichende Gerechtigkeit, wenn er aufgrund der einen Straftat, die er gar nicht begangen hatte, für all seine anderen, ungesühnten Verbrechen büßen müßte.

"Ich wüßte zu gerne, wer oder was dahintersteckt", überlegte Broots laut. Sydney nickte zustimmend, während er in einer unbewußten Geste die Fingerspitzen aneinanderlegte und etwas einnahm, was Broots seine 'Nachdenkhaltung' nannte. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, den Blick unverwandt ins Leere gerichtet, saß Sydney nun an seinem Schreibtisch. In diesem Moment wirkte er so sehr wie sein altes, unbekümmertes Selbst, daß Broots erleichtert entschied, daß seine Neuigkeiten gut genug gewesen waren.

"Wenn ich es nicht besser wüßte...", murmelte Sydney mit einemmal.

"Was meinen Sie, Syd?" erkundigte sich Broots neugierig. Der Psychiater erwachte aus seiner nachdenklichen Trance und bedachte Broots mit einem schiefen Lächeln.

"Ist nur eine Vermutung. Wissen Sie schon irgendwelche Einzelheiten? Warum ist er dieses Mal verhaftet worden?"

Broots schüttelte bedauernd den Kopf.

"Sam konnte mir nicht viel mehr sagen, als daß Lyle wieder verhaftet wurde. Er meinte nur, daß es wohl einen Zusammenhang zu seiner ersten Verhaftung gäbe."

"Hmmm", machte Sydney geistesabwesend. "Mir will einfach nicht aus dem Kopf gehen, daß es Asiaten waren, die er überfallen haben soll. Aber wir beide wissen, daß er es nicht gewesen sein kann, habe ich recht?"

"Stimmt", bestätigte Broots, während er sich insgeheim fragte, worauf Sydney wohl hinauswollte.

"Broots, das kann kein Zufall sein. Mr. Lyle hat es sich mit den Yakuza verscherzt; es wäre also durchaus möglich, daß sie etwas damit zu tun haben."

"Meinen Sie wirklich?" fragte Broots, die Augen leicht geweitet.

Sydney nickte.

"Ja. Nur der Zeitpunkt überrascht mich. Warum ausgerechnet jetzt? Wenn wir bloß mehr herausfinden könnten..."

Er brach mitten im Satz ab, den Blick unverwandt auf Broots gerichtet. Der Techniker spürte, wie sich eine altbekannte, unangenehme Ahnung in ihm regte.

"Oh nein, Sydney, das kann nicht Ihr Ernst sein", wehrte er die Idee entsetzt ab. "Ich kann doch nicht in den Polizeicomputer einbrechen! Das... das wäre ein Verbrechen!"

"Sind Sie denn gar nicht neugierig, Broots?"

"Worauf? Wie viele Jahre mir der Richter dafür aufbrummen würde?" gab Broots düster zurück.

"Broots, ich habe das Gefühl, daß uns weitere Informationen über Lyle sehr weiterhelfen würden. Vielleicht sogar in Bezug auf Miss Parker", erklärte Sydney eindringlich.

'Oh ja, sehr fair von Ihnen', dachte Broots, 'bringen Sie ruhig Miss Parker ins Spiel.' Wie konnte er jetzt noch ablehnen? Mit einem Seufzen gestand er die Aufgabe seines Widerstandes ein.

"Na schön, ich werde heute abend länger im Centre bleiben und einen der Computer im Technikraum benutzen. Mit sehr viel Glück läßt sich die Spur dann nicht bis zu mir zurückverfolgen, falls die Polizei etwas bemerkt", gab sich Broots endgültig geschlagen. Sydney lächelte ihn zufrieden an.

"Ich danke Ihnen, Broots", sagte Sydney in seinem aufrichtigsten Tonfall. "Ah, fühlt es sich nicht viel besser an, endlich wieder etwas zu tun?"

Broots sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Darauf hätte er auch wirklich früher kommen können. Was Sydney letztendlich gefehlt hatte, war das Gefühl, etwas Sinnvolles zu der Suche nach Miss Parker beizutragen - auch wenn er im Moment noch nicht unbedingt eine Verbindung zu Lyle und dessen aktuellen Problemen erkennen konnte. Doch wenn es Sydney half...

"Vielleicht könnten Sie ja in der Zwischenzeit versuchen, etwas mehr über Lyles Verbindungen zu den Yakuza herauszufinden", schlug er zaghaft vor. In Sydneys Augen leuchtete für einen kurzen Moment ein Funke auf, der ihn mehr als alles andere davon überzeugte, das Mysterium um Lyles Verhaftung aufzuklären.

"Ist gut", antwortete der Psychiater mit einem lange vermißten Elan. "Ich weiß auch schon ganz genau, an wen ich mich wenden werde."

"Okay, dann... dann mache ich mich jetzt mal lieber an die Arbeit", brachte Broots hervor, tapfer bemüht, sein erleichtertes Grinsen so gut es ging zu unterdrücken. Er drehte sich um und ging zur Tür. Als er schon halb draußen war, hörte er noch, wie Sydney ihm etwas nachrief.

"Danke für die gute Nachricht, Broots!"

"Gern geschehen", murmelte der Techniker und gab endlich den Kampf gegen sein Grinsen auf.

***

"Nicht zu fassen. Es ist doch einfach nicht zu fassen", murmelte ein anderer Mann an einem anderen Ort innerhalb von Blue Cove. "Polizeiwillkür ist das. Ich bin unschuldig."

Lyle hielt sich nur mühsam unter Kontrolle, als er hinter einem Angestellten des Centres das Polizeirevier verließ. Diese zweite Verhaftung hatte ihn mehr als verunsichert; er verspürte momentan eine lähmende Mischung aus Zorn und Angst.

Angeblich waren neue Beweise gegen ihn aufgetaucht. Was genau, hatten ihm die Polizeibeamten nicht gesagt. Sie hatten ihn nur erneut befragt, einen großen Teil der Nacht und den ganzen Morgen lang. Mittlerweile vermutete Lyle, daß sich ein weiterer Augenzeuge gemeldet hatte, der noch detailliertere Angaben zur Person des Täters hatte machen können. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schienen diese Angaben genau auf ihn, Lyle, zu passen.

"Ich verstehe das einfach nicht", brummte Lyle. Er begann langsam, an seinem Verstand zu zweifeln. In der fraglichen Nacht hatte er mit Jarod um sein Leben gekämpft, und doch sprachen alle Beweise gegen ihn. Wenn er es nicht besser gewußt hätte, würde er sich selbst für schuldig halten. Wie, zum Henker, war das möglich?

Etwa auf halber Höhe der kurzen Treppe, die vom Revier herunter auf die Straße führte, hielt Lyle mitten in der Bewegung inne. Eine Limousine des Centres stand nur wenige Schritte von ihm entfernt am Straßenrand. Das hintere Fenster des dunklen Wagens war heruntergekurbelt; sein Vater starrte ihm mit finsterer Miene aus dem Wageninneren entgegen.

'Großartig', dachte Lyle sarkastisch, 'genau darauf hat der Alte doch bloß gewartet.'

Der Sweeper, der ihn aus der Untersuchungshaft ausgelöst hatte, ging um den Wagen herum, stieg ein und ließ den Motor an. Lyle stand wie erstarrt da, den Blick auf den Mann gerichtet, den er aus vielen Gründen 'Vater' nannte, die Gedanken in seinem Bewußtsein in Aufruhr. Was sollte er jetzt tun?

"Steig ein", grollte Parker in seine Richtung und nahm ihm damit die Entscheidung ab. Mr. Lyle setzte sich widerwillig in Bewegung. Er umrundete den Wagen, nachdem er den Wunsch niedergerungen hatte, sich nach vorne neben den Fahrer zu setzen, stieg ein und nahm neben seinem Vater Platz.

"Fahren Sie", wies Mr. Parker den Sweeper hinter dem Steuer an. Seine Miene wirkte versteinert, doch seine Augen spiegelten kaum verhüllte Wut und Ärger wider.

Obwohl Lyle sich versucht fühlte, sich zu verteidigen, hielt er den Mund fest geschlossen. Wenn er viel Glück hatte, würde sein Vater ebenfalls nicht davon anfangen, in was für eine Situation er sich nun schon wieder gebracht hatte. 'Nicht, daß ich diesmal etwas für meine Situation kann', dachte Lyle bitter. Nein, er hat sich tatsächlich nichts vorzuwerfen. Er hatte die Interessen des Centres doch schließlich geschützt, indem er sein Alibi - den Kampf mit Jarod im Centre - nicht preisgegeben hatte. Nur bezweifelte er, daß der alte Parker die Sache von diesem Standpunkt aus sehen würde.

Eine ganze Weile fuhren sie schweigend durch Blue Cove. Lyle hatte zu hoffen begonnen, daß der Fahrer in bei seiner Wohnung absetzen würde, doch er schlug, kurz nachdem sie den Ortsrand erreicht hatten, den Weg ins Centre ein. Mr. Lyle verzichtete darauf, seinen Vater darauf hinzuweisen, daß er in der letzten Nacht nicht allzuviel Schlaf bekommen hatte. Er sah keinen Grund, den alten Mann noch weiter gegen sich aufzubringen.

Lyle konnte sein Glück kaum fassen, als er nach einer endlos erscheinenden Weile hinter einer Straßenbiegung das Centre auftauchen sah. Sein Vater hatte während der ganzen Fahrt kein Wort zu ihm gesagt; das war mit Sicherheit besser, als sich eine weitere Strafpredigt anhören zu müssen. Er begann, sich zu entspannen - zu früh, wie sich kurz darauf herausstellte.

"Ich hatte dich doch gebeten, das Centre nicht wieder in so eine Situation hineinzuziehen", sagte Parker tonlos. Er hatte die Augen starr geradeaus gerichtet; die Knöchel seiner Hände, die er gefaltet in seinem Schoß liegen hatte, traten weiß hervor.

"Gebeten?" fragte Lyle hitzig und starrte seinen Vater wütend an. Der Schlafmangel erstickte die mahnende Stimme der Vorsicht in seinem Inneren. "Befohlen dürfte es eher treffen! Dad, ich weiß nicht, was da los ist. Ich habe mit dieser ganzen Sache nichts zu tun!"

"Ich habe dich gewarnt, mehr als einmal", entgegnete sein Vater, so, als hätte er Lyle gar nicht zugehört - was wahrscheinlich auch der Fall war. "Das Centre hat für mich oberste Priorität, und ich werde es um jeden Preis beschützen." Erst jetzt drehte er den Kopf, um den Mann anzusehen, der vielleicht sein einziger Sohn war. "Um jeden Preis, hörst du?"

Lyle zwang sich, nicht vor der Kälte in den Augen des älteren Mannes zurückzuweichen. Es lag ein Drohung in diesem Blick, die ihn bis ins tiefste Mark erschütterte. Er schluckte einmal, zweimal, bemüht, seine Stimme wiederzufinden.

"Dad, ich...", war alles, was er hervorbringen konnte, bevor Mr. Parker ihn unterbrach.

"Schweig. Du wirst noch eine letzte Chance erhalten, dem Centre deinen Wert zu beweisen. Mir deinen Wert zu beweisen. Nutze diese Chance, denn ich bin mir sicher, daß du nicht herausfinden möchtest, was passieren würde, wenn du es nicht tätest."

Der Wagen hielt vor dem Haupteingang des Centres an. Lyle war nur noch von dem einen Wunsch beseelt, so schnell wie möglich dieses Auto zu verlassen. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus und machte sich daran, auszusteigen. Auf halbem Weg hielt ihn die Hand seines Vaters an seinem Arm zurück. Mr. Lyle drehte den Kopf, begegnete erneut dem eiskalten Blick des Mannes, der ihn seinen Sohn nannte.

"Wir wollen doch nicht, daß sich diese Sache in Maine wiederholt, nicht wahr, Lyle?"

Fast panisch riß sich Lyle los und stolperte auf den Eingang des Centres zu, während Mr. Parkers letzte Frage wieder und wieder durch seinen Kopf hallte.
Part 14 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Wie immer gilt mein Dank meiner treuen Betaleserin Dara, ohne die ich wohl ständig ohnmächtig vom Stuhl rutschen würde...

Für Susi-chan, die mich rechtzeitig vor einem kitschigen Ende bewahrt hat! ;)



Kostbare Momente
Teil 14

von Miss Bit





Es war, als hätte der eisige Wind ihn den ganzen Weg von Blue Coves kleinem Friedhof bis nach New York verfolgt. Jarod schlug den Kragen seines schwarzen Ledermantels hoch, als er in der kühlen Brise fröstelte. Er stand auf dem Bürgersteig vor dem Appartementhaus in Brooklyn, in dem Miss Parker Unterschlupf gefunden hatte.

Sein schlechtes Gewissen regte sich, als er daran dachte, was er während der letzten halben Stunde gemacht hatte. Während der ganzen Fahrt nach New York hatte er sich gefragt, was er tun würde, wenn er angekommen war und Miss Parker gefunden hatte. Als es dann soweit gewesen war, hatte er beschlossen, sich nicht so viele Gedanken im voraus zu machen und sie einfach mit seiner Anwesenheit zu konfrontieren. Nervös und besorgt hatte er vor ihrer Tür gestanden, fast eine Viertelstunde lang, bis er endlich den Mut aufgebracht hatte, zu klingeln. Noch einmal hatte er gewartet, doch als nach einigen Minuten und weiterem Klingeln nichts passiert war, hatte er sich dazu entschlossen, die Tür zu öffnen und nach dem Rechten zu sehen.

Ja, er war in Miss Parkers Appartement eingebrochen. Nur zu ihrem besten, wie er sich selbst immer wieder versichert hatte. Es hatte ihn nicht viel Zeit gekostet, durch die kleine Wohnung zu laufen und festzustellen, daß sie nicht dort war. Diese Erkenntnis hatte ihn entmutigt und einmal mehr an der Weisheit seines Kommens zweifeln lassen. Er wußte nicht, in welcher Verfassung sie sich befand. Was, wenn sie ihn nicht sehen wollte? Zu diesem Zeitpunkt war ihm ihr Verhalten in der Hütte in Alaska wieder einmal schmerzhaft zu Bewußtsein gekommen.

In seine Gedanken versunken, war er durch die Wohnung gewandert, hatte immer wieder innegehalten und überlegt, was er als nächstes tun sollte. Sein Blick war an der Tasche hängengeblieben, die auf dem Bett gestanden hatte. Er hatte sich auf das Bett gesetzt, dicht neben die Tasche, und sie minutenlang nur angestarrt. Dann hatte er die Hand danach ausgestreckt, sie wieder zurückgezogen und dann noch einmal nach der Tasche gegriffen. Überrascht hatte er festgestellt, daß die Tasche beinahe voll gewesen war, was bedeuten mußte, daß Miss Parker nur wenige Dinge daraus entfernt haben konnte. Dieser Gedanke hatte ihn auf unerklärliche Weise betrübt und mit dumpfer Hilflosigkeit erfüllt. Er wußte, nein, er spürte, daß es ihr nicht gut ging - doch er hatte Angst, daß er ihr nicht würde helfen können.

Die Tasche schien eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn auszuüben, und so hatte er schließlich seine Bedenken niedergerungen und sich den Inhalt näher angesehen. Daß sich fast nur schwarzen Kleidungsstücke in der Tasche befunden hatten, hatte ihn nicht sehr überrascht. Sein Erstaunen war erst geweckt worden, als er die beiden Fotos gefunden hatte, die dort - scheinbar achtlos - zwischen die Sachen gelegt worden waren.

Es waren Familienfotos, oder zumindest Fotos von Menschen, die Miss Parker wohl ihre Familie nannte. Eines der Bilder zeigte sie selbst und ihre Mutter, aufgenommen an einem sonnigen Tag, mit dem weitläufigen Gelände, das das Centre umgab, im Hintergrund. Catherine lächelte auf diesem Bild, ebenso wie ihre Tochter, doch das eine Lächeln unterschied sich so sehr von dem anderen wie Tag und Nacht. Der Anblick hatte Jarods Herz schwer werden lassen, und selbst jetzt, als er auf dem zugigen Bürgersteig stand, entlockte ihm die Erinnerung daran ein melancholisches Seufzen. Schließlich zwang er seine Gedanken fort von dem ersten Bild, und hin zu dem zweiten.

Das zweite Bild war, jedenfalls für Jarod, nicht nur interessanter, sondern schon fast beruhigend gewesen. Darauf zu sehen waren er selbst und Sydney. Genau wie das erste Bild stammte auch dieses aus einer Zeit, die weit zurücklag und, aufgrund kindlicher Naivität gepaart mit der verzerrenden Perspektive der Erinnerung, sehr viel glücklicher erschien. In diesem Punkt fühlte Jarod genau wie Miss Parker. Nun, vielleicht nicht nur in diesem Punkt.

Was das zweite Bild für Jarod so interessant machte, war nicht allein die Tatsache, daß es für Miss Parker wichtig genug gewesen war, um es zu den wenigen Sachen zu packen, die sie aus ihrem alten Leben mitgenommen hatte - nein, das wirklich Interessante daran war das kleine Bild, das im Rahmen des größeren steckte, und auf dem Broots mit seiner kleinen Tochter Debbie abgebildet war. Dieses kleinere Foto war das einzige, das nicht bereits mehr als 20 Jahre alt war. Jarod wäre jede Wette eingegangen, daß Broots nicht einmal ahnte, in Miss Parkers Leben eine so wichtige Rolle zu spielen. Wahrscheinlich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen würde er wohl ahnen, daß Miss Parker ihn und seine Tochter als Teil ihrer Familie - ihrer gewählten Familie - betrachtete.

Nachdem er eine ganze Weile auf die beiden Fotos gestarrt und über ihre Bedeutung nachgegrübelt hatte, war Jarod widerstrebend aufgestanden, um einen letzten Gang durch die Wohnung zu machen. Etwas hatte ihm gesagt, daß er nicht die Zeit hatte, hier auf Miss Parkers Rückkehr zu warten. Er würde hinaus in die Stadt gehen und sie dort suchen. Sein Weg hatte ihn vom Schlafzimmer, durch das kleine Badezimmer und die Küche, zurück ins Wohnzimmer geführt. Erst da waren ihm Details aufgefallen, die er bei seinem ersten Rundgang, der allein der Suche nach Miss Parker gedient hatte, nicht wahrgenommen hatte. Im Wohnzimmer war er wie vom Donner gerührt stehen geblieben. Wie hatte er das nur übersehen können?

Sein Blick hatte am Fernseher geklebt, oder besser an dem, was noch davon übrig gewesen war. Bestürzt war er näher an die Trümmer herangetreten. Das Gehäuse des Fernsehers war noch intakt gewesen, doch etwas - eine leere Whiskeyflasche, allem Anschein nach - hatte mit schwerer Wucht die Mattscheibe durchschlagen und im Inneren des Fernsehers eine irreparable Verwüstung angerichtet. Scherben hatten überall auf dem Boden vor dem Gerät verstreut gelegen.

Jarod war vorsichtig in die Knie gegangen, den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet. Suchend hatte er den Boden um die Scherben herum betrachtet. Es hatte ihn erleichtert, als er festgestellt hatte, daß wenigstens kein Blut auf dem hellen Teppich zu sehen gewesen war. Er hatte sich wieder aufgerichtet, den Blick für einen Moment ins Leere gerichtet. Selbst ohne seine Pretenderfähigkeiten wäre ihm sofort klar gewesen, was hier passiert sein mußte. Miss Parker war auf die unangenehmste Weise mit Bens Tod und ihrer - angeblichen - Rolle dabei konfrontiert worden.

Zu diesem Zeitpunkt war Jarod bewußt geworden, daß er nun keine weitere Sekunde verschwenden durfte. Er hatte die Wohnung verlassen, nachdem er kurz erwogen und sich dagegen entschieden hatte, Miss Parker eine kurze Nachricht zu hinterlassen, für den Fall, daß sie in ihr Appartement zurückkehren sollte, bevor Jarod sie gefunden hatte. Auf seinem Weg nach draußen hatte er dem hilfsbereiten Portier in der Eingangshalle des Gebäudes ein Foto von Miss Parker gezeigt und den Mann gebeten, ihn auf seinem Handy anzurufen, sobald er oder ein Kollege aus einer anderen Schicht sie sah.

Und nun stand er hier, auf einem Bürgersteig in Brooklyn, mitten im pulsierenden Herzen von New York. Sein Problem war nicht so sehr, daß er nicht wußte, wo er mit dem Suchen beginnen sollte - er hatte vielmehr Bedenken, sich mit Hilfe seiner Fähigkeiten als Pretender in Miss Parker hineinzudenken. Zum einen stand er ihr emotional viel zu nahe, weswegen es ihm sehr schwer fallen mochte, seine Gefühle von den ihren zu trennen, zum anderen befürchtete er, daß der Zustand, in dem sie sich momentan zweifelsohne befand, seine Fähigkeit, klar zu denken, negativ beeinflussen könnte.

Jarod rang mit sich selbst. Er wußte, daß er keine Zeit zu verlieren hatte, aber die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Dumpfe Verzweiflung erfüllte ihn, als er damit begann, sich den Schmerz vorzustellen, der in Miss Parker wüten mußte. Ohne, daß er es bemerkte, rannen Tränen über sein Gesicht, Tränen des Mitleids - für Miss Parker, für sich selbst, für das Leben, das ihnen immer verwehrt worden war.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und als er seine tränenfeuchte Haut berührte, war die Entscheidung gefallen. Jarod holte tief und zitternd Luft, ließ seinen Atem entweichen und wiederholte diese Übung, bis er sich etwas gefangen hatte und zumindest den Anschein von Konzentration erweckte.

Weitere Tränen strömten über sein Gesicht, doch er schenkte ihnen keine Beachtung, als sich der Schmerz in seinem Inneren vertiefte und Miss Parkers Emotionen zu einem Teil seiner eigenen wurden. Ein unbeschreibliches Gefühl des Verlustes schien sein Herz wie in einer gewaltigen Faust zusammenzupressen, bis er kaum noch atmen konnte. Angst strömte durch seinen Körper, aber er war nicht länger in der Lage, zu bestimmen, von wem diese Emotion stammte. Vielleicht war sie ein Teil von ihnen beiden, verband sie auf einer Ebene fast so tief und intensiv wie die Liebe, die sich Jarod zwischen ihnen beiden wünschte.

Er ignorierte die verwunderten Blicke anderer Passanten, als er eilig über den Bürgersteig schritt und die Richtung einschlug, von der er wußte, daß sie richtig war. Miss Parker war gar nicht so weit von ihm entfernt - nur ein paar Straßen weiter -, doch Jarod erkannte verzweifelt, daß inzwischen eine ganze Welt zwischen ihnen lag. Der Pretender fiel in einen Laufschritt, den Blick fest auf die nächste Straßenecke gerichtet, hinter der ihn sein Schicksal erwartete.

***

Mehrere hundert Meilen entfernt, saß Mr. Lyle hinter seinem Schreibtisch im Centre. Auch er machte sich Gedanken über sein Schicksal, doch dabei spielten weder seine Schwester, noch der flüchtige Pretender eine Rolle.

'Wir wollen doch nicht, daß sich diese Sache in Maine wiederholt, nicht wahr, Lyle?'

Seit er diesen Satz vor ein paar Stunden vom alten Parker gehört hatte, hatte er ihn nicht mehr losgelassen. Was wußte dieser ignorante Bastard schon von dem, was in Maine geschehen war?

Unbewußt ballte Lyle seine intakte Hand zu einer Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten und mit einem leisen Knacken protestierten. Mit leerem Blick starrte er auf seine Hand herunter.

Seine Gedanken bewegten sich im Kreis; seit Stunden schon. Immer wieder fragte er sich, ob sein Vater vielleicht etwas über ihn wußte, das ihm gefährlich werden konnte. War es nicht sogar möglich, daß er hinter dieser absurden falschen Anschuldigung steckte, die ihn an die oberste Stelle der Abschußliste der örtlichen Polizei befördert hatte?

Mit einiger Anstrengung zwang Lyle sich dazu, seine Hand wieder zu entspannen. Er mußte ruhig bleiben. Ja. Nur wenn er ruhig blieb, konnte er erkennen, aus welcher Richtung und von wem ihm Gefahr drohte. Was er brauchte, war ein Plan. Ein Plan, der ihn nicht nur aus seiner mißlichen Lage befreien, sondern ihm auch den entscheidenden Vorteil im Kampf um die Macht im Centre bringen würde.

Lyle erhob sich von seinem Ledersessel. Er trat um den Schreibtisch herum, machte eine Runde durch sein Büro und blieb dann vor dem großen Panoramafenster stehen, das ihm einen Ausblick auf den langgezogenen Forschungstrakt bot. Dort drüben schlummerten Projekte im Wert von mehreren Milliarden Dollar. Wer die Kontrolle über die Forschung im Centre besaß, war ein gemachter Mann.

Seine Stirn legte sich in Falten, als Lyle an den Mann dachte, der seinen ehrgeizigen Plänen im Weg stand. Ein eiskaltes Gefühl breitete sich in ihm aus, als er erneut an die letzte Begegnung mit seinem Vater dachte.

'Wir wollen doch nicht, daß sich diese Sache in Maine wiederholt, nicht wahr, Lyle?'

Ob er es zugeben wollte oder nicht, Lyle empfand Angst. 'Vielleicht', überlegte er, 'sollte ich mich nicht auf den ganzen Kuchen konzentrieren.' Würde nicht schon eine abgesicherte Machtposition, vielleicht als Mr. Parkers rechte Hand, genügen, um ihn zu einem reichen Mann zu machen?

Innerlich sträubte sich Lyle gegen diesen Gedanken. Parker hatte ihn verunsichert. Das bedeutete, daß der alte Mann weit mehr Macht über ihn besaß, als er sich bisher eingestanden hatte. Seine Drohung mochte eine leere gewesen, aber Lyle konnte sich da nicht sicher sein.

Langsam schüttelte der den Kopf, den Blick noch immer auf das Nachbargebäude gerichtet. Nein, ganz egal, wie er es drehte und wendete, er mußte Parker aus dem Weg räumen, bevor es diesem gelang, ihn noch weiter einzuschüchtern.

Wieder ballte sich Lyles Faust, doch diesmal steckte Absicht dahinter. Ein hintergründiges Lächeln spielte um seine Lippen, als er an den Bericht über Millers Ermordung zurückdachte, den er am letzten Abend gesehen hatte. War es nicht merkwürdig, aus welchen Richtungen einen manchmal die Inspiration traf?

***

Die laut hämmernde Musik bildete einen eigenartigen Kontrast zu ihrem Herzschlag, der sich von ihrem Herz aus durch ihren ganzen Köper fortzupflanzen schien. Miss Parker versuchte, sich auf eines der beiden Geräusche zu konzentrieren, gab aber nach wenigen Sekunden entnervt auf.

Der Nachtclub, in den sie sich zurückgezogen hatte, war, wie nicht anders zu erwarten am frühen Nachmittag, noch relativ leer. Sie hatte einen großen Teil des Tages hier verbracht, allein mit ihren Gedanken und ein paar Nachtschwärmern, die entweder den Weg in ihre Betten noch nicht gefunden hatten oder bereits wieder auf den Beginn der nächsten Party warteten.

Während sie abwesend auf die Tanzfläche in der Mitte des Clubs starrte, fragte sich Miss Parker, ob das Leben dieser Leute wohl auch so leer sein mochte wie ihr eigenes. Hatten sie vielleicht auch niemanden, an den sie sich mit ihrem Schmerz, ihrer Einsamkeit wenden, keinen Ort, an den sie gehen konnten?

Ein bitteres Lachen bahnte sich seinen Weg ins Freie, als Miss Parker diesem Gedanken folgte. Was war bloß mit ihr geschehen? Wie hatte sie sich so aus Bahn werfen lassen können?

Ihr leises Lachen verwandelte sich in ein Seufzen und wurde zu einem Schluchzen, das sie nur mit Mühe ersticken konnte.

'Du hast den Preis dafür bezahlt, daß Du in einer gefährlichen Welt einen Menschen zu nahe an dich herangelassen hast', erinnerte sie sich selbst. Dem Gedanken haftete nichts Bitteres an; er war nur ein Ausdruck ihrer tiefen Resignation.

Miss Parker griff nach dem Glas, daß vor ihr auf dem Tisch stand, und trank den Inhalt in einem Zug aus. Wasser. Kaltes, klares Wasser, das in seiner Einfachheit eine fast berauschende Wirkung auf sie ausübte.

Sie hatte die letzte Nacht im Badezimmer verbracht, hatte zitternd vor der Toilette gekniet und sich wieder und wieder übergeben. Ein Schaudern lief durch ihren Körper bei der Erinnerung an die schmerzhaften Krämpfe, mit denen ihr Magen sie stundenlang gepeinigt hatte. Es war ihr fast so vorgekommen, als hätte ihr Körper versucht, sich auf diese Weise von allem zu reinigen - dem Schmerz, der Trauer, dem Selbstekel, dem Mitleid und all den anderen banalen weltlichen Giften.

Als die Sonne aufgegangen war, hatte Miss Parker auf den kalten Fließen ihres Badezimmers gesessen und sich so leer gefühlt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Diesmal hatte sie keinen Schock dafür verantwortlich machen können, auch wenn der Bericht, den sie über das schreckliche Unrecht am Lake Catherine gesehen hatte, sie mehr als mitgenommen hatte. Doch so sehr es sie auch erschüttert hatte, ihr eigenes Gesicht als das der Täterin zu sehen - es war ein heilsamer Schock gewesen. Ein deutlicher Hinweis darauf, daß sie so nicht weitermachen konnte.

Ihre Flucht - und genau das war es, wenn sie ehrlich zu sich selbst war - aus dem Centre hatte ihr die Chance eröffnet, einen Neuanfang zu wagen. Diese Erkenntnis hatte sie am späten Morgen aus ihrer Wohnung und hierher getrieben. Der Drang, ihre Wohnung zu verlassen, um an einem anderen Ort über ihre Situation nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen, hatte sie überrascht, doch sie war ihrem Instinkt gefolgt. Ein Gefühl hatte sie hierher getrieben; ein Instinkt, der sie dazu veranlaßt hatte, ihre Wohnung zu verlassen.

Miss Parker erlaubte sich ein selbstironisches Lächeln, als sie ihre Gedanken analysierte. Alles deutete darauf hin, daß sie ihren Instinkten besser nicht trauen sollte, aber sie konnte einfach nicht anders. Es war ein innerer Zwang.

Sie lauschte in sich hinein, hoffte, das schwache Echo der Stimme ihrer Mutter zu hören, doch da war nur das leise, regelmäßige Pochen ihres Herzschlages. Ein Seufzen löste sich von ihren Lippen, ging ungehört unter in der hämmernden Musik, die alles in dem großen Raum vibrieren ließ.

Für einen Moment schloß Miss Parker die Augen, ließ sich von den Vibrationen der Musik durchströmen. Doch schon einen Herzschlag später schlug sie die Augen wieder auf. Wie schon einmal am vergangenen Tag hatte sie ein leichtes Prickeln im Nacken verspürt, das sich wie eine disharmonische Welle durch ihren ganzen Körper ausgebreitet hatte. Instinktiv zog sie sich tiefer in den Schatten ihres abgeschiedenen Separees zurück, während ihre Augen den ganzen Raum absuchten.

Ihr stockte der Atem, als sie den Grund für ihre plötzliche Unruhe am Eingang des Clubs entdeckte. Er hatte sie gefunden. In einer Stadt voller Menschen hatte er das Wunder vollbracht, die Spur einer einzelnen Frau aufzunehmen.

Miss Parker fixierte seine hochgewachsene, muskulöse Gestalt. Ihre Gedanken und ihr Puls rasten. Noch hatte er sie nicht gesehen; sie konnte noch immer unerkannt entkommen und ihm aus dem Weg gehen, bis er seine Suche frustriert aufgeben würde. Und er würde aufgeben, so wie alle, die sie kannte, sie immer aufgegeben hatten.

Sie spürte, wie sich Ärger in ihr ausbreitete. Ärger auf sich selbst, weil sie schon wieder erwogen hatte, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, Ärger auf Jarod, weil er ihrem Hinweis gefolgt war und sie so zwang, sich erneut mit ihren Gefühlen für ihn auseinanderzusetzen. Vielleicht, wenn sie nicht so vieles in so kurzer Zeit durchgemacht hätte, hätte sie die Ungerechtigkeit dieses Gedankens erkannt, doch so verspürte sie nur den einen Wunsch - endlich mit ihrer Vergangenheit abzuschließen und alles, auch Jarod, hinter sich zu lassen.

Wie in Trance erhob sie sich von ihrem Stuhl, die Augen noch immer fest auf Jarod gerichtet, der sie erst jetzt entdeckte. Die Erleichterung in seinem Gesicht, begleitet von einer anderen, ungleich stärkeren Emotion, festigte Miss Parkers Entschluß nur noch weiter. Sie griff nach ihrem Mantel und zog ihn an; ihre Hand schloß sich um die Waffe in der Manteltasche.

Miss Parker sah Jarod an, wie er reglos dastand und sie musterte, hielt seinen Blick für ein paar Sekunden und ging dann zu einer Tür am anderen Ende des Clubs, die von einem Schild mit dem Schriftzug 'Notausgang' schwach beleuchtet wurde. Sie wußte, daß Jarod ihr folgte; sie mußte sich nicht umdrehen, um sich zu vergewissern. Entschlossen hielt sie auf die Tür zu, hinter der sie endgültig mit ihrer Vergangenheit abschließen würde.
Part 15 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Eine kurze Anmerkung zu diesem Kapitel von Kostbare Momente: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, diesen Teil zu schreiben, und ich kann nur hoffen, daß es mir gelungen ist, wenigstens einen Teil meiner Emotionen durch meine Worte auszudrücken. Die drei Szenen in diesem Teil bedeuten mir - jede auf ihre Weise - sehr viel, und auch wenn sie letztendlich vielleicht nicht so hier stehen, wie ich sie im Kopf habe, hoffe ich doch sehr, daß sie das vermitteln, was ich mir vorgestellt habe.

Zu Kostbare Momente allgemein möchte ich noch folgendes sagen: nach diesem Teil, also dem 15., werden noch sechs größere Abschnitte, untergliedert in mehrere Teile, folgen. Ich weiß, daß diese Geschichte sehr lang ist, deshalb hat es mich auch nicht allzu sehr überrascht, als ich kürzlich gebeten worden bin, so langsam zum Ende zu kommen. Dazu möchte ich sagen, daß ich noch ein paar Pläne und Ideen für KM habe, die ich auf alle Fälle noch verwirklichen möchte. Ich kann aber verstehen, daß ihr euch das Ende herbeisehnt und werde mich bemühen, KM innerhalb der nächsten zwei bis drei Monate zu beenden.

So, das war's auch schon; jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

Die schwermütige Stimmung dieses Teils sponsored by Mission: Impossible II Original Score... ;)

Wie immer gilt mein Dank Dara, die nicht nur für mich Korrektur liest, sondern mich auch immer wieder zum Lachen bringt!




Kostbare Momente
Teil 15

von Miss Bit





Er stand einfach nur da und starrte sie an; es war alles, wozu er fähig war. Tage waren vergangen - lange, dunkle Tage voller Angst und Zweifel -, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sein Herz trommelte einen schnellen, unregelmäßigen Rhythmus gegen seinen Brustkorb, während seine Augen starr auf die blasse Frau auf der anderen Seite des Raumes gerichtet waren. Waren es wirklich nur einige Tage gewesen, die ihn gelehrt hatten, dem zornigen Flüstern seiner Sorge mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Suche nach seiner Identität?

Sie saß bewegungslos an ihrem Tisch, das Gesicht halb im Schatten, die Hände flach auf dem Tisch. Ihre Augen wanderten über seinen Körper, sparten nur sein Gesicht aus, von dem er sich wünschte, sie möge es für den Rest der Zeit einfach ansehen. Sekunden verstrichen, für alle anderen erfüllt mit dem Dröhnen von mechanischer Musik, doch lautlos zwischen ihnen beiden. Sein Atem ging schneller, schien sich dem Rasen seines Herzens angleichen zu wollen.

Als sie aufstand, wünschte er verzweifelt, er könne sich aus seiner Erstarrung lösen, doch allein seine Augen schienen noch den Befehlen seines Gehirns zu gehorchen. Sein Blick sog alle Details ihres Aussehens in sich auf; die schwarzen, hochhackigen Stiefel; das lange, schwarze Samtkleid, das ihre Figur wie eine zweite Haut umschmiegte und nicht verbergen konnte, wie dünn sie geworden war; ihre blasse, beinahe durchscheinend wirkende Haut; ihr langes Haar, das nicht länger glatt und perfekt zu beiden Seiten ihres Gesichtes lag, sondern ihren Kopf stumpf und ungezähmt wie ein schwarzer Schleier umgab. Sie war eine wilde Schönheit, die ihn in ihrem Blick gefangenhielt.

Hilflos sah er zu, wie sie nach ihrem schwarzen Mantel griff und ihn überstreifte. Ihre rechte Hand verschwand in einer der Taschen, und sofort verriet ihre gesamte Körperhaltung, daß sie dort etwas gefunden hatte, das ihr genug Selbstsicherheit verlieh, um diese Situation zu kontrollieren.

Er ahnte, nein, wußte, was sie nun ihrer blassen Hand hielt. Noch immer hielt er fest an dem Band, das seine Emotionen mit den ihren verknüpfte, ihm verriet, wie er Zugang zu ihr finden konnte. Wenn er sich nur bewegen könnte!

Ihr Blick bohrte sich in ihn hinein, doch es lag keine Emotion darin, nur eine stumme Herausforderung. Sie stand neben dem Tisch, wirkte mit einemmal wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit auf ihn. Unnahbar, kühl; gleichzeitig verletzlicher, als sie selbst es ahnte. Allein an einem dunklen Ort, auf der Flucht vor menschlicher Nähe und zugleich auf der Suche danach.

Er fragte sich, ob sie spüren konnte, daß er sie verstand, ob sie in seinem Gesicht so lesen konnte wie er in ihrem.

Reglos standen sie da, gefangen in einem Moment, der die Entscheidung bringen würde über Jäger und Gejagten. Dieser Moment zwischen ihnen dauerte nur einen Herzschlag, doch gleichzeitig schien er ein ganzes Leben auszufüllen. Ihr Leben. Sein Leben.

Es fiel ihm nicht leicht, doch er überließ ihr die Entscheidung. Obwohl er wußte, daß sie noch immer nicht bereit war, ihm mit ihrem Herzen zu vertrauen, schmerzte es ihn doch, als sie ihren Blick von ihm abwandte und davonging. Wieso nur gestattete er sich selbst nie den Luxus, auf seine besonderen Fähigkeiten zu verzichten, so daß ihn das Verhalten anderer Menschen überraschen konnte?

Als er sie weggehen sah, gelang es ihm endlich, sich wieder zu bewegen. Er folgte ihr mit langen Schritten, während er in Gedanken durchging, was er zu ihr sagen würde, wenn er sie eingeholt hatte.

Sie verschwand durch den Notausgang, doch er war so dicht hinter ihr, daß die Tür noch nicht ganz zugefallen war, als er sie erreichte. Mit einer heftigen Bewegung stieß er die Tür auf und trat hinaus in die schneidend kalte Luft des späten Nachmittags. Doch das war nicht die einzige Kälte, die ihn beim Verlassen des Nachtclubs begrüßte. Das kühle Metall einer Mündungsöffnung preßte sich plötzlich gegen seine rechte Schläfe; eisblaue Augen musterten ihn mit einer Mischung aus Zorn und Triumph. Er spürte, wie sie ihren Ärger als einen Schutzwall benutzte, der ihn erfolgreich aus ihrer Gefühlswelt ausschloß. Sein eigener Zorn wurde geweckt; hilflos ergab er sich ihm. Ein leises Klicken war in der schmalen Gasse zu hören, in der sie standen, kündigte an, daß die Waffe in ihrer Hand nun entsichert war.

Miss Parker starrte zu ihm empor, unbeeindruckt von dem Größenunterschied zwischen ihnen beiden. Jarod hielt ihrem Blick stand, entschlossen, diesmal keinen Deut weit nachzugeben.

"Ich dachte, wir wären alte Freunde. Weißt du nicht mehr, wer ich bin?" fragte er, sein Tonfall gepreßt und gleichzeitig bittend.

"Und ich dachte, das hätten wir geklärt, Jarod", gab sie kühl zurück. "Du und ich, wir sind keine Freunde. Es wäre besser für dich, wenn du das endlich verstehen würdest."

Dienten ihre Worte nur dazu, ihn zu verletzen, oder war sie vielleicht wirklich davon überzeugt, daß sie der Wahrheit entsprachen?

"Nein", sagte er und schüttelte den Kopf, "das werde ich nicht akzeptieren. Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden. Über dich. Über uns."

Ihre Augen verengten sich, und sie preßte ihre Lippen für einen Moment fest aufeinander.

"Ich weiß genau, warum du hergekommen bist. Du hast geglaubt, daß ich deine Hilfe brauche. Nun, du hast dich geirrt. Es geht mir gut. Ich brauche keine Hilfe; ich komme sehr gut allein zurecht. Das war schon immer so, und ich sehe nicht, warum sich das jetzt ändern sollte."

Erneut klickte der Sicherheitshahn ihrer Waffe. Sie ließ ihre Hand sinken und verstaute die Waffe wieder in ihrer Manteltasche. Aus dem Augenwinkel sah er das leichte Zittern ihrer Finger; diese kaum wahrnehmbare Unsicherheit ihrerseits genügte, um seinen Zorn abzukühlen.

"Es ist vorbei, Jarod", wisperte sie rauh, das Gesicht von ihm abgewandt. "Es endet jetzt und hier."

Damit drehte sie sich um, machte einen Schritt von ihm fort, offensichtlich in der Absicht, ihn hier allein zurückzulassen. Doch Jarod war nicht bereit, sie noch einmal auf diese Weise aus seinem Leben gehen zu sehen. Er war einmal dumm genug gewesen, sie gehen zu lassen - dieses Mal würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um sie mit ihren Gefühlen zu konfrontieren und dadurch eine Chance zu erhalten, ihren Panzer aus Angst und Zorn zu durchstoßen.

Seine Hand schnellte nach vorne, schloß sich um ihren Arm. Er zog sie zu sich, drehte sie um, so daß sie ihn wieder ansah. Sie war gefangen, nicht so sehr wegen seiner Finger, die sich fest um ihren Arm geschlossen hatten, sondern in seinem intensiven Blick. Auch wenn es für ihn nicht ungefährlich war, legte er die ganze Tiefe seiner Emotion für sie in seinen Blick, ließ sie sehen, was ihn bewegte.

'Es ist fast wie bei unserer Begegnung im Centre', schoß es Jarod auf einmal durch den Kopf. Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest, versuchte zu ergründen, ob sie diese Ähnlichkeit ebenfalls empfand. Aber ihr Blick war leer, kündete einzig von ihrem verzweifelten Bemühen, ihre Emotionen gefangenzuhalten und somit sicher vor ihm zu verwahren.

Jarods Finger schlossen sich fester um ihren Arm, bis er fast sicher war, daß sein Griff ihr Schmerzen bereitete. Sein rationaler Kern war sich dessen bewußt, daß er ihr wehtat, aber die Stimme seiner Vernunft war machtlos gegen den Sturm der Emotionen, den Parkers Verhalten in ihm ausgelöst hatte. Als er sah, wie sich ihre Augen veränderten, faßte er einen Entschluß. Ihr Schmerz würde eine Öffnung in ihren Mauern aus Wut und Angst schaffen, würde ihm erlauben, zu ihr vorzudringen.

"Nein, es ist nicht vorbei", wisperte er so leise, daß sie sich näher zu ihm lehnen mußte, um seine Worte zu verstehen. "Es fängt gerade erst an."

Ihre Augen weiteten sich ob der Bedrohlichkeit seiner Worte. Sie zog an ihrem Arm, versuchte, sich dadurch von ihm zu lösen, aber er gab nicht nach, umschloß den Arm nur noch fester. Seine Fingerknöchel begannen bereits, weiß hervorzutreten. Miss Parkers Augen verfärbten sich dunkel vor Schmerz, doch sie sagte nichts, blickte ihn nur stumm an.

"Bens Ermordung hat dich schwer erschüttert", fuhr Jarod im selben flüsternden Tonfall wie zuvor fort. Ein Zittern lief, deutlich spürbar für ihn, durch Miss Parkers Körper. Es war ihm Antwort genug.

"Du glaubst, es sei allein deine Schuld, daß er jetzt tot ist", stellte Jarod nach einer kaum wahrnehmbaren Pause in normaler Lautstärke fest. Noch immer zeigte sich keine Regung in Miss Parkers Augen, abgesehen von dem Schmerz, den sein fester Griff ihr verursachte. "Er ist tot, ermordet weil er dich kann..."

"Ich habe ihn nicht ermordet!"

Ihr zorniger Schrei hallte durch die Gasse, wurde von den hohen Wänden zurückgeworfen und kehrte als anklagendes Echo zurück. Sie sah ihn mit großen Augen an, Zorn und Enttäuschung so deutlich darin, daß es Jarod fast das Herz brach. Noch einmal versuchte sie, sich mit einer heftigen Bewegung von ihm loszureißen, aber er hielt sie fest, wagte einfach nicht, sie loszulassen. Statt dessen lockerte er seinen Griff etwas, ließ seine Hand an ihrem Arm nach oben gleiten, bis sie an ihrer Schulter ruhte. Er umfaßte auch ihre andere Schulter, verstärkte seinen Griff wieder etwas und schüttelte sie leicht, um so ihre ganze Aufmerksamkeit zu erringen.

"Das weiß ich", versicherte er ihr in seinem eindringlichsten Tonfall. "Ich wollte damit nicht sagen, daß ich dich für Bens Mörderin halte. Es ist nicht deine Schuld, daß er tot ist; das ist alles, was ich sagen wollte. Die Wahrheit ist aber, daß er tot ist, weil er dich kannte. Doch dieser Umstand gibt dir keine Schuld an seinem Tod."

Für einen winzigen Moment glaubte er, endlich zu ihr vorgedrungen zu sein. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie ihn ansah, während sie über seine Worte nachdachte. Vielleicht war das alles, was sie gebraucht hatte; eine bloße Bestätigung, daß das fürchterliche Verbrechen in Maine nicht ihre Schuld war. Jarods Hoffnung zerstob jedoch, als er sah, wie Miss Parker mehrmals heftig blinzelte, um ihre Tränen zu vertreiben. Ihr Gesicht verhärtete sich, und ihre Augen schlossen ihn wieder aus ihrer Gefühlswelt aus.

"Tu das nicht", bat er sie leise. "Tu das bitte nicht."

Ihre einzige Antwort bestand aus einem Kopfschütteln. Sie biß sich auf die Unterlippe, als müßte sie sich auf diese Weise daran hindern, ihm etwas zu sagen. Jarod seufzte innerlich. Ihm blieb keine andere Wahl. Miss Parker ließ einfach nicht zu, daß er es ihr leicht machte. 'Es tut mir leid, Parker', dachte er kummervoll. 'Aber es geschieht nur zu deinem besten.'

"Es geht hier gar nicht nur um Ben", sagte er laut, seinen Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet. Sie wich seinem Blick nicht aus, doch trotzdem gelang es ihm nicht, in den eisblauen Tiefen ihrer Augen zu lesen. Er bewegte sich ohne Orientierungshilfe auf sehr gefährlichem Gebiet, doch er war fest davon überzeugt, daß es seine - und ihre - einzige Chance war.

"Du trauerst noch immer um Tommy", drang er gnadenlos weiter in sie. Er sah, daß sie sich noch immer auf die Lippe biß und erkannte plötzlich, warum. Es waren keine Worte, die sie vor ihm verstecken wollte - es war das leichte Zittern ihrer Unterlippe, das ihm ihre innere Aufgewühltheit mit Sicherheit verraten hätte. Diese Erkenntnis erleichterte Jarod, denn sie bedeutete, daß er sich auf dem richtigen Weg befand; zugleich machte sie ihm aber auch angst, weil ihnen das schlimmste noch bevorstand.

"Er hat dich geliebt und dir etwas wiedergegeben, was das Centre dir vor langer Zeit genommen hat. Familie. Das Vertrauen in menschliche Nähe. Doch dieses Geschenk, das er dir gemacht hat, mußte er mit seinem Leben bezahlen."

Seine Stimme war immer leiser, aber auch immer eindringlicher geworden. Es war mehr als deutlich, daß seine Worte ihre Wirkung auf Miss Parker nicht verfehlten. Erneut hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt; erste Anzeichen ihres emotionalen Schmerzes verschleierten ihren Blick. Obwohl er sah, daß es ihr nicht leicht fiel, hielt sie seinem Blick noch immer stand.

"Tommy", brachte sie hervor, ein mühsam unterdrücktes Schluchzen in der Stimme. Entsetzen schlich sich in ihren Blick, als sie begriff, wie dünn die Schicht aus Selbstbeherrschung war, mit der sie ihre Trauer bis jetzt verdrängt und beherrscht hatte. "Sie haben ihn getötet, weil ich für ihn das Centre verlassen hätte..."

Ihre Stimme erstarb, als sie ein letztes Mal versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Jarod holte zitternd Luft und setzte zu seinem letzten Schlag an.

"Sie konnten nicht zulassen, daß du mit Tommy fortgehst. Und weil sie dich nicht opfern konnten..." Er ließ das Ende des Satzes kurz in der Luft hängen, bevor er weitersprach. "Tommy und Ben waren einzigartige Stützen in deinem Leben. Sie standen dir nahe, haben dich ebenso geliebt wie du sie. Sie wurden dir genommen, so daß du dein Leben wieder allein meistern mußtest. So, wie es schon einmal war, vor mehr als zwanzig Jahren."

Miss Parkers Widerstand erstarb mit einemmal; sie starrte in Jarods Gesicht, verzweifelt bemüht, einen anderen Sinn als den von ihm beabsichtigten in seinen Worten zu erkennen. Es gelang ihr nicht.

"Deine Mutter starb im Centre; starb für dich, einzig, weil sie deine Mutter war", flüsterte Jarod. Zu mehr war er nicht fähig; er traute seiner Stimme nicht länger. Nur zu gerne hätte er diese Konfrontation vermieden, doch Miss Parker hatte ihm keine Wahl gelassen. Er hatte ihr zeigen müssen, was das Centre aus ihrem Leben gemacht hatte, welches Unrecht ihr und den von ihr geliebten Menschen angetan worden war. Nur so konnte er hoffen, daß er endlich einen Weg finden würde, sie mit sich selbst und ihren Gefühlen - auch denen für ihn - auszusöhnen.

Ein Zittern lief durch ihren Körper; Tränen rannen über ihre Wangen. Sie wandte den Blick von ihm ab, senkte den Kopf und stand ein paar Sekunden lang einfach nur so da, gestützt allein von seinen Händen um ihre Schultern. Dann öffnete sie den Mund und ein trockenes Schluchzen bahnte sich seinen Weg nach draußen. Miss Parker ließ sich nach vorne sinken, bis ihr Kopf an Jarods Brust ruhte. Sofort schloß er sie in seine Arme, hielt sie so fest er nur konnte. Weitere Schluchzer erschütterten ihre Körper, ließen Jarod erahnen, wie tief der Schmerz sein mußte, den sie nun schon so lange allein mit sich herumgetragen hatte. Was mochte es für ein Gefühl sein, all jene Menschen zu verlieren, denen sie einen Teil dieses Schmerzes anvertraut hatte, mit denen sie versucht hatte, ihre Bürde zu teilen? Er schreckte davor zurück, sich diese Frage selbst zu beantworten. Es gab Dinge, die er sich einfach nicht vorstellen wollte. Und doch, um Miss Parkers Willen, würde er es tun, denn er begriff, daß er ihr nur würde helfen können, wenn er vorher ihre emotionale Last verstand.

Als er sich später an diese Begegnung zurückerinnerte, konnte er nicht mehr sagen, wie lange sie dort engumschlungen in dieser Gasse gestanden hatten. Er erinnerte sich nur noch an Miss Parkers leise Worte, die sie zwischen Schluchzern gegen seine Brust gemurmelt hatte.

"Bitte bring mich fort von hier, Jarod."

Und genau das hatte er dann auch getan.

***

Regen prasselte unaufhörlich gegen das Fenster in Sydneys Büro. Er saß schon seit den frühen Morgenstunden an seinem Schreibtisch, versunken in seine Gedanken. Der gestrige Tag war in mehr als einer Hinsicht sehr aufschlußreich gewesen; er hatte sich mit mehreren Leuten hier im Centre unterhalten und so Informationen gesammelt. Das Problem war nur, daß es ihm nicht gelingen wollte, zwischen den einzelnen Informationen einen plausiblen Zusammenhang herzustellen.

Zunächst hatte er sich bemüht, ein halbwegs normales Gespräch mit Mr. Lyle zu führen. Miss Parkers Zwillingsbruder war ihm als die logischste Wahl erschienen, um mehr über diese mysteriösen Verhaftungen und die Anklage herauszufinden. Sehr zu seinem Erstaunen hatte Lyle zwar nicht seine übliche Überheblichkeit an den Tag gelegt, aber er hatte, ähnlich wie Broots an seinen schlimmsten Tagen, extrem nervös, ja fast schon paranoid, gewirkt. Sydneys Fragen hatte er, wenn überhaupt, nur sehr knapp beantwortet, und nach nicht einmal fünf Minuten hatte er den Psychiater mißtrauisch angesehen und sich nach dem Grund für Sydneys plötzliches Interesse an seiner Situation erkundigt. Offenbar hatte Lyle es für möglich gehalten, daß Sydney hinter der falschen Anklage gegen ihn steckte.

Nachdem er dieses Gespräch hinter sich gebracht hatte, war Sydney hinüber in den Forschungstrakt gegangen, um ein paar Worte mit Raines zu wechseln. Normalerweise stand eine Unterhaltung mit Raines ganz unten auf der Liste von Dingen, die er freiwillig initiieren würde, aber Raines hatte - zumindest in Sydneys Augen - ein großes Interesse daran, Lyle nachhaltig zu schaden. Nicht nur, daß Lyle der Sohn von Mr. Parker - also Raines größtem Konkurrenten hier im Centre - war, nein, er entwickelte besonders in der letzten Zeit einen immer größeren Machthunger, den zu kontrollieren Raines nicht mehr lange imstande sein würde.

Ebenso wie Lyle war Raines äußerst kurzangebunden ihm gegenüber gewesen. Er hatte erstaunt, fast schon verärgert darüber ausgesehen, daß Sydney den Forschungstrakt betreten hatte, ohne sich vorher anzukündigen. Es hatte beinahe so ausgesehen, als wolle Raines etwas, das dort vor sich ging, vor ihm verbergen. Und wenn er so über seinen ehemaligen Kollegen nachdachte, hielt Sydney das für durchaus möglich. Doch was immer Raines auch wieder aushecken mochte, die Ergründung dieses Geheimnisses würde warten müssen, bis das Rätsel um Lyles momentane Probleme gelöst worden war.

Sydney runzelte die Stirn. Irgendwo mußte es etwas geben, das er übersehen hatte. Es gab mehr als genug Leute, die einen Grund hatten, Lyle schaden zu wollen. Nicht alle dieser Leute hatten etwas mit dem Centre zu tun. Da waren zum Beispiel noch die Yakuza, die Sydneys Meinung nach ohnehin die Hauptverdächtigen in dieser Angelegenheit waren. Für sie wäre es mit Sicherheit ein leichtes gewesen, Lyle ein Verbrechen anzuhängen, das nicht er, sondern ein Mitglied der Yakuza begangen hatte. Doch warum sollten sie ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählen, um aktiv...

Das Klingeln seines Handys unterbrach seinen Gedankengang. Aufgeregt griff er nach dem kleinen Telefon, das seine einzige sichere Verbindung zu Jarod darstellte. Nur wenige Menschen kannten seine private Nummer; wer immer ihn also jetzt anrief, wollte nicht, daß das Centre mithörte.

"Hier spricht Sydney", meldete er sich und lauschte erwartungsvoll auf die Antwort.

"Hallo, Sydney", erwiderte eine ihm im ersten Moment unvertraute Stimme. "Major Charles hier."

"Major, stimmt etwas nicht?" erkundigte sich Sydney besorgt. Er hatte Jarods Vater für den Notfall seine Handynummer gegeben.

"Nun, wie man's nimmt", war die wenig beruhigende Antwort des Majors. "Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie mir damals in der Hütte Ihre Hilfe angeboten haben?"

Verwirrt fragte sich Sydney einen Moment lang, was der Major meinte, doch dann fiel ihm wieder ein, worüber sie sich vor wenigen Wochen, die ihm mittlerweile wie Jahre erschienen, unterhalten hatten.

"Natürlich", sagte er dann. "Was kann ich für Sie tun? Geht es um Jarod? Oder um Jay?"

"Weder noch, Sydney. Ich würde mich mit Ihnen gerne über Miss Parker unterhalten."

"Über Miss Parker?" Ohne, daß er es verhindern konnte, schlich sich eine aggressive Note in seine Stimme. Er wußte, daß es unsinnig war; doch trotzdem fühlte er sich gezwungen, sie zu verteidigen, auch und besonders Jarods Vater gegenüber. "Sie haben den Bericht aus Maine im Fernsehen gesehen, habe ich recht?"

"Ich weiß, daß sie es nicht getan hat, Sydney. Jarod hat mir alles genau erklärt, bevor er aufgebrochen ist, um sie zu suchen. Mir geht es um etwas anderes. Ich brauche mehr Informationen über diesen Ben Miller. Als ich Sie eben danach gefragt habe, ob Sie sich noch an Ihr Hilfsangebot erinnern, wollte ich Sie damit nicht um Ihre Hilfe bitten. Nun, genaugenommen schon."

Der Major machte eine Pause, wohl, um seine Gedanken zu ordnen. Sydney lächelte schwach.

"Es ist doch so: Jay und ich haben im Moment nichts weiteres zu tun, als auf Jarods Anrufe zu warten. Die, wenn ich das als besorgter Vater mal äußern dürfte, ruhig ein wenig öfter kommen könnten."

Das Lächeln auf Sydneys Gesicht verbreiterte sich etwas. In diesem Punkt verstand er den Major nur zu gut.

"Aber zurück zum Thema", fuhr der Major fort. "Als wir den Bericht gesehen haben, ist uns klargeworden, daß diese Ermittlungen eine unnötige Belastung für Miss Parker darstellen. Also haben wir uns entschlossen, eigene Ermittlungen anzustellen. Aus diesem Grund rufe ich an. Ich nehme mal an, daß Sie sich auch schon Ihre Gedanken darum gemacht oder vielleicht sogar schon Schritte in diese Richtung unternommen haben. Jay und ich möchten Ihnen eine Zusammenarbeit anbieten."

Sydney schluckte schwer. Er fühlte sich versucht, sich selbst für seine grenzenlose Dummheit zu ohrfeigen. Wieso hatte er nicht daran gedacht?

"Major, ich weiß gar nicht, wie...", begann er, nur um mitten im Satz abzubrechen und noch einmal von vorne zu beginnen. "Mein Kollege Broots und ich, wir sind noch gar nicht auf diesen Gedanken gekommen. Wir sind gerade dabei, etwas über unseren guten Mr. Lyle herauszufinden."

"Dieser Lyle schon wieder", grollte der Major. "Jarod meinte, er würde wohl auch eine Rolle bei Mr. Millers Ermordung spielen. Hören Sie, vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn wir arbeitsteilig vorgingen. Sie kümmern sich um Mr. Lyle, was von daher praktisch ist, daß Sie sich ohnehin in Blue Cove befinden, und Jay und ich sehen, was wir in Maine herausfinden können. Was meinen Sie dazu, Sydney?"

Für einen Moment war Sydney sprachlos. Er dankte dem Schicksal stumm dafür, daß es ihn im Ausgleich für seine Kollegen im Centre mit zuverlässigen und intelligenten Freunden gesegnet hatte.

"Das ist die beste Idee, die ich seit langem gehört habe, Major", sagte er, aufrichtig froh.

"Prima, dann machen wir es so", bestätigte der Major. "Und bitte, Sydney, nennen Sie mich Charles."

"Ich danke Ihnen, Charles."

"Keine Ursache, Sydney, wirklich nicht. Ich helfe Miss Parker sehr gern; nur bedauere ich die Umstände unserer Zusammenarbeit sehr. Wobei mir einfällt: ich würde Sie gerne etwas fragen. Haben Sie vielleicht eine Idee, warum der Mörder ein so großes Interesse an dem Wort Vater zu haben scheint? Jarod hat mir leider nicht alle Details erzählt, deshalb beschäftigt mich diese Sache."

Sydney spürte, wie bei der Erinnerung an das Bild aus Bens Wohnzimmer jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Mit seiner freien Hand hielt er sich an der Tischkante fest.

"Vor zwei Jahren hat Jarod herausgefunden, daß die Möglichkeit besteht, daß Ben Miller der Vater von Catherines Kindern ist. Da Lyle Miss Parkers Zwillingsbruder ist, vermuten wir, daß er der Mörder von Ben ist", erklärte Sydney eilig. Er sprach nicht sehr gerne über dieses Thema und versuchte nun, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

"Ah, ich verstehe", meinte der Major nach einer kurzen Pause. "Ja, das wäre durchaus eine Erklärung. Ich danke Ihnen, Sydney. Leider muß ich jetzt Schluß machen, aber ich melde mich, sobald wir etwas Neues herausgefunden haben."

"Ich habe Ihnen zu danken, Charles. Falls wir irgend etwas für Sie tun können, zögern Sie bitte nicht, uns zu verständigen."

"Ist gut, Sydney. Bis bald", verabschiedete sich Charles von ihm.

"Machen Sie's gut", antwortete Sydney. Er hörte, wie der Major am anderen Ende auflegte und klappte daraufhin sein Handy zu. Geistesabwesend legte er es zur Seite. Ein Gedanke hatte sich in seinem Bewußtsein festgesetzt, ein Gedanke, der nach einer genaueren Betrachtung verlangte. Warum hatte der Mörder das Wort Vater an die Wand geschrieben? Wenn Lyle wirklich der Täter war, warum hatte er dann diesen mehr als deutlichen Hinweis hinterlassen? Und warum hatte er Ben überhaupt ermordet? Weil er den Gedanken nicht ertrug, daß nicht der alte Mr. Parker sein Vater war?

Ein Verdacht begann in Sydney aufzukeimen, ein so schrecklicher Verdacht, daß er ihm aufgrund seiner weitreichenden Verflechtungen für einen Moment den Atem raubte. Möglicherweise sollten sie ihre Ermittlungen gar nicht auf Mr. Lyle konzentrieren.

***

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal in ihrem Leben so verletzt und alleingelassen gefühlt hatte. Es war, als lebe sie zu drei Zeitpunkten auf einmal; als stünde sie als junges Mädchen am Sarg ihrer Mutter; als fände sie gerade Tommys Leiche auf ihrer Veranda; als hielte sie gerade Bens erkaltende Leiche in ihren Armen. Der Schmerz in ihr war so intensiv, daß er es ihr fast unmöglich machte, sich auf die Realität zu konzentrieren.

Miss Parker lag auf dem Bett in ihrem Appartement in New York; Jarod saß an ihrer Seite, einen teils schuldbewußten, teils besorgten Blick auf sie gerichtet. Sie hatte geweint - wie lange, wußte sie nicht -, und er hatte neben ihr gesessen. Jarod hatte sie es zu verdanken, daß sie nun hier war, und das in jedem Sinne. Er hatte sie zurück hierher gebracht, doch er hatte auch dafür gesorgt, daß sie sich nun auf diese Weise mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen hatte. Ein Teil von ihr wollte ihn hassen für den Schmerz, den seine Worte in ihr ausgelöst hatten. Die Macht seiner Worte über sie war es, die ihn immer zu einem gefährlichen Gegner für sie gemacht hatte. Diese Macht war es auch, die sie davor zurückschrecken ließ, ihn als einen Freund zu akzeptieren.

"Wir müssen reden."

Sie schreckte zusammen, als seine Worte sie aus ihren Gedanken rissen. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Konnte er wissen, daß eine Unterhaltung mit ihm das war, was sie im Moment am meisten fürchtete? Miss Parker stellte überrascht fest, daß sie nickte. Betrog ihr Körper sie jetzt etwa auch, genau wie ihre eigenen Gefühle?

In Jarods Blick lag eine Unsicherheit, die sie zu jedem anderen Zeitpunkt zum Lachen gebracht hätte. Er hatte es mit wenigen Worten geschafft, ihre sorgsam errichteten Barrieren zum Einsturz zu bringen, doch jetzt schien er nicht zu wissen, was er sagen, was er tun sollte. Seine Hilflosigkeit tat ihr leid; sie hätte ihm gerne irgendwie geholfen, aber derzeit fühlte sie sich nicht einmal in der Lage dazu, sich selbst zu helfen.

Als er keine andere Antwort als ihr Nicken von ihr erhielt, schien auch Jarod diese Tatsache klar zu werden. Er lehnte sich ein wenig in ihre Richtung; die Matratze bewegte sich unter Miss Parker, als sie unter Jarods verlagertem Gewicht etwas nachgab.

"Es tut mir sehr leid", sagte Jarod ernst. Seine Stirn war leicht gerunzelt; ein deutliches Anzeichen dafür, daß ihn etwas beschäftige, das auszusprechen er sich noch scheute.

Wieder fand Miss Parker keine Antwort auf seine Worte. Was sollte sie ihm auch sagen? Wie konnte sie ihm jemals beschreiben, was sie gerade fühlte? Es war hoffnungslos. Zwischen ihnen klaffte eine Lücke, die keiner von ihnen beiden aus eigener Kraft überbrücken konnte. Vielleicht, wenn sie es darauf ankommen ließen, würden sie es gemeinsam schaffen, aber Miss Parker wußte, daß sie dazu noch nicht bereit war. Fast, aber noch nicht ganz.

Statt einer Antwort warf sie ihm einen langen Blick zu. Seine Augen, tiefbraun und voller Wärme, waren so offen, spiegelten ganz unbefangen seine Emotionen wider. Miss Parker beneidete ihn um diese Offenheit. Zeit ihres Lebens hatte sie sich immer hinter Mauern versteckt, hatte andere nur äußerst selten sehen lassen, was sie empfand. Es mußte frustrierend für Jarod gewesen sein, ständig mit ihrer aus Vorsicht aufrecht erhaltenen Verschlossenheit konfrontiert zu werden. Es war dieser Gedanke, der Miss Parker langsam begreifen ließ, was zwischen ihnen passiert war, als sie in dieser Gasse gestanden hatten.

Ich werde fallen, und du kannst mich nicht fangen.

Miss Parker blinzelte überrascht. Es waren ihren Worte; irgendwie wußte sie, daß es so war. Aber sie hatte sie nie zu Jarod gesagt...

Ohne, daß sie es verhindern konnte, sammelten sich erneut Tränen in ihren Augen. Ein paar Wimpernschläge später rollten sie bereits über ihre Wangen, folgten den Spuren, die ihr Schmerz und ihre Trauer dort bereits hinterlassen hatten.

Jarod beugte sich zu ihr vor, sein Blick so weich, daß sie sich am liebsten für immer darin verlieren wollte. Sein Mund öffnete sich, und Miss Parker ahnte, was er sagen wollte. Sie hob ihre Hand und legte ihre Finger auf seine Lippen, gerade, als sie den ersten Buchstaben ihres Namens bildeten.

"C..."

Ihre Hand verharrte an seinen Lippen, während sie den Kopf schüttelte. Es gab einen Grund dafür, warum sie ihm verboten hatte, ihren Namen auszusprechen. Jetzt, mehr denn je, würde sie es einfach nicht ertragen, die so vertrauten und gleichzeitig verhaßten Silben von ihm zu hören.

Panik wallte in ihr auf, verdrängte alles andere. Dies war ihre verletzlichste Stunde; wenn sie es jetzt zuließ, würde sie alles vor Jarod ausbreiten, würde sich ihm hilflos ausliefern. Ihre Emotionen waren in Aufruhr, und wie immer, wenn das der Fall war, übernahm ihr Überlebensinstinkt die Kontrolle über sie.

Bevor sie sich selbst stoppen konnte, hatte sie bereits ihre andere Hand gehoben und auf Jarods Schulter gelegt. Sie richtete ihren Oberkörper auf, bis nur noch wenige Zentimeter ihr Gesicht von Jarods trennten. Seine Augen weiteten sich überrascht, als er erkannte, was sie vorhatte. Widerstreitende Emotionen spiegelten sich auf seinem Gesicht wider; Zweifel und Verlangen schienen die vorherrschenden zu sein. Miss Parker ließ Jarod keine Zeit, lange über ihr Verhalten nachzudenken. Die Hand, die an seinen Lippen gelegen hatte, wanderte zärtlich über seine Wange, an seinem Hals entlang, bis sie schließlich seinen Nacken erreichte. Langsam zog sie Jarod zu sich heran, und sie schloß ihre Augen.

Als sich ihre Lippen zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen berührten, spürte Miss Parker sofort, daß es sich falsch anfühlte. Genau so, wie damals bei ihrer schicksalhaften Begegnung im Centre, als er sie erst angegriffen und dann geküßt hatte. Genau wie damals fühlte es sich aber nicht nur falsch, sondern auch äußerst gut an. So, wie sie es noch Sekunden zuvor in Jarods Gesicht gesehen hatte, mischten sich nun auch in ihr Zweifel und Verlangen.

Jarod lehnte sich näher zu ihr, gab seine passive Haltung auf. Seine Hände, die noch bis eben auf seinen Oberschenkeln gelegen hatten, umschlossen nun ihr Gesicht, veränderten sanft den Winkel zwischen ihnen. Der Pretender vertiefte den Kuß, und Miss Parker ließ ihn gewähren. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurden Jarods Zärtlichkeiten weniger zögerlich. Er ließ sich von seinen Emotionen leiten, schien ganz ausgehungert nach ihrer Nähe zu sein.

Wäre sie nicht so aufgewühlt gewesen, hätte Miss Parker vielleicht an diesem Punkt zu begreifen begonnen, daß sie noch nicht bereit war für diese Art von Nähe zu Jarod. Es stimmte, auch sie sehnte sich nach seiner Nähe, aber anders als bei den meisten Männern, mit denen sie bisher zusammengewesen war, wünschte sie sich, mit Jarod zuerst eine andere Art der Nähe zu erleben.

Ihr Herz schlug immer schneller, machte es immer schwieriger für sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie konnte sich etwas so gut und gleichzeitig so falsch anfühlen? Schwach wurde ihr bewußt, daß sie sich das schon einmal gefragt hatte, aber bevor sie dem Gedanken folgen konnte, übernahm ihr Instinkt wieder die Kontrolle. Sie ließ sich langsam nach hinten sinken, zog Jarod mit sich. Er lag nun halb auf ihr; sie spürte das wilde Schlagen seines Herzens über ihrem eigenen. Letzte Zweifel regten sich in ihr, doch sie wischte sie fort, gab sich ganz der Erregung hin, die seine Nähe in ihr auslöste.

Es war Jarod, der schließlich ihren Kuß unterbrach. Miss Parker vermutete, daß er, ebenso wie sie, das dringende Bedürfnis verspürte, tief Atem zu holen, doch nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, daß das nicht der Grund für die Unterbrechung war. Widerwillig, fast ängstlich, öffnete sie ihre Augen wieder. Jarods Gesicht war noch immer nur Zentimeter von ihrem entfernt. Seine Haut glühte, und seine Augen waren dunkler, als sie sie jemals gesehen hatte. Er atmete schwer und schien Mühe zu haben, sich auf das zu konzentrieren, was er ihr offenbar sagen wollte.

Langsam zog er seine Hände von ihr zurück, einen Ausdruck des Bedauerns in den Augen.

"Ich kann das nicht tun", sagte er entschuldigend, sah ihr dabei direkt in die Augen. "Es... es fühlt sich falsch an. Versteh mich nicht falsch, es ist nicht, daß ich das nicht tun möchte, es ist nur... wir tun das richtige aus den falschen Gründen."

Es lag etwas Bittendes in seinem Blick. Miss Parker begriff, was sein Blick zu bedeuten hatte. Nicht nur er hatte Macht über sie; auch sie hatte einen großen Einfluß auf sein Verhalten.

Sie wurde sich der Tatsache bewußt, daß sie ihn noch immer umarmte; eine ihrer Hände lag in seinem Nacken, die andere ruhte in seinem dichten, kurzen Haar. Hastig zog auch sie ihre Hände wieder an sich. Eine seltsame Mischung aus gekränktem Stolz und Erleichterung erfüllte sie. Jarod hatte sie zurückgewiesen! Doch er hatte es nicht getan, weil er sie nicht wollte - er hatte es getan, weil er sie nicht verletzen wollte.

"Es tut mir leid", wiederholte er noch einmal, griff dabei nach einer ihrer Hände und nahm sie in seine. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. "Ich weiß, was du vorhattest - und ich kann dich gut verstehen. Sex bedeutet Nähe. Nähe ist etwas, das wir beide immer gesucht haben. Wir können diese Nähe miteinander finden, aber zuerst müssen wir... Freunde werden."

Er sah aus, als hätten ihn diese Worte große Überwindung gekostet. Miss Parkers Wangen brannten. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade eine schallende Ohrfeige erhalten. Was meinte er mit seiner letzten, kryptischen Bemerkung? Hatte er ihr damit sagen wollen, daß er in ihr nur eine Freundin sah, oder vielleicht nicht einmal das? Wieso hatte er dann ihren Kuß erwidert? Sie war zu aufgewühlt, um den Sinn hinter seinem Verhalten und seinen Worten zu erkennen.

Ihr war durchaus bewußt, daß Jarod nur ausgesprochen hatte, was auch ihr durch den Kopf gegangen war, aber diese Worte von ihm zu hören... es war einfach zuviel für sie. Sie starrte ihn an, während sie darüber nachdachte, was sie beinahe getan hätte. Jarod hatte recht; in der Vergangenheit war Sex für sie immer ein willkommenes Mittel gewesen, um den Anschein von Nähe zu erwecken. Bei Tommy war das anders gewesen - aber Tommy war nun tot. Wer garantierte ihr, daß es mit Jarod anders sein würde?

Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Gerade noch war sie bereit gewesen, mit Jarod zu schlafen und jetzt wies sie den bloßen Gedanken an Nähe mit ihm weit von sich. Ihr wurde klar, daß sie niemals einen klaren Gedanken würde fassen können, solange Jarod in ihrer Nähe war. Vielleicht war Abstand genau das, was sie jetzt brauchte. Und Jarod schien doch ebenso zu empfinden, nicht wahr? Warum sonst hatte er sie darauf hingewiesen, daß sie zuerst Freunde werden mußten?

Miss Parker richtete sich auf; sie mußte hier raus, sie brauchte Freiraum zum Denken. Sie wich Jarods fragendem, irgendwie gequält wirkenden Blick aus, ließ ihren Blick über seinen Körper gleiten als wolle sie ihn sich für alle Zeiten einprägen. Seine Haut glühte noch immer, und die dunkle Färbung seiner Augen ließ ihn fast gefährlich wirken. Mehrere kurze Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn; überhaupt wirkte seine Frisur noch zerzauster als üblich. Auch sein Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, verriet, genauso offensichtlich wie der Ausdruck auf seinem Gesicht, wie sehr ihn diese Bewegung aufgewühlt und verwirrt hatte. Als sie wieder zu seinem Gesicht aufschaute, stellte sie fest, daß er den Blick gesenkt hatte, daß er nun wie gebannt auf ihre Hand sah, die noch immer in seiner ruhte. Der Pretender wirkte wie versteinert, schien genauso wenig wie sie selbst zu wissen, war er nun sagen oder tun sollte.

Ich werde noch ein paar Tage länger in der Stadt sein - falls du es dir anders überlegst.

Tommy Tanakas Worte waren ihr noch immer im Gedächtnis; im Augenblick klangen sie weit verlockender als die Alternative.

Sie überlegte nicht lange. Handeln, nicht grübeln, hieß ihre Devise. Bevor Jarod auch nur erahnen konnte, was sie vorhatte, hatte sie ihm bereits ihre Hand entzogen, war vom Bett aufgestanden und auf dem Weg zur Kommode, auf der ihre Tasche stand. Ein paar ihrer Sachen lagen zwar noch im Bad und im Wohnzimmer, aber alles Wichtige befand sich noch immer in ihrem einzigen Gepäckstück. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff sie nach ihrer Tasche und war schon auf halb auf dem Weg nach draußen, als Jarod sie eingeholt hatte. Erneut schloß sich seine Hand um ihren Arm, aber diesmal ließ er sie sofort los, als sie ihm einen auffordernden Blick zuwarf.

"Wo gehst du hin?" fragte er das Offensichtliche. Miss Parker schüttelte den Kopf, zugleich erleichtert und überrascht über ihre Selbstkontrolle.

"Ich... ich muß hier raus; ich kann einfach nicht mehr klar denken. Bitte, versteh mich", bat sie ihn.

"Du erwartest von mir, daß ich dich einfach so gehen lasse? Nach dem, was hier gerade passiert ist?"

Jarod sah sie ungläubig an; seine Miene wirkte wie versteinert.

"Passiert wäre", gab Miss Parker sanft zurück. "Du hast keine Wahl, Jarod. Es gibt nichts, was mich jetzt zurückhalten könnte."

"Nicht einmal ich?" erkundigte sich Jarod, sein Tonfall flach, gepreßt.

"Nicht einmal du."

Sie spürte, wie das Gefühl der Bedrängnis und ihre Panik langsam nachließen. Jetzt zu gehen, fühlte sich richtig an; es allein zu tun, fühlte sich richtig an.

"Du läufst also vor mir weg", stellte Jarod ruhig fest, doch seine Augen verrieten seinen inneren Aufruhr.

"Nein!" antwortete sie, verärgert über seinen offensichtlichen Versuch, sie zu provozieren. "Ich laufe nicht weg. Es ist nur, daß ich endlich mal meine Ruhe brauche. Um über alles nachzudenken. Um Entscheidungen zu treffen. Ohne irgendwelche Einmischungen, egal ob vom Centre oder von dir." Sie machte eine Pause. Es war mehr als deutlich zu sehen, daß ihre Worte ihn nicht erreichten. "Bitte, Jarod. Mach das hier doch nicht noch schwerer für mich."

Der Pretender stand nur da und sah sie an. In seinem Gesicht arbeitete es, doch er sagte nichts. Miss Parker wartete, so lange sie konnte, aber nach einer Weile hielt sie einfach nicht mehr aus. Sie drehte sich um und ging zur Tür.

"Wirst du wiederkommen?"

Seine Worte hingen lange unbeantwortet in der Luft. Die Antwort auf seine Frage war nicht einfach, und sie wollte ihn auch nicht belügen.

"Ich weiß es nicht", flüsterte sie schließlich, nicht sicher, ob er sie überhaupt gehört hatte. Zu ihm umdrehen konnte sie sich nicht; ihr fehlte einfach der Mut dazu. Ihre Hand schloß sich um die Türklinke, drückte sie entschlossen nach unten. Sie spürte mehr als daß sie hörte, wie Jarod ein paar Schritte auf sie zu machte.

"Nicht", warnte sie ihn, dann öffnete sie die Tür weit genug, um in den Flur schlüpfen zu können. Mit langen Schritten ging sie zum Aufzug, drückte auf den Rufknopf und wartete mit klopfendem Herzen darauf, daß sich die Türen endlich öffneten. Gespannt lauschte sie auf Jarod; sie wagte es noch immer nicht, sich umzudrehen. Endlich glitt die Fahrstuhltür vor ihr zur Seite. Erleichtert trat sie in die Kabine und erlaubte sich ein Seufzen, als sich die Tür ohne Zwischenfälle wieder hinter ihr schloß. Allein. In Sicherheit. Allein.

Es dauerte nur zwei Minuten, bis sie auf der Straße vor dem Appartementhaus stand. Ihre Augen glitten suchend über die Straße, blieben schließlich voller Erleichterung an der schwarzen Limousine hängen, die keine zweihundert Meter von ihr entfernt parkte. Miss Parker umfaßte den Griff ihrer Tasche fester und ging los. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen, wurde erst wieder langsamer, als sie den Wagen erreichte. Die hintere Tür ging wie von Zauberhand auf, erlaubte ihr einzusteigen, ohne dabei viel Zeit zu verlieren.

Als Miss Parker in den Wagen stieg, hörte sie Schritte hinter sich. Sie schloß die Tür mit einer heftigen Bewegung, so daß sie nur die erste Hälfte ihres Namens hörte, bevor der Wagen anfuhr. Tommy Tanaka saß ihr gegenüber, lächelte sie beruhigend an. Doch sie sah nicht wirklich sein Gesicht vor sich, und als die Limousine beschleunigte, fragte sich Miss Parker, ob sie nicht gerade ihre Zukunft hinter sich zurückgelassen hatte.
Part 16 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Hinweis der Autorin: Auch wenn ich generell gegen die heute übliche Darstellung von Gewalt in den Medien bin, da sie meiner Meinung nach dazu beiträgt, Menschen gegenüber allen Formen von Gewalt abstumpfen zu lassen oder gestörte Gemüter vielleicht sogar zu undenkbaren Grausamkeiten inspiriert, glaube ich, daß das Mittel der Gewaltdarstellung in *fiktiven* Werken durchaus dazu beitragen kann, einen positiven Einfluß auf die Leser auszuüben. In diesem Sinne wünsche ich euch ein anregendes Leseerlebnis.

Noch mal als kleine Erinnerung - Kostbare Momente ist eine alternative vierte Staffel, die von einem Standpunkt aus geschrieben wird, an dem nur die Fakten, die bis zum Ende der dritten Staffel bekannt waren, eine Rolle spielen. Das gilt auch und besonders für Brigittes Schwangerschaft.

Meine Dankbarkeit gilt den zwei schlimmsten Sklaventreibern, die ich kenne - ohne eure Hilfe wäre KM wohl unbeendet geblieben... :)

Außerdem bedanke ich mich natürlich wie immer bei Dara für ihre Hilfe als Betafee - tut mir leid wegen der Asche. ;)



Kostbare Momente
Teil 16

von Miss Bit




Regen prasselte unaufhörlich auf das Dach; schon seit Stunden strömten die Wassermassen über die Ziegel, gurgelten durch die Abflußrinnen und klopften unablässig gegen die großen Fenster. Die Wasserspeier in Form von kleinen Drachen an den vier Hausecken sprudelten einen stetigen Wasserstrahl aus ihren weitaufgerissenen Mäulern.

Der Himmel war schwarz; Wolken schwammen gemächlich in Richtung Osten, erlaubten nur hin und wieder einen Blick auf einzelne Sterne. Wind frischte auf und bog die nun schon fast kahlen Baumkronen, bis sie alle wie anklagende Finger gen Osten zeigten.

Mehr und mehr Wolken trieben über den nächtlichen Himmel, versammelten sich zum ersten von vielen Herbstgewittern des Jahres. Aus der Ferne war bereits das leise Grollen des Donners zu hören, das sich immer weiter auf die einsame Residenz der Parkers zu bewegte. Am Horizont entlud sich die aufgestaute Elektrizität in gleißend hellen Blitzen, die wie Speere aus Licht die Nacht erhellten, während sie im Bruchteil einer Sekunde auf den Boden zurasten.

Allein und gefangen im Inneren des Hauses trat Brigitte vom Fenster zurück; das Naturschauspiel auf der anderen Seite der Scheibe langweilte sie. Alles langweilte sie in letzter Zeit. Doch eine Sache ganz besonders.

Während sie hinüber zum Sofa schritt, legte sie ihre rechte Hand ganz leicht auf ihren auf monströse Ausmaße angeschwollenen Bauch. Oh, wie sehr sie sich das Ende dieser Schwangerschaft herbeisehnte! Nicht nur, daß dieses Balg ihre Figur ruinieren könnte - es war noch nicht einmal ihr eigenes. Wütend preßte sie die Lippen aufeinander. Wie hatte sie nur jemals diesem Kuhhandel zustimmen können?

Als sie die Couch erreicht hatte, ließ sie sich schwerfällig auf das kühle Leder sinken. Noch immer ruhte ihre Hand auf der Wölbung ihres Bauches, doch die Geste hatte nichts Beschützendes oder Liebevolles an sich. Mehr als alles andere auf der Welt wünschte sie sich, das fremde kleine Leben in ihr endlich loszuwerden. Der errechnete Geburtstermin lag noch mehr als zwei Wochen in der Zukunft; in ihrem momentanen Zustand kam Brigitte diese Zeitspanne wie eine Ewigkeit vor.

Am Anfang, vor gut neun Monaten, hatte das alles wie eine wunderbare Idee ausgesehen. Der Gedanke, schwanger zu werden, obwohl sie doch eigentlich unfruchtbar gewesen war, hatte durchaus etwas Reizvolles an sich gehabt. Zu diesem Zeitpunkt war es ihr noch egal gewesen, daß zur 'Zeugung' des Kindes keine ihrer Eizellen verwendet worden war. Mittlerweile hatte sich das gründlich geändert, dank ihres ach so treusorgenden Ehemannes, der es vorzog, sich in den heiligen Hallen des Centres vor ihr zu verstecken, anstatt die letzten Wochen der Schwangerschaft an ihrer Seite zu verbringen. Sicher, sie hatte ihn in letzter Zeit nicht unbedingt freundlich behandelt, aber das war ja wohl kaum ihre Schuld, nicht wahr?

Brigitte bemerkte gar nicht, wie sich ihre Hand beim Gedanken an den Vater des Kindes, das sie in sich trug, verkrampfte. Abgeschoben hatte er sie. Hatte ihr gesagt, daß er nicht wolle, daß sie in ihrem Zustand noch im Centre arbeitete. Um das Kind nicht zu gefährden, hatte er gesagt. Kein Wort über ihre eigene Gesundheit, oh nein. Weil ihre Gesundheit ja auch keine Rolle spielte. Daß eine Verschlechterung ihres eigenen Zustandes auch eine Gefahr für das Kind bedeuten könnte, hatte er wohl nicht bedacht.

Ein leises Grollen mischte sich in das nun nicht mehr so ferne Geräusch des Donners. Überrascht sah sich Brigitte um, bis ihr nach ein paar Sekunden klar wurde, daß sie dieses Geräusch verursacht hatte. Verärgert über sich selbst, runzelte sie die Stirn. Sie hatte diese ganze Hormongeschichte nie für voll genommen, aber vielleicht war doch etwas daran. Jedenfalls würde es mit Sicherheit ihr Verhalten in den letzten Wochen erklären.

Insgeheim war sie sich sicher, daß ihre Temperamentsausbrüche und Unmutsäußerungen der wahre Grund waren, warum der alte Parker sie nicht auch noch im Centre um sich haben wollte. Es war wohl schon schwer genug für ihn, jeden Abend zu ihr nach Hause zu kommen. Fast jeden Abend. Brigitte lächelte bei diesem Gedanken. Sie hatte absolut nichts einzuwenden gegen die kleinen Abenteuer ihres Mannes. Schließlich war sie selbst auch nicht gerade ein Unschuldslamm in dieser Beziehung. Ihre Lippen kräuselten sich erwartungsvoll zu einem sinnlichen Lächeln, als ihre Gedanken zu Lyle glitten. Ein paar Wochen noch, dann würde die Zeit des Wartens endlich vorbei sein. Für sie beide. Doch erst mußte sie den ungeborenen Parkerbastard loswerden.

Ihr Lächeln erstarb so plötzlich, wie es gekommen war. Natürlich war ihr klar, daß ihr Leben nach der Geburt des Kindes sehr schnell an Wert verlieren konnte. Sicher, sie hatte das Versprechen ihres Mannes und das Wort des Towers - aber niemand wußte besser als sie, wie wenig beides für gewöhnlich wert war. Nur weil sie ihren Teil des Vertrages erfüllt hatte, mußte das noch lange nicht heißen, daß das Centre ebenso handeln würde. Zum Glück hatte sie ja eine kleine Rückversicherung. Mit dem Wissen, das sie über Lyle und seine mehr als zwielichtige Vergangenheit besaß, hatte sie ihn völlig in der Hand. Er würde ihr Leben schützen, mit seinem eigenen, sollte es nötig werden, weil die Informationen im Falle ihres Todes an die Öffentlichkeit weitergeleitet werden würden. Glaubte Lyle jedenfalls.

Brigitte lachte leise. Lyle konnte wirklich unglaublich naiv sein. Und blind. Sie mochte ihn, sehr sogar. Mehr als er sie mochte, das wußte sie natürlich. Im Falle ihres Todes würde rein gar nichts mit den Informationen über ihn passieren. Wenn sie tot war, welches Interesse konnte sie dann noch daran haben, Lyle schaden zu wollen? Nein, wenn jemand ihre Rache aus dem Grab zu fürchten hatte, dann war das höchstens ihr durch Abwesenheit glänzender Ehemann.

Wochen- und monatelang hatte er sie mit all seinen Erwartungen und Hoffnungen für das Baby genervt. Sein Kind; sein erstes und einziges. Brigitte seufzte, als sie sich daran erinnerte, was für einen Aufstand es in diesem Haus gegeben hatte, als der alte Mann die Wahrheit darüber herausgefunden hatte, wer der Vater von Lyle und der intriganten, sich selbst überschätzenden Schlange namens Miss Parker war. Es war noch gar nicht so lange her, daß er in einem Anfall von blinder Wut ein paar wertvolle Antiquitäten zertrümmert hatte.

Daß er vorher wirklich nichts davon geahnt hatte, von seiner ersten Frau betrogen worden zu sein, hatte Brigitte zutiefst erstaunt. In all den Jahren im Centre, in denen er gelernt hatte, sich sogar strenggeheime Informationen anzueignen, war er nie über dieses kleine Detail gestolpert, das bis vor ein paar Wochen ungesehen in einer von Raines Akten geschlummert hatte? Kaum zu glauben. Doch noch unglaublicher war es, daß diese Information so plötzlich aufgetaucht war. Woher, vermochte Brigitte nicht zu sagen, aber sie hatte zumindest eine Ahnung. Wieder verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Sie würde ihn fragen, sobald sie ihn das nächste Mal sah.

Oh ja, die heilige Catherine Parker hatte ihren Mann betrogen, in mehr als einer Hinsicht, wie es schien. Wie sehr sie diesen Namen haßte! Der alte Parker sprach oft von ihr: Catherine dies, Catherine das, Catherine den ganzen Tag lang. Unerträglich! Wenigstens schien er beim Sex, der übrigens erstaunlich gut war, wenn man Parkers Alter bedachte, mit den Gedanken bei ihr, Brigitte, zu sein. Doch selbst, als er herausgefunden hatte, daß seine Kinder gar nicht die seinen waren, hatte er kein schlechtes Wort über Catherine gesagt. Statt dessen hatte er sich ganz auf das Kind konzentriert, das in Brigitte heranwuchs. Wenn es erst mal auf der Welt war, würde Parker endlich haben, was er sich so sehr wünschte: ein Kind, das sowohl seines als auch Catherines war.

Brigitte zog die Beine auf das Sofa und bemühte sich minutenlang vergebens, eine bequeme Stellung zu finden, die sowohl ihre Füße als auch ihren Rücken entlasten würde. Mit einem frustriert gemurmelten Fluch gab sie schließlich auf und blieb halb auf der Seite liegen. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ sie nur Sekunden später aufschrecken. Das Gewitter! Der Donner hatte sehr nahe geklungen; das Unwetter mußte also fast über dem Haus sein.

Sie lauschte angestrengt und drehte den Kopf so, daß sie das Fenster aus dem Augenwinkel sehen konnte. Es dauerte nicht lange, bis ein mächtiger Blitz aus den Wolken herunterfuhr und die gesamte Umgebung taghell erleuchtete. Brigitte begann zu zählen. Eins eintausend, zwei eintausend, drei eintausend, vier eintausend, fünf eintausend, sechs eintaus... Der dem Blitz folgende Donner war so laut, daß Brigitte fast sicher war, das Dach würde über ihr zusammenbrechen. Nur knappe zwei Kilometer war das Gewitter noch entfernt vom Haus; kein sehr beruhigender Gedanke, wenn man hochschwanger und allein in einem Haus war, das mehrere Kilometer von der Zivilisation entfernt stand.

Mit einiger Anstrengung stemmte sie sich vom Sofa hoch und ging hinüber zu der kleinen Anrichte, auf der das Telefon stand. Sie wählte und wartete ungeduldig, bis sich endlich am anderen Ende eine männliche Stimme meldete.

"Hier ist Brigitte", informierte sie den Sweeper, sobald er sich identifiziert und sie nach dem Grund ihres Anrufes gefragt hatte. "Schicken Sie mir einen Wagen vorbei. Ich möchte ins Centre."

Das Rauschen und Knistern in der Leitung kündete von nichts Gutem, und Brigitte beeilte sich aufzulegen, sobald der Sweeper ihren Befehl bestätigt hatte. Sie hatte das Telefon kaum aus der Hand gelegt, als ein weiterer Blitz in einer Explosion aus gleißendem Licht die aufgestaute Elektrizität zwischen Himmel und Erde entlud. Es gab einen lauten Knall, der offenbar nichts mit dem Donner zu tun hatte und keine drei Sekunden später folgte. Als die Helligkeit des Blitzes nachgelassen hatte, sah Brigitte, was passiert war. Das Licht war ausgegangen, und zwar im ganzen Haus, soweit sie das feststellen konnte. Der Blitz mußte in eine Hochspannungsleitung ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Großartig. Zum Glück hatte sie das Centre noch rechtzeitig erreicht. Nicht auszudenken, was ihr hier allein alles passieren konnte.

Das Geräusch des Regens wurde lauter; die Tropfen schienen mit neuerwachter Dringlichkeit auf das Dach und gegen die Fenster zu prasseln. Auch der Wind heulte nun lauter ums Haus, tat nichts dazu, Brigitte zu beruhigen. Unruhig ging sie zurück zur Couch, setzte sich wieder hin. Anspannung machte es ihr unmöglich, eine andere Haltung einzunehmen. Sie lauschte auf die Geräusche außerhalb des Hauses und erhob sich halb, als sie zusätzlich zum Rauschen des Windes und dem Prasseln des Regens ein dumpfes, sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Pochen hörte. Waren das Schritte?

Brigitte atmete stockend ein. Es klang wie das Geräusch schwerer Schritte, die sich langsam um das Haus herum bewegten. Innerlich schalt sie sich für ihr kindisches Benehmen; das hier war ja schließlich kein schlechter Horrorfilm. Doch trotzdem - dieses Pochen hatte etwas Beunruhigendes an sich.

Nach ein paar endlos langen Sekunden verstummte das Pochen plötzlich, und Brigitte wollte schon erleichtert aufatmen, als ein neues Geräusch das Blut in ihren Adern stocken ließ. Ein Knirschen war nun zu hören, hob sich deutlich gegen den Regen und den Wind ab. Klang das nicht wie Metall, das über eine Fensterscheibe schabte? Brigitte hob eine Hand vor den Mund; ein unangenehmes Zittern lief durch ihren Unterleib. Angestrengt lauschte sie, doch lange Zeit war außer dem Gewitter nichts mehr zu hören.

Ein Teil von ihr flüsterte drängend, daß sie ihre Waffe holen und nach dem Rechten sehen sollte, schließlich war sie ja eine ausgebildete Mitarbeiterin des Centres, aber ihre Angst und ihr Schreck waren stärker. Wann würde endlich der verdammte Sweeper hier auftauchen? Wenn er nicht bald kam, würde sie mit ihrem eigenen Wagen fahren, hochschwanger oder nicht.

Als sie lange Zeit nichts Ungewöhnliches mehr hörte, begann sie, sich langsam wieder zu entspannen. Wahrscheinlich hatte sie sich alles nur eingebildet. Verdammte Hormone.

Ein lautes Klirren bewies ihr das Gegenteil. Erschrocken fuhr Brigitte vom Sofa hoch, nahm ganz unbewußt eine Verteidigungshaltung ein. 'Ganz ruhig', ermahnte sie sich selbst. 'Behalte alles genau im Auge und überleg, bevor du handelst.'

Das Geräusch von Schritten war wieder da, doch es klang anders. Es dauerte einen Augenblick, bis Brigitte erkannte, warum. Da war nun noch ein zweites Pochen. Wer auch immer da draußen war, er war nicht allein.

Nervös stieß Brigitte ihren Atem in kurzen Stößen aus. Was sollte sie als nächstes tun? Vielleicht ihre Waffe holen? Das klang vernünftig. Sie machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, doch als sie im Flur angekommen war, brachte ein Klopfen an der Tür sie für einen Moment aus der Fassung.

'Verdammt, Brigitte, jetzt reiß dich doch zusammen', dachte sie scharf. 'Seit wann klopfen verrückte Axtmörder an die Tür und verlangen höflich Einlaß?'

Der Gedanke hatte etwas für sich, also ging sie zur Tür und starrte vorsichtig durch den Spion. Ihre Erleichterung war groß, als sie Gordon erkannte, einen der Sweeper, die für ihren Mann arbeiteten. Sie schob die Türkette zur Seite, öffnete die Tür und versetzte dem überraschten Mann einen Stoß, der ihn aus ihrem Weg beförderte.

"Was...?" fragte Gordon überrascht. Er war hochgewachsen und kräftig, mit rötlichen Haaren, die seinen irischen Ursprung verrieten. Es geschah nicht besonders häufig, daß er von Frauen herumgeschubst wurde. Eigentlich wurde er sogar niemals herumgeschubst.

Brigitte schob den Kopf nach draußen und spähte in die Dunkelheit. Als sie sich davon überzeugt hatte, daß dort niemand außer dem Sweeper war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zu.

"Wieso hat das so lange gedauert?" zischte sie ihn an. Der Sweeper macht große Augen.

"Nun, der Regen hat die Straße...", begann er, wurde aber fast sofort von der ungeduldigen Brigitte unterbrochen.

"Ja, ja, schon gut, behalten Sie's doch einfach für sich. Haben Sie hier draußen irgend jemanden gesehen?"

"Nein. Wer sollte denn in diesem Wetter..." Wieder erreichte er das Ende seines Satzes nicht.

"Ich habe ein Klirren gehört. Jemand muß sich hier herumgetrieben haben", stellte Brigitte mit einem angriffslustigen Funkeln in den Augen fest. Sehr zu ihrem Mißfallen wirkte der Sweeper nicht etwa besorgt; nein, er machte vielmehr einen peinlich berührten Eindruck. Wortlos trat er wieder frontal vor Brigitte, gab den Blick frei auf einen großen Blumentopf, der bis eben noch von seinem massigen Körper verdeckt worden war.

"Tut mir sehr leid", murmelte er und schien ehrlich betroffen zu sein. Brigittes Blick viel auf die traurigen Reste des prächtigen Hibiskus, der auf dem Boden in einem großen Haufen aus Erde und Tonscherben lag. Der Anblick veranlaßte Brigitte zu einem Kichern; da hatte sie sich doch ganz umsonst Sorgen gemacht. Sie ignorierte die Tatsache, daß Gordon sie ob ihres uncharakteristischen Verhaltens verwundert anstarrte und ging zurück ins Haus, um ihre Handtasche zu holen. Wenn sie erst einmal im Centre angekommen war, würde sie ein für allemal klarstellen, daß sie nicht noch einmal allein zu Hause bleiben würde. Schon gar nicht mitten in einem Unwetter, Hormone hin oder her. Und wehe dem alten Parker, wenn er sich ihr widersetzen würde!

***

Schon seit Stunden führte die Straße durch einen nicht enden wollenden Wald. Jay starrte gelangweilt aus dem Fenster. Sein Vater steuerte den Wagen mit unerschütterlicher Ruhe Richtung Maine, hörte dabei mit wachsender Begeisterung dem lokalen Country-Sender im Radio zu. Obwohl Jay mit großer Ausdauer über die Musikauswahl gemault hatte, ließ der Major sich nicht dazu bringen, einen anderen Sender zu suchen. Jay seufzte.

Eine Zeitlang hatte er sich mit Überlegungen über Ben Miller abgelenkt, doch das Thema hatte schnell seinen anfänglichen Reiz verloren, als ihm klargeworden war, daß er nur mit zusätzlichen Fakten weiterkommen würde. Wenigstens waren sie jetzt endlich auf dem Weg zum Lake Catherine! Das untätige Herumsitzen war Jay sehr schnell leid gewesen; er brauchte eine Herausforderung, etwas, das ihn von seinen Erinnerungen an das Center ablenkte und sein Gehirn beschäftigt hielt. Die Ermittlungen in einem Mordfall waren zwar nicht so ganz das, was er sich vorgestellt hatte, aber wenn sie Miss Parker damit helfen konnte, war er gerne dazu bereit.

Hoffentlich würden ihre Bemühungen Miss Parker auch helfen. Jay wußte nicht so genau warum, aber er mochte die Frau, die ihn damals mit soviel Trauer in ihren blauen Augen besucht hatte, und er wollte ihr gerne helfen. Auch sein Bruder Jarod schien sie sehr zu mögen, wenn er ihr sogar hinterher reiste...

Neben ihm begann sein Vater, einen der sogenannten Hits mitzusingen. Jay rollte mit den Augen.

"Bitte, Dad, wenn es dir nichts ausmacht. Die Songs sind auch so schon schlimm genug", erklärte er seinem Vater und sah ihn von der Seite an. Der Major machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem Schnauben und einem Lachen klang, hörte aber mit dem Singen auf.

"Wirklich, Sohn, an deinem Musikgeschmack müssen wir noch arbeiten", gab er mit einem Grinsen und einem Zwinkern zurück. Jay setzte zu einer Erwiderung an, doch dann lenkte ihn etwas ab, das er nur aus den Augenwinkeln gesehen hatte. Ein dunkler Schemen bewegte sich am Waldrand, hielt genau auf ihren Wagen zu.

"Dad, paß auf!" schrie Jay, doch es war schon zu spät. Noch während der Major in die Eisen stieg, spürten sie, wie etwas das Auto streifte und mit einem dumpfen Pochen von der Karosserie abprallte.

"Verdammt!", rief der Major erschrocken, als der Wagen langsam zum Stehen kam. "Kannst du erkennen, was es ist, Jay?"

Geschockt sah der Junge in den Seitenspiegel. Etwas Schwarzes lag in einem reglosen Haufen hinter ihnen auf der Straße. Und da war auch Blut...

"Es muß ein Tier sein", sagte Jay gepreßt. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. "Glaubst du, es ist..."

"Das werden wir gleich wissen", sagte der Major und sah seinen Sohn mitfühlend an. Er setzte den Wagen zurück und stoppte ein paar Meter entfernt von dem bewegungslosen Tier. Jay riß die Tür auf und sprang aus dem Auto, war mit wenigen Schritten bei der hilflosen Kreatur, die sich bei näherem Hinsehen als Hund entpuppte.

"Es ist ein Hund!" rief Jay aufgeregt. Sein Vater verließ das Auto und kam herüber. Er kniete sich neben den Hund, beugte den Kopf herunter und lauschte.

"Der Kerl scheint Glück gehabt zu haben", informierte er seinen Sohn, dem fast schlecht vor Erleichterung wurde. "Er atmet noch. Schwach, aber regelmäßig. Wir haben ihn wohl nur gestreift."

Der Major machte sich daran, das Tier genauer zu untersuchen, ging dabei mit äußerster Vorsicht zu Werke. Jay sah hilflos zu. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals, seine Gedanken rasten. Der Hund war ein schwarzer Labrador, der extrem verwahrlost aussah. Das kurze Fell war struppig und hatte jeden Glanz verloren; an einigen Stellen war es sogar ganz ausgefallen. Man konnte deutlich die Rippen des armen Tieres sehen, so dünn war es.

"Dad...", murmelte Jay fassungslos. Sein Vater sah zu ihm auf, Wärme und Mitgefühl in den Augen.

"Keine Sorge, Jay, wir kümmern uns um den Burschen. Wir bringen ihn zu einem Tierarzt und sorgen dafür, daß es ihm besser geht", versicherte er seinem Sohn, als er aufstand. Jay lief zu ihm und umarmte ihn stürmisch.

"Danke, Dad", wisperte er, und der Major strich ihm beruhigend über den Kopf. "Aber wo sind denn die Besitzer? Er muß doch zu irgend jemandem gehören."

Major Charles seufzte und schob seinen Sohn von sich weg. Sanft drehte er ihn an den Schultern herum, bis er zum Waldrand sah. Jay kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was dort die Aufmerksamkeit seines Vaters erregt hatte. Dann sah er es. Ein schmaler Weg führte vom Straßenrand zu einer kleinen Ausbuchtung im Wald. Dort, an einem Baum, baumelten die Reste einer Leine; die andere Hälfte hing vom Halsband des bewußtlosen Hundes herunter.

"Er muß sich losgerissen haben, als er das Auto sah. Dachte vielleicht, daß seine Besitzer zurückkommen. Diese Unmenschen." Die Stimme des Majors hatte einen harten Klang angenommen, den Jay sonst nur von ihm kannte, wenn er über das Centre sprach.

"Also können wir ihn mitnehmen?" fragte er nach, sah seinen Vater mit großen Augen an. Der Blick des Majors kehrte aus der Ferne zurück, richtete sich wieder auf Jay.

"Wir können nicht nur, wir werden. Geh bitte den Kofferraum aufmachen und leg eine der Decken vom Rücksitz hinein."

"Sofort, Dad!" erwiderte Jay und rannte zurück zum Auto. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie sein Vater den reglosen Hund vorsichtig hochhob und zum Auto trug. Es sah ganz danach aus, als wäre Miss Parker nicht die einzige, die ihre Hilfe brauchte.

***

Das Unwetter über Blue Cove tobte noch immer, vielleicht noch schlimmer als in der Stunde zuvor. Brigitte schüttelte sich, als sie die Eingangshalle betrat. Sie streifte ihre Jacke ab und hängte sie zum Trocknen über einen der unbequemen Sessel, die im Foyer verteilt standen. Gordon konnte sie ihr später bringen, oder sie würde sie auf ihrem Rückweg mitnehmen.

Der Sweeper war unschlüssig in der Tür stehengeblieben. Brigitte sah ihn voller Ungeduld an.

"Halten Sie sich hier zu meiner Verfügung", wies sie ihn kühl an. "Ich finde den Weg zum Büro meines Mannes schon alleine. Auch, wenn ich lange nicht hier war."

Sie ließ die Eingangshalle mit langen Schritten hinter sich, stürzte sich in das finstere Labyrinth aus Fluren und Korridoren, die das gesamte Centre durchzogen. Es gefiel ihr gar nicht, daß der Strom auch hier ausgefallen war. Warum arbeitete der Notstromgenerator nicht? Der lief doch mit Diesel und sollte eigentlich sofort gestartet werden, wenn die Elektrizität aus irgendwelchen Gründen ausfiel. Es gab mehr als genug wertvolle Projekte im Centre, die auf Strom angewiesen waren - sei es eingefrorenes Erbmaterial im Forschungstrakt, bettlägerige Patienten auf der Krankenstation oder die vielen anderen hochgeheimen Forschungen, die Raines nur vor dem Tower zu verantworten hatte.

Beschäftigt mit ihren eigenen Sorgen, vergaß Brigitte den Generator schnell wieder. Da die Aufzüge nicht funktionierten, mußte sie die Treppe nehmen, um das zwei Stockwerke höher gelegene Büro ihres Mannes zu erreichen. Auf dem obersten Treppenabsatz angekommen, schnaufte sie hörbar. Verfluchte Schwangerschaft. Sie war früher nie kurzatmig gewesen.

Als sie das Büro erreicht hatte, war ihre Wut auf ihrem bisherigen Höhepunkt angekommen. Parker würde ihr diesmal zuhören! Er würde sie nicht noch einmal aus dem Centre und seiner Näher verbannen, dafür würde sie jetzt sorgen.

Brigitte stieß die Doppeltür zu Parkers Büro auf, holte tief Luft, um mit ihrer Rede zu beginnen und stockte. Das Büro war leer. Enttäuscht ließ sie den Atem wieder entweichen. Wo steckte er? Er würde doch wohl nicht ausgerechnet in diesem Unwetter sein Vergnügen bei einer anderen Frau gesucht haben?

Verärgert machte Brigitte auf dem Absatz kehrt. Na schön, vielleicht war er ja im Forschungstrakt. Soweit sie das von Lyle wußte, heckten Raines und ihr Mann dort seit geraumer Zeit etwas aus, und sie war sich fast sicher, daß es etwas mit dem Balg in ihr zutun hatte. Um so besser; in dieser Angelegenheit hatte sie - zumindest noch - auch etwas mitzureden.

Während sie die Treppen wieder herunterstieg und in den Korridor einbog, der zum neuen Forschungstrakt führte, verfluchte sich Brigitte wieder einmal selbst für die Lage, in die sie sich gebracht hatte. Die Heirat mit Parker und eine gesicherte Machtstellung im Centre im Austausch für ein Kind. Welch brillante Idee. Zumindest hatte es damals so ausgesehen. Jetzt war sich Brigitte damit gar nicht mehr so sicher.

Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich wahrnahm. Schon wieder dieses dumpfe Pochen! Schritte. Es war jemand hinter ihr. Sie ging langsam weiter, gab sich den Anschein, völlig unbekümmert und in ihre Gedanken versunken zu sein, dann wirbelte sie so plötzlich, wie es ihr geschwollener Körper zuließ, herum. Nichts. Niemand war zu sehen. Nur ein leerer Korridor erstreckte sich vor ihr.

Dann, plötzlich, hörte sie wieder Schritte, diesmal aus der Richtung, in die sie eben noch gegangen war. Erneut drehte sie sich um; erneut war rein gar nichts zu sehen. Genervt seufzte Brigitte. Zum Teufel mit ihrer Schwangerschaft, allen dazugehörigen Hormonen und dem ihr verhaßten Kind.

Sie setzte ihren Weg fort und erreichte ohne weitere Zwischenfälle eine Kreuzung im Korridor. Der rechte Weg führte zurück in die Eingangshalle, der linke zum Forschungstrakt, geradeaus ging es weiter zur Krankenstation. Brigitte rang kurz mit sich selbst, entschied sich dann für den Forschungstrakt. Es war wirklich Zeit, daß sie dem alten Parker mal wieder ihre Meinung sagte!

Diese Entscheidung stellte sich wenige Meter später als ihr letzter Fehler heraus. Als sie an einem dunklen Seitengang vorbeischritt, spürte sie auf einmal eine Bewegung hinter sich. Einen Sekundenbruchteil später hatte sich schon ein Arm um sie herumgewunden; eine Hand preßte sich auf ihren Mund, nahm ihr die Luft zum Atmen und Schreien. Panisch wand sie sich hin und her, doch ihr unbekannter Angreifer war eindeutig im Vorteil. Er hielt sie mühelos fest.

Noch während sie überlegte, wer sie hier im Centre wohl angreifen könnte und was sie jetzt noch tun konnte, spürte sie, wie etwas Kühles, Scharfes an ihrem Rücken entlang schabte. Ein Blitz, dessen Licht von hinten, aus Richtung des Foyers kam, erhellte Teile des Korridors vor ihr, zeigte ihr ihren eigenen Schatten und den ihres Angreifers, samt dem Messer, das er in der Hand hielt. Ohrenbetäubender Donner schien das Centre in seinen Grundfesten zu erschüttern; ihr Blut rauschte in ihren Ohren, als Brigitte verzweifelt um ihr Leben kämpfte.

Ihr Widerstand erstarb, als das Messer sie zuerst im Rücken traf, wo die Klinge mühelos bis zu einer ihrer Nieren vordrang. Der Schmerz war schlimmer als alles, was Brigitte je erlebt hatte, doch er schien immer mehr nachzulassen, je öfter sie spürte, wie die Klinge in ihren Körper eindrang. Warmes Blut strömte überall an ihrem Körper herunter, bildete bereits eine große Pfütze zu ihren Füßen. Mit dem Blut verließ auch das Leben Brigittes Körper. Das letzte, was sie spürte, war wie das Messer ihren Bauch durchstieß und sich seinen Weg bis zu dem ungeborenen Leben in ihr bahnte. Ihre letzte Empfindung war Mitleid für das hilflose Wesen in ihr; dann wogte gnädige Schwärze heran und erlöste sie für immer vom Leid dieser Welt.

***

In den Schatten eines anderen Seitenganges stand ein Mann, leicht gebeugt, und sah den Ereignissen ruhig zu. 'Wer hätte damit rechnen können?', dachte er mit mildem Erstaunen.

Er wartete, bis der Mann von seinem Opfer abgelassen und sich hastig entfernt hatte, dann machte er sich, so schnell er konnte, auf den Weg zum Forschungstrakt. Wenige Minuten später kehrte er mit einem glitzernden Skalpell in der Hand zurück, eilte hinüber zu der Leiche und barg den größten Schatz, den das Centre seit langem beherbergt hatte.
Part 17 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Kleine Warnung: Die nächsten Teile (einschließlich dieses) sind nicht unbedingt shipper-freundlich, aber ich werde mich bemühen, am Ende einen Ausgleich dafür zu schaffen. ;)

Glossar: Okami = Wolf (japanisch)
Hai = ja
Sou desu = so ist es

Mein besonderer Dank gilt wie immer meinen Betafeen - mögen es stetig mehr werden... :) Ein Extra-Dankeschön geht an Susi-chan, die mir geholfen hat, die Feinheiten der japanischen Umgangsformen auszuknobeln. :)

***

If the years take away
Every memory that I have
I would still know the way
That would lead me back to your side.
The North star may die
But the light that I see in your eyes
Will burn there always
Lit by the love we have
Shared before time.


-- Coco Lee, A Love Before Time (Crouching Tiger, Hidden Dragon) lyrics by James Schamus

***



Kostbare Momente
Teil 17

von Miss Bit




Mit einem schweren Seufzen schlüpfte Sydney in die idyllische Stille seines Büros, schloß die Tür hinter sich und lehnte sich erschöpft an das glatte Holz. Was für ein Morgen! Wie von selbst schlossen sich seine Augen, doch er riß sie sofort wieder auf, wollte auf keinen Fall riskieren, daß die Bilder, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt hatten, vor seinem geistigen Auge erschienen. Denn wenn das passierte, würde auch die Übelkeit wiederkehren, und er hatte für heute nun wirklich schon genug von seinem Mageninhalt gesehen.

Er war fast eine Stunde früher ins Centre gekommen, um sich mit Broots zu treffen und gemeinsam mit dem Techniker die Ermittlungen im Fall Lyle weiterzuführen. Sie hatten sich darauf geeinigt, daß es am besten wäre, die Spurensuche außerhalb der Arbeitszeiten zu betreiben, dabei aber trotzdem die Ressourcen des Centres zu nutzen. Allerdings waren sie an diesem Morgen nicht dazu gekommen, irgend etwas herauszufinden - zumindest nichts, was mit Lyle zu tun hatte. Obwohl... Sydney war sich nicht so ganz sicher, ob Lyle nicht vielleicht doch in Verbindung stand zu dem grausigen Fund, den er vor nicht einmal zwei Stunden gemacht hatte.

Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er sich sehr widerwillig noch einmal an die Ereignisse erinnerte, die ihm wohl für eine Weile den Schlaf rauben würden. Ob er es wollte oder nicht, die entsetzliche Entdeckung, die er gemacht hatte, lief wieder und wieder vor seinem inneren Auge ab, wie ein makaberer, Übelkeit erregender Film.

Auf seinem Weg zum Technikraum hatte sich Sydney kurzfristig entschieden, einen Abstecher in den neuen Forschungstrakt zu machen, um noch einmal mit Raines zu reden. Er war nie dort angekommen.

Kurz nachdem er die Eingangshalle durchquert und den Korridor Richtung Neubau betreten hatte, war ihm der Geruch aufgefallen, der allein schon genügt hätte, um ihm den Magen umzudrehen. Trotz seines unguten Gefühls war er weitergegangen, war mit jedem Schritt langsamer geworden, um schließlich stehenzubleiben, als er die Blutspuren auf dem dicken Teppich gesehen hatte, der in allen neuen Korridoren lag. Nach zwei weiteren zögerlichen Schritten hatte er in einem Seitengang dann die Ursache für den leicht süßlichen Geruch gefunden, der einer Drohung gleich in dem geradezu unheimlich stillen Korridor gehangen hatte. Als genau das hatte er den Fund später empfunden; eine Drohung an alle, die sich im Centre auf verbotenen Pfaden bewegten oder vielleicht zu ambitioniert waren. Doch im Moment seiner Entdeckung war ihm das noch nicht in den Sinn gekommen; zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, einen Kampf gegen die in ihm aufsteigende Übelkeit zu führen, den er schließlich doch verloren hatte.

Mit zitternden Händen und wackeligen Knien war er schließlich aus der kleinen Nische auf der anderen Seite des Korridors zurückgekehrt und hatte sich neben Brigittes Leiche gekniet. Zögerlich hatte er seine Finger ausgestreckt und der Frau, für die er nie etwas übrig gehabt hatte, die Augen geschlossen. Ein seltsamer Ausdruck hatte darin gelegen, ein Ausdruck, der ihn noch immer verfolgte, wenn er die Augen schloß. Bedauern, vermischt mit Angst und Mitleid.

Tiefe Atemzüge hatten Sydney geholfen, nicht die Beherrschung zu verlieren und seinen Schock zu überwinden. Als er geglaubt hatte, sich wieder im Griff zu haben, hatte er den Fehler begangen, einen näheren Blick auf Brigittes Leiche zu werfen. Stumme Tränen waren ihm über die Wangen geströmt, als er die klaffende Wunde in ihrem Unterleib bemerkt hatte. Wie in Trance hatte er sich aufgerappelt und war noch einmal hinüber zur gegenüberliegenden Fensternische gestolpert, um unter schmerzhaften Krämpfen auch noch die traurigen Reste seines Mageninhaltes loszuwerden.

Nur sehr langsam war ihm das volle Ausmaß seiner Entdeckung bewußt geworden. Der Schnitt, mit dem Brigittes Bauch geöffnet worden war, ließ nur zwei Schlüsse zu. Erstens, das Baby war aus ihrem Leib entfernt worden - ob sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte oder schon tot gewesen war, wollte Sydney lieber nicht wissen. Zweitens, Form und Aussehen der Wunde ließen darauf schließen, daß jemand mit medizinischen Kenntnissen die 'Operation' durchgeführt hatte. Wer, vermochte Sydney nicht zu sagen, obwohl er durchaus eine Vermutung hatte.

Mit langsamen Schritten ging Sydney zu seinem Schreibtisch, umrundete das klobige Möbelstück und ließ sich in seinen weichen Ledersessel sinken. Wenn doch bloß Broots dieser Anblick erspart geblieben wäre! Nie würde er den Ausdruck auf Broots' Gesicht vergessen, als der Blick des Technikers auf die blutüberströmte Fraueneiche gefallen war. Eigentlich hatte er Sydney nur entgegengehen wollen, doch statt dessen hatte er etwas gesehen, das ihm einen kräftigen Schock verpaßt hatte. Broots hatte sich gar nicht erst mit dem Zwischenstadium der Übelkeit aufgehalten, sondern war bei Brigittes Anblick kalkweiß im Gesicht geworden und hatte ein paarmal nach Luft geschnappt, um dann die Augen zu verdrehen und bewußtlos zu Boden zu fallen.

Sydney war nichts anderes übriggeblieben, als die Sache in seine Hände zu nehmen. Er hatte ein paar Sweeper verständigt und außerdem dafür gesorgt, daß Broots von einem Arzt der Krankenstation untersucht und dann von Sam nach Hause gefahren worden war. Danach hatte er die unangenehme Pflicht übernommen, Mr. Parker vom Tod seiner Frau zu unterrichten. Es hatte ihn nicht übermäßig erstaunt, daß Miss Parkers Vater nicht gerade mit Bestürzung auf die Neuigkeiten reagiert hatte, aber er hatte doch zumindest etwas mehr Anteilnahme erwartet. Ein seltsames Flackern in den Augen des alten Mannes hatte Sydney einen kalten Schauer über den Rücken gejagt, aber er hatte es auf den Schock geschoben. Mr. Parker hatte eine lange Zeit geschwiegen, offenbar tief in seine Gedanken versunken, dann hatte er sich nach dem Baby erkundigt und nur abwesend genickt, als Sydney ihm gesagt hatte, daß er nichts über den Verbleib des Kindes wußte. Da Mr. Parker nichts weiter gesagt oder Sydney um Unterstützung gebeten hatte, hatte der Psychiater Parkers Büro mit einem dumpfen Gefühl der Erleichterung, vermischt mit Abscheu, verlassen.

Während er zurück zu seinem eigenen Büro gegangen war, hatte er darüber nachgedacht, warum vor ihm niemand die Leiche entdeckt hatte, und er war zu dem Schluß gekommen, daß er nicht der erste gewesen sein konnte, der diesen Fund gemacht hatte. Zu viele Leute waren - auch nachts - im Centre unterwegs, als daß eine so grausam zugerichtete Leiche stundenlang unbemerkt in einem der Hauptkorridore liegen konnte. War die Leiche also wirklich eine Warnung gewesen? Eine Warnung für wen? Und von wem?

All diese Fragen bereiteten Sydney einiges Kopfzerbrechen, und er wurde sie auch nicht los, als er mit halbgeschlossenen Augen hinter seinem Schreibtisch saß. Leichte Kopfschmerzen machten ihm das Denken nicht gerade einfacher. Er öffnete die unterste Schublade seines Schreibtischs und zog eine Whiskeyflasche sowie ein kleines Glas daraus hervor. Nachdem er das Glas in einem Zug geleert hatte, fühlte er sich zumindest ein bißchen besser. Realer. Ja, das traf es. Er fühlte sich, als wäre er in einem Alptraum gefangen, nur daß es aus diesem Traum leider kein Erwachen geben würde. Gerade, als er überlegte, ob er sich vielleicht noch ein zweites Glas gönnen sollte, klingelte das Telefon und riß ihn aus seinen trüben Gedanken. Untenschloßen starrte er auf das Handy. Sollte er rangehen? Und wenn es der alte Mr. Parker war? Er glaubte nicht, daß er noch eine weitere deprimierende Viertelstunde im Büro von Miss Parkers Vater ertragen könnte. Beim Gedanken an Miss Parker seufzte er schwer und rang sich schließlich dazu durch, das Gespräch anzunehmen. Vielleicht war es ja Jarod, der Neuigkeiten von ihr hatte.

"Sydney", war alles, was er sagte, erschrocken über den rauhen Klang seiner Stimme. Am anderen Ende der Leitung herrschte nur Stille. Sydney räusperte sich.

"Hallo?" fragte er, diesmal etwas kräftiger. Noch immer Stille; nur das Geräusch leiser, regelmäßiger Atemzüge verriet, daß überhaupt jemand in der Leitung war. Sein Herz schlug schneller, als ihn eine irrwitzige, aber hoffnungsvolle Ahnung erfüllte.

"Mi... Miss Parker?" wisperte er ungläubig. Ein leises Seufzen. Dann endlich eine Antwort.

"Es ist schön, Ihre Stimme zu hören, Syd."

"Mein Gott, Sie sind es wirklich! Ich..." Er brach mitten im Satz ab, unfähig weiterzusprechen. Mühsam verdrängte er den Kloß in seinem Hals, aber er konnte nichts gegen die stummen Tränen tun, die langsam über sein Gesicht rannen. Hatte sie überhaupt die geringste Ahnung, was ihr Anruf ihm bedeutete?

Ihm schossen Tausend Fragen durch den Kopf, aber er wußte, daß er die meisten davon nicht stellen durfte, wollte er verhindern, daß sie gleich wieder auflegte. Schließlich begnügte er sich mit: "Wie geht es Ihnen?"

"Eine einfache Frage", beschied Miss Parker. Bildete er sich das nur ein, oder ging ihr Atem etwas schneller? "Aber die Antwort ist kompliziert. Sagen wir, ich komme zurecht."

"Ich freue mich, daß Sie angerufen haben, Miss Parker. Sie ahnen ja gar nicht, wieviel mir das bedeutet. Wir... Ich meine, ich habe mir Sorgen gemacht um Sie, große Sorgen sogar."

Ein kaum hörbares Schnauben von ihr, als er sich selbst verbesserte und statt der Pluralform auf das unverfänglichere 'ich' auswich. Wußte sie also, daß Jarod auf der Suche nach ihr war? Nur Augenblicke später beantwortete sie seine unausgesprochene Frage.

"Es tut mir leid, daß ich Ihnen Sorge bereitet habe - das wollte ich nicht. Aber ich konnte einfach nicht in Blue Cove bleiben - ich hatte das Gefühl, ich würde langsam ersticken, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Also ging ich fort." Wieder ein Seufzen, dann: "Jarod hat mich aufgespürt. Wir haben... geredet. Nun, eigentlich hat hauptsächlich er geredet."

Sydney runzelte die Stirn; sein Herz schlug noch etwas schneller. Etwas stimmte nicht. Miss Parkers Zögern bedeutete nichts Gutes. War etwas zwischen Jarod und ihr passiert?

"Ist er jetzt bei Ihnen?" erkundigte er sich vorsichtig. Er kam sich beinahe vor wie ein Seiltänzer auf einem Hochseil, der mit verbundenen Augen und ohne Auffangnetz langsam seinen Weg ertastete, dabei keinen Millimeter breit von seinem Weg abweichen durfte. Ein falsches Wort, und er würde verlieren, was sein geduldiges Warten ihm eingebracht hatte: Miss Parkers Vertrauen.

Ein leises Lachen, das nicht humorvoll, sondern viel eher schmerzerfüllt klang.

"Ich bin bei einem Freund. Die Begegnung mit Jarod war... nicht einfach für mich. Dieses Gefühl zu ersticken war fast noch stärker als in Blue Cove", erklärte sie leise.

'Und stärker als in Maine', fügte Sydney in Gedanken hinzu. Er hatte längst erkannt, daß Miss Parkers emotionaler Zustand noch immer nicht sehr stabil war, daß das Gefühl des langsamen Erstickens, das sie ihm beschrieben hatte, in Wirklichkeit ihre Angst vor emotionaler Nähe und Verletzung war. Und sie floh davor, ob sie es sich nun eingestand oder nicht. Wenigstens war sie nicht länger allein. Doch wer war der Freund, der bei ihr war? Konnte er sie das fragen? Er entschied sich dagegen und seufzte schwer, ohne sich dessen bewußt zu sein.

"Es tut mir sehr leid, Sydney", hörte er Miss Parkers sanfte Stimme vom anderen Ende der Leitung. Sie machte ein Geräusch, das er nicht ganz zuordnen konnte - es klang ein wenig wie eine Mischung aus einem Seufzen und einem trockenen Schluchzen, aber es hatte etwas merkwürdig Tröstendes an sich. "Es geht Ihnen nicht sehr gut, habe ich recht? Ist etwas passiert? Oder liegt es an mir?"

"Nein!" beeilte sich Sydney zu sagen. "Es liegt nicht an Ihnen, bestimmt nicht. Ganz im Gegenteil, Ihr Anruf macht diesen Morgen um einiges erträglicher." Sollte er ihr sagen, was hier im Centre passiert war? Wie würde sie es aufnehmen? Sydney rang mit sich selbst.

"Es ist etwas passiert", schloß Miss Parker ganz richtig. Manchmal erstaunte sie ihn mit ihrem feinen Gespür für die Stimmungen anderer Menschen, besonders deshalb, weil sie fast nie im Einklang mit diesem Gespür handelte. "Sie können es mir ruhig sagen; ich werde nicht gleich zusammenbrechen deswegen. Glauben Sie mir, ich habe in der letzten Zeit soviel durchgemacht, da wirft mich so schnell nichts mehr um."

Es war nicht wirklich eine Lüge, aber Sydney erkannte nicht allein am leichten Zittern ihrer Stimme, daß sie selbst nicht von ihren Worten überzeugt war. Sie hatte Angst, fürchtete sich davor, daß seine Neuigkeiten sie Lüge strafen und doch aus der Bahn werfen würden.

"Brigitte ist tot", sagte Sydney endlich, nach langem Zögern. "Sie wurde heute morgen ermordet aufgefunden. Hier im Centre." Seine Stimme wurde immer leiser, schien langsam zu verblassen, doch er konnte nichts dagegen tun.

"Mein Gott", hauchte Miss Parker entsetzt. Ihre Stimme klang erstickt, verriet ihr Mitleid für eine Frau, die sie bestenfalls nicht hatte leiden können. "Weiß man schon, wer..."

"Nein", erwiderte Sydney ruhig, erfüllt mit einer absurden Erleichterung. Miss Parker schien die Nachricht einigermaßen gefaßt aufzunehmen.

"Wer hat sie gefunden? Wie geht es meinem Vater? Und was ist mit... mit dem Kind?" Die Fragen sprudelten nur so aus ihr hervor, und auch das wertete Sydney als ein gutes Zeichen. Alles war besser als die stumme Zurückgezogenheit, die sie früher des öfteren an den Tag gelegt hatte. Er holte tief und zitternd Luft.

"Ich habe sie gefunden, vor gut zwei Stunden", informierte er Miss Parker, nicht im mindesten erstaunt über den brüchigen Klang seiner Stimme. Diese Sache hatte ihn mitgenommen, das ließ sich nicht bestreiten.

"Oh, Sydney..."

"Ihrem Vater scheint es den Umständen entsprechend... gut zu gehen." Sydney machte sich nicht die Mühe, seine Abneigung für Mr. Parker aus seiner Stimme herauszuhalten. "Er hat den Tod seiner Frau äußerst gefaßt aufgenommen." Er hörte, wie Miss Parker leise schluckte, doch sie sagte nichts.

"Was mit dem Kind ist, kann ich nicht sagen", fuhr er fort und wieder zitterte seine Stimmte, stärker diesmal, "denn es ist verschwunden."

"Verschwunden? Wie kann es verschwunden... Oh. Nein. Sagen Sie bitte nicht, daß..." Sie führte den Satz nicht zu Ende, sondern holte ein paarmal tief Luft.

"Jemand hat das Baby aus ihr herausgeschnitten." Sydney mußte sich zwingen, diese Worte laut auszusprechen. Allein der Gedanke daran war schon schrecklich genug. "Vielleicht war das überhaupt nur der Grund, warum Brigitte ermordet wurde", überlegte er laut.

"Raines", wisperte Miss Parker.

"Wie bitte? Wollen Sie damit sagen, daß Raines sie ermordet hat?"

"Nein. Ich weiß nicht, ob er es getan hat. Aber es muß ihm sehr zupaß gekommen sein, daß Brigitte im Centre - und damit praktisch auf seiner Türschwelle - ermordet wurde. Dieses Baby ist etwas Besonderes, da bin ich mir ganz sicher", erklärte Miss Parker mit fester Stimme.

Sydney schwieg kurz, dachte über ihre Worte nach. Sie ergaben durchaus einen gewissen Sinn. Es tat ihm gut, Miss Parker so zu hören - sie klang fast so entschlossen und bestimmt wie in alten Zeiten, wenn sie eine neue Spur aufgenommen hatte. Egal, ob sie es nun zugab oder nicht, sie hatte eine gewisse Begabung dafür, Zusammenhänge und Motive intuitiv richtig zu erkennen. Sydney öffnete den Mund, um zu einer Antwort anzusetzen, als ein lautes Rauschen ihn zwang, das Handy von seinem Ohr fort zu halten. Nach ein paar Sekunden wagte er es, wieder zu lauschen.

"Miss Parker, sind Sie noch da?" erkundigte er sich mit vor Spannung klopfendem Herzen.

"Ja, das bin ich", erwiderte sie, und ihre Stimme klang mit einemmal traurig. "Sydney, ich muß jetzt leider Schluß machen."

Für einen Moment wußte er nicht, was er sagen sollte. Es gab doch noch soviel, das er sie fragen wollte!

"Wenn Sie irgend etwas brauchen, egal was, dann rufen Sie mich bitte an, Miss Parker. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich etwas für Sie tun könnte."

Erneut seufzte sie.

"Ich glaube nicht, daß ich noch einmal anrufen werde", sagte sie sehr leise. "Dieser Anruf war als Abschied gemeint. Ich wollte nur, daß Sie wissen, daß es mir gut geht. Sie sollen sich keine Sorgen um mich machen. Es... es gibt jemanden, der sich um mich kümmert, und ich... ich..." Sie stockte, suchte offenbar nach den richtigen Worten. Was immer sie ihm auch sagen wollte, sie brachte die Worte einfach nicht über ihre Lippen.

"Ist schon gut, Miss Parker", antwortete Sydney sanft. Er wußte nun, was sie ihm sagen wollte, und auch wenn sie die Worte nicht sagen konnte, so verriet ihr Tonfall ihm doch, was sie auf dem Herzen hatte. Für einen Moment dachte er an das letzte 'richtige' Gespräch zurück, das sie geführt hatten, als Miss Parker die Hütte in Nebraska verlassen hatte, um nach Maine zu fahren. 'Aber egal, was passiert ist, ich hatte immer Sie. Dank Ihnen weiß ich heute, was ein guter Vater ist.' Ja, im Lichte dieser Worte wurde ihm klar, was sie ihm zwar gerne sagen wollte, aber nicht konnte. "Ich kann nur hoffen, daß Sie Ihre Meinung noch ändern werden. Meinem Leben würde etwas fehlen, wenn ich den Kontakt zu Ihnen ganz verlieren würde."

Auch wenn er sich nicht ganz sicher war, so glaubte er doch, sie weinen zu hören. Sie bemühte sich zwar sehr, es vor ihm zu verbergen, aber ihre Atmung und der Klang ihrer Stimme verrieten sie.

"Es tut mir sehr leid, Sydney", brachte sie hervor. Dann, zwischen zwei trockenen Schluchzern: "Leben Sie wohl, mein Freund."

"Für den Moment, Miss Parker, für den Moment", gab er mit einer Zuversichtlichkeit zurück, die er nicht empfand. Sollte dies wirklich ein Abschied für immer sein? Er hoffte es nicht. Gab es vielleicht etwas, das er sagen konnte, damit sie sich anders entschied? Während er überlegte, lauschte er ihren Atemgeräuschen.

"Sind Sie noch da?" fragte er nach einer Weile, doch er erhielt keine Antwort.

"Miss Parker?" Seine Frage wurde durch ein Klicken, gefolgt vom Freizeichen, beantwortet. Und so endete das Gespräch, wie es begonnen hatte - mit der Ausnahme, daß Sydney nun noch deprimierter war. Nachdenklich starrte er auf das leere Whiskeyglas vor sich und entschied, daß er sich einen zweiten Drink redlich verdient hatte. Während er das Glas leerte und das angenehme Brennen in seiner Kehle genoß, fragte er sich zum ersten Mal seit langem wieder, was ihn eigentlich noch in diesem Höllenloch hielt.

***

Nicht zum ersten Mal in den letzten 48 Stunden fragte sich Major Charles, ob er sich richtig entschieden hatte. Doch als er das strahlende Lächeln seines Sohnes sah, erinnerte er sich wieder, warum er dem Jungen erlaubt hatte, den Hund zu behalten, den sie vor nicht ganz zwei Tagen angefahren hatten. Jay hatte den Labrador Eddy getauft und war ganz vernarrt in den schwarzen Wirbelwind. Und die Zuneigung schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

Eigentlich hatte der Major geplant, den Hund zum nächsten Tierarzt zu bringen und es dann dem Doktor zu überlassen, die Besitzer ausfindig zu machen oder das Tier in ein Tierheim zu bringen. Doch als sich herausgestellt hatte, daß der Hund weder eine Tätowierung noch einen eingepflanzten Identifizierungschip hatte, hatte er es einfach nicht übers Herz gebracht, Eddy zurückzulassen. Dazu war dann noch Jays seelenvoller Blick gekommen, und diese Kombination hatte sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen.

Nun war Eddy also das neueste Mitglied der Familie. Der Tierarzt hatte sie beruhigen können, daß dem Tier nichts Ernstes fehlte. Nur ein paar seiner Rippen waren leicht geprellt, ansonsten hatte er Glück gehabt. In mehr als einer Hinsicht, dachte der Major bei sich. Denn daß der Hund unterernährt war, hatte er auf den ersten Blick gesehen. Niemand konnte sagen, wie lange der arme Kerl schon in der Wildnis auf seine Besitzer gewartet hatte. Doch zum Glück war die Leidenszeit für Eddy nun vorbei.

Vom Tierarzt hatten sie außerdem noch erfahren, daß Eddy nicht viel älter als ein Jahr sein konnte, was auch seinen ausgeprägten Spieltrieb erklärte. Major Charles lächelte, als er Jay und Eddy dabei zusah, wie sie gemeinsam über den Hinterhof des kleinen Motels in Maine tollten, in dem sie für ein paar Tage wohnen würden. Sein Lächeln verblaßte, als sein Blick auf seinen anderen Sohn fiel, der im Schatten einer Platane auf dem Rasen lag und durch die Blätter den wolkenlosen Himmel betrachtete.

Jarod war am Morgen in Maine angekommen und hatte sich gegen Mittag hier mit ihnen getroffen. Jay war überglücklich gewesen, seinen großen Bruder wieder bei sich zu haben, doch Charles' Herz war nach einem Blick in Jarods dunkle Augen schwer geworden. Nachdem Jay seinen Bruder ausgiebig begrüßt und ihn mit Eddy bekannt gemacht hatte, hatte sich Charles mit Jarod zusammengesetzt und die ganze Geschichte aus ihm herausgeholt. Es betrübte ihn ebenso wie Jarod, daß Miss Parker sich nicht hatte helfen lassen, aber anders als Jarod konnte er auch verstehen, warum sie ihr Heil in der Flucht gesucht hatte. Wenn es um Miss Parker ging, schien sein Sohn eine Art blinden Fleck zu haben - er verstand einfach nicht, warum es ihr so schwer fiel, ihn in ihre Nähe zu lassen oder gar eine emotionale Bindung zu ihm einzugehen. Zwar kannte Major Charles Catherine Parkers Tochter nicht so gut wie sein Sohn, aber er besaß eine gute Menschenkenntnis und konnte zumindest erahnen, was in Miss Parker vorging.

Sein Lächeln verschwand ganz, als er an das Gespräch mit Sydney dachte, das er gegen Mittag geführt hatte. Was er da erfahren hatte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Ein ungutes Gefühl sagte ihm, daß die Mordfälle Ben Miller und Brigitte Parker in einem Zusammenhang standen, den er noch nicht erkennen konnte, der sich aber schon bald als wichtig erweisen könnte. Sein ganzes Mitleid galt dem unschuldigen Leben, von dem keiner wußte, ob es die grausame Ermordung seiner Mutter unbeschadet überstanden hatte. Was war das Centre nur für ein Ort, daß dort nicht einmal ungeborenes Leben geachtet wurde?

Was ihn aber fast noch mehr belastete, waren die Informationen über Miss Parker, die er erhalten hatte. Sein schlechtes Gewissen regte sich, als er daran dachte, daß er Jarod zwar von Brigittes Ermordung erzählt, aber ihm verschwiegen hatte, daß Miss Parker sich bei Sydney gemeldet hatte, um sich von ihm zu verabschieden. Wie sollte er seinem Sohn beibringen, daß Miss Parker sich offenbar darauf vorbereitete, endgültig ein neues Leben zu beginnen? Er war sich sicher, daß Jarod diese Neuigkeit in seiner momentanen Stimmung bestimmt nicht gut aufnehmen würde.

Der Major war von Natur aus kein trübsinniger Mensch, aber in letzter Zeit häuften sich die schlechten Nachrichten so sehr, daß sogar er langsam seinen Optimismus verlor. Es fiel ihm schwer, einen Weg zu sehen, der sie alle in eine angenehmere Zukunft führen würde. Der einzige, der ihm zur Zeit keine Sorgen bereitete, war Jay. Eine Zeitlang hatte es ja so ausgesehen, als würde der Junge einen schwierigen Start ins 'normale' Leben haben, aber mittlerweile fand er sich prima zurecht und schien die Jahre im Centre wenn auch nicht verarbeitet, so doch hinter sich gelassen zu haben.

Charles schüttelte den Kopf, verließ das kleine Zimmer, das er mit Jay und Eddy teilte, und schlenderte durch den Sonnenschein hinüber zur Platane. Er setzte sich neben Jarod ins Gras, den Blick unverwandt auf Jay gerichtet.

"Glaubst du, ich hätte sie aufhalten sollen, Dad?"

Nur mit Mühe gelang es Charles, einen Seufzer zu unterdrücken. Diese Frage stellte ihm Jarod heute nicht zum ersten Mal.

"Sohn, selbst wenn du sie hättest aufhalten können, war es richtig, es nicht zu tun", bemerkte der Major trocken. Jarod richtete sich halb auf und sah ihn an.

"Du glaubst, ich hätte sie gar nicht aufhalten können?" fragte er verwundert.

"So ist es", bestätigte Charles und grinste, als Jay über Eddy stolperte und zusammen mit dem schwarzen Wirbelwind durchs Gras kugelte. Er wurde jedoch wieder ernst, als er fortfuhr. "Jarod, was hattest du denn vor? Du kannst niemanden gegen seinen Willen festhalten, schon gar nicht, wenn dir etwas an ihm - oder ihr, in diesem Fall - liegt. Sie gehen zu lassen, war das einzig richtige in dieser Situation. Miss Parker braucht jetzt ihren Freiraum. Ich glaube sogar, daß sie dir und sich selbst keinen Gefallen getan hätte, wenn sie geblieben wäre."

"Wie kannst du so etwas nur sagen, Dad?" fragte Jarod entrüstet und setzte sich kerzengerade auf. Diesmal gestattete sich der Major ein Seufzen.

"Lebenserfahrung, Jarod", erklärte er ruhig. "Ich weiß, du wirst das nicht gern hören, aber du kannst im Moment kein Teil ihres Lebens sein. Nicht so, wie du es vielleicht gerne hättest."

"Ich habe ihr meine Freundschaft angeboten", murmelte Jarod und ließ sich wieder ins Gras sinken.

"Solange sie nicht weiß, woran sie mit sich selbst ist, wird sie mit diesem Angebot nicht viel anfangen können, fürchte ich", fuhr der Major ungerührt fort. "Selbstfindung ist keine einfache Sache, selbst unter den besten Umständen nicht. Gib ihr etwas Zeit, und dann werdet ihr beide sehen, was die Zukunft bringt. Wenn sie zurückkehrt, wird es die Wartezeit wert gewesen sein - und wenn nicht, dann ist es für euch beide besser so."

Jarod schloß die Augen, aber der Major wußte auch so, daß es seinem Sohn nicht gefiel, diese Worte von ihm zu hören. Der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände.

Charles lehnte sich zurück, bis sein Rücken vom Stamm der mächtigen Platane gestützt wurde und beobachtete Jay, der gerade versuchte, Eddy das Konzept des Apportierens verständlich zu machen. Für ein paar Minuten verbannte der Major alle trüben Gedanken aus seinem Bewußtsein, erlaubte sich die Illusion von Frieden und Sorglosigkeit. Doch es dauerte nicht lange, bis seine Ängste, Sorgen und Wünschen einen Weg in die friedliche Oase seiner Gedanken fanden. Wie immer manifestierte sich der Grund für seine Grübeleien als das Gesicht seiner Frau, das er zuletzt vor so vielen Jahren vor sich gesehen hatte. Wo sie wohl war? Was sie wohl gerade tat? Ein zweites Gesicht gesellte sich zu dem von Margaret; ein jüngeres, unbesorgteres Gesicht - Emily. Auch sie hatte er schon viel zu lange missen müssen.

"Was ist los, Dad?"

Der Major blinzelte überrascht und sah seinen Sohn an. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er wohl mit einem schweren Seufzer Jarods Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben mußte. Eine Idee nahm ganz langsam Gestalt an in seinem Kopf, und als Charles den Blick seines Sohnes erwiderte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Ja, wieso eigentlich? Es würde nicht nur sein Herz beruhigen, sondern auch Jarod beschäftigt halten.

"Jay und ich werden in den nächsten Tagen mit der Aufklärung des Mordes an Ben Miller beschäftigt sein. Ich weiß, du wolltest uns dabei helfen, aber ich denke, wir werden das auch allein schaffen. Was würdest du davon halten, statt dessen nach deiner Mutter und Schwester zu suchen?"

Jarod starrte ihn an, als habe er gerade den Verstand verloren, schien das Ablenkungsmanöver zu durchschauen, doch dann erhellte sich sein Gesicht. Die Idee gefiel ihm offenbar, und er schien der Ablenkung nicht abgeneigt zu sein. Mit einem Nicken erhob sich Charles' Sohn.

"Eine gute Idee, Dad."

Er hielt den Blick seines Vaters noch ein wenig länger, ließ den Major wissen, daß das Thema Miss Parker damit für ihn noch lange nicht erledigt war, und ging dann hinüber zu seinem Zimmer. Major Charles sah ihm nach, bis er im Motel verschwunden war, dann stand er ebenfalls auf, um zu Jay und Eddy zu gehen. Es war Zeit, daß sie mit ihren Ermittlungen begannen.

***

"Alles in Ordnung, Parker?"

Sie sah auf, als Tommy Tanakas leise Stimme sie aus ihren Gedanken riß. Hastig wischte sie sich über die Wangen, um auch die letzten Spuren ihrer Tränen zu entfernen. Tommy sah höflich zur Seite, doch ein halb besorgtes, halb amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen.

"Nein", gab sie zu, erntete dafür einen überraschten Blick von ihrem Ex-Geliebten. Er setzte sich neben sie und sah sie erwartungsvoll an. Miss Parker machte eine unwillige Geste mit ihrem Kopf, ließ ihren Blick für einen Moment aus dem Fenster des Jets und über die Wolkenberge unter ihnen schweifen. Während der letzte zwei Tage hatte sie viel über alles - besonders über ihre Begegnung mit Jarod in New York - nachgedacht, doch nun war sie diese Grübeleien leid und hatte beschlossen, mit der Bewältigung ihrer Gefühle zu warten, bis sie in Tommy Tanakas Heimat angekommen war. "Ich habe mich gerade von einem alten Freund verabschiedet. Für immer, wie es scheint."

"Das dürfte Sydney nicht gefallen haben", vermutete Tommy, während er ganz leicht an den Fingern ihrer rechten Hand zupfte, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt zu lenken. Ein widerwilliges Lächeln breitete sich auf Miss Parkers Lippen aus.

"Der Lauscher an der Wand, Tanaka", erinnerte sie ihn, dann drehte sie den Kopf und sah ihn an. Seine braunen Augen leuchteten, doch der Ausdruck in ihnen war undeutbar für sie.

"Oh, aber ich habe nicht gelauscht. Ich habe nur zufällig gehört, wie du seinen Namen erwähnt hast", erwiderte er mit einem warmen Lächeln, das noch an Intensität zunahm, als er fortfuhr. "Seit wann bin ich für dich wieder bloß Tanaka?"

Auch wenn sie es selbst nicht sehen konnte, so spürte Miss Parker doch, wie sich ein Schatten über ihr Gesicht legte. Sie schluckte.

"Du weißt von Thomas Gates?"

Tanakas Lächeln verblaßte, doch seine Augen verloren nichts von ihrer Wärme.

"Natürlich. Entschuldige, daran hatte ich nicht gedacht", murmelte er in einem Tonfall, der sie früher immer beruhigt hatte - er erinnerte sie an das leise Tropfen von Regen auf einem Ziegeldach.

Miss Parker holte tief Luft.

"Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht Tommy nennen - nicht mehr. Das würde zu viele... Erinnerungen wachrufen."

Er drückte ganz leicht ihre Hand, brachte damit sein Verständnis zum Ausdruck. Seine Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Grinsen.

"Ich fürchte allerdings, ich werde dir nicht erlauben können, mich Tanaka zu nennen - die Leute glauben sonst noch, wir stünden uns nicht nahe", sagte er in einem verschwörerischen Tonfall.

Fast gegen ihren Willen lachte Miss Parker leise, dann verzog sie in gespielter Überlegung ihr Gesicht und tat, als denke sie angestrengt nach.

"Hmmm, aber wie soll ich dich statt dessen nennen?"

Tanaka öffnete den Mund, um einen Vorschlag zu machen, doch Miss Parker schüttelte lächelnd den Kopf. Für den Moment waren alle trüben Gedanken vergessen, und sie nahm Tommys Hand zum Zeichen ihres Dankes in ihre Hände, drückte sie sanft.

"In Anlehnung an alte Zeiten werde ich dich... Okami nennen. Einverstanden?" Sie neigte ihren Kopf leicht zur Seite und wartete seine Antwort ab, obwohl das Leuchten seiner Augen ihr eigentlich schon Einverständnis genug war.

Der Mann neben ihr gab sich den Anschein zu überlegen, doch auf seinen Lippen lag bereits das wölfische Grinsen, das ihm seinen Spitznamen eingetragen hatte. Er sah ihr tief in die Augen, schien etwas darin zu suchen. Nach ein paar langen Sekunden nickte er schließlich.

"In Ordnung", meinte er und dann, nach einem Herzschlag des Zögerns: "Aber nur, wenn ich dich dafür kon-yakunin nennen darf."

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Miss Parker die Übersetzung aus den Tiefen ihres Gedächtnisses hervorgeholt hatte. Das konnte er doch wohl nicht ernst meinen?!

"Verlobte?" vergewisserte sie sich. Tanaka nickte ernst.

"Hai, sou desu."

Miss Parker war lange Zeit sprachlos, starrte Tanaka einfach nur an. Mal ganz abgesehen von der Wahl des Zeitpunktes kam dieser 'Antrag' doch sehr überraschend. Nun, es stimmte, sie hatten vor langer Zeit einmal von der vagen Möglichkeit einer Heirat gesprochen, aber eigentlich war ihnen beiden klar gewesen, daß die Beziehung zwischen ihnen nicht mehr gewesen war als eine Affäre. Eine leidenschaftliche und erfüllende Affäre, ja, aber nicht ganz die richtige Basis für ein gemeinsames Leben. Oder vielleicht doch?

Tommy Tanaka schien ihr Schweigen zu verstehen. Sanft löste er seine Hand aus den ihren und erhob sich.

"Antworte noch nicht. Sieh es als... eine Möglichkeit für die Zukunft", sagte er lächelnd, dann ging er in den rückwärtigen Bereich des Jets.

Miss Parker sah ihm nach und schüttelte ganz leicht den Kopf, ungläubig und fassungslos. Das war wirklich typisch Tommy Tanaka; er machte immer dann seinen Zug, wenn niemand damit rechnete.

Während sie über die Worte ihres Freundes nachdachte, schlich sich ein Lächeln auf Miss Parkers Lippen, zeugte davon, daß sie zum ersten Mal seit langem weder an das Centre noch an all die Personen dachte, die verhinderten, daß ihre Zukunft endlich den Platz ihrer Vergangenheit einnahm.
Part 18 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Tut mir leid, Leute - ich weiß, ich hab mir mal wieder ganz schön Zeit gelassen mit diesem Teil. ^_^;; Dafür sind's aber auch über sechzehn Seiten geworden. Wann ich den nächsten Teil in Angriff nehmen kann, weiß ich noch nicht so genau (hab ich schon die Klausuren erwähnt?! *g*), aber richtet euch lieber auf eine längere Wartezeit ein. Falls ich doch früher fertig werden sollte, seid ihr dann wenigstens angenehm überrascht. :)

Noch immer keine Entwarnung für die Shipper - aber nur Geduld, ihr kommt auch noch auf eure Kosten. So langsam geht KM in den Endspurt; es fehlen jetzt nur noch drei Teile, dann werdet ihr zum letzten Mal die Worte 'Fortsetzung folgt' lesen... Ich wünsche euch wie immer viel Spaß beim Lesen!!

Obwohl momentan nicht nur bei mir Zeit eine Mangelware ist, kann ich mich doch auf meine treuen Betafeen verlassen - ich danke euch, ihr Lieben!

Glossar (japanisch): Gaijin = Ausländer, Außenstehender
Koibito = Liebling, Geliebte(r), Verlobte(r)
-chan = Anhängsel an den Namen, das Erwachsene gegenüber Kindern verwenden
-san = Anhängsel an den Namen, das Kinder gegenüber Erwachsenen bzw. Erwachsene untereinander verwenden
Okâsan = Mutter (Anrede)

***

If the sky opened up for me,
And the mountains disappeared,
If the seas ran dry, turned to dust
And the sun refused to rise
I would still find my way,
By the light I see in your eyes.
The world I know fades away
But you stay

-- Coco Lee, A Love Before Time (Crouching Tiger, Hidden Dragon)
lyrics by James Schamus



Kostbare Momente
Teil 18

von Miss Bit






Goldene Sonnenstrahlen tanzten über die ruhige Oberfläche des Lake Catherine; kein Lüftchen regte sich über der glatten Wasserfläche. Der Abend neigte sich seinem Ende zu, als Major Charles in der Küche von Ben Millers Pension saß und über die Ergebnisse der Ermittlungen nachdachte, die sein Sohn und er seit nun schon vier Wochen durchführten. Niemand von ihnen hatte gedacht, daß dieser Fall soviel Zeit in Anspruch nehmen würde; er selbst am allerwenigsten.

Der Major schloß die Augen und rieb sich den verspannten Nacken. Sein schlechtes Gewissen regte sich mal wieder. Wie es passiert war, wußte er nicht mehr so genau, aber ganz langsam hatten sich ihre Ermittlungen in eine Art Urlaub verwandelt. Der Druck der Eile war immer mehr verschwunden - Miss Parker war noch immer unauffindbar und hatte sich somit erfolgreich dem Zugriff der Justiz entzogen -, und schließlich hatten sie die Arbeit etwas schleifen lassen.

Charles öffnete die Augen wieder und sah sich in der geräumigen Küche um. Sie wohnten seit etwa drei Wochen hier. Die Polizei hatte die Untersuchung abgeschlossen und die Pension Bens Cousin aus Connecticut überlassen - glaubte sie jedenfalls. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf die Züge des Majors. Es war schon erstaunlich, wie leicht selbst Staatsbeamte sich von ein paar kunstfertig gefälschten Papieren täuschen ließen.

Während sein Blick wieder zurück aus dem Fenster glitt, wandte der Major seine Gedanken wieder der Untersuchung von Bens Ermordung zu. Die erste Woche hatten sie damit verbracht, sich die Ermittlungsakten der Polizei zu besorgen, doch die wenigen Erkenntnisse, die sie daraus gewonnen hatten, waren nicht besonders hilfreich gewesen. Die ermittelnden Beamten waren immer wieder in Sackgassen geraten - das Centre hatte unbestreitbar seine Finger im Spiel, und diese Tatsache machte es den Behörden fast unmöglich, Licht ins Dunkel dieses Falls zu bringen.

Der Major runzelte die Stirn. Das Centre. Selbst der bloße Gedanke an diese Organisation erfüllte ihn mit einer Mischung aus Schrecken und Zorn. Doch wie er es auch drehte und wendete, sein Gefühl sagte ihm, daß die Spur des Mörders sie nach Blue Cove, Delaware führen würde. Aufgrund dieser Intuition hatten Jay und er ihre Bemühungen in der zweiten Woche auf das Centre konzentriert. Sie waren über das Internet in das lokale Netzwerk des Centres eingedrungen und hatten dort nach Informationen gesucht, die in irgendeinem Zusammenhang zu Ben Miller stehen könnten. Es hatte sie nicht sehr überrascht, daß sie nichts dergleichen gefunden hatten. Wer auch immer dieses verabscheuungswürdige Verbrechen begangen hatte, hatte seine Spuren sehr gut verwischt. Allein diese Tatsache ließ es in den Augen des Majors schon wahrscheinlich erscheinen, daß der Täter aus dem Centre stammte.

Noch immer in seine Gedanken versunken, stand der Major auf. Müde rieb er sich das Gesicht. Er brauchte dringend etwas Schlaf. In den letzten Nächten hatte er kaum ein Auge zugemacht. Natürlich beschäftigte ihn die Verwicklung des Centres in diese Sache enorm, aber es gab noch etwas anderes, das ihm den Schlaf raubte: Jarod hatte endlich eine Spur von Margaret und Emily gefunden, die offenbar in der Zwischenzeit wieder zueinander gefunden hatten. Möglicherweise würde ihre Familie bald wieder vollständig sein, und diese Aussicht versetzte den Major in erwartungsvolle Anspannung.

Er verließ die Küche und ging hinauf in den ersten Stock, um nach Jay zu sehen. Der Junge hatte sich in einem der leerstehenden Gästezimmer ein kleines, behelfsmäßiges Labor eingerichtet und untersuchte dort Proben von den Beweisstücken, die die Polizei am Tatort gesammelt hatte. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der junge Pretender einer Blutprobe von Ben Miller, die Major Charles zusammen mit einer Kopie des Obduktionsberichts aus der Gerichtsmedizin 'ausgeliehen' hatte. Charles war sich nicht ganz sicher, warum ausgerechnet diese Probe Jays Aufmerksamkeit so sehr fesselte, aber er vertraute den Instinkten seines Sohnes, wußte er doch um die speziellen Talente, die in Jay steckten.

Während er sich bemühte, ein Gähnen zu unterdrücken, klopfte er leicht an die angelehnte Tür von Jays improvisiertem Labor, um dem Jungen sein Kommen anzukündigen. Dann drückte er die Tür weit genug auf, um eintreten zu können. Eddy, der auf einem Läufer neben dem großen Tisch lag, hob nur kurz den Kopf und wedelte ein paarmal halbherzig mit dem Schwanz, dann schloß er die Augen wieder und setzte sein Nickerchen fort. Jay drehte sich zu seinem Vater um und sah ihn mit leuchtenden Augen an. Der Major verkniff sich ein Grinsen; auf ihn wirkte es noch immer komisch, wie Jay da vor all den Kolben, Reagenzgläsern und Glasgefäßen saß - fast wie ein normaler Junge, der sich voller Begeisterung seinem ersten Chemiebaukasten widmete.

"Sie dir das an, Dad", sagte Jay, und Charles hörte ihm deutlich seine Begeisterung an. Der Junge zog den Laptop zu sich heran, der bis eben am äußersten Rande des Tisches gestanden hatte, und drehte den Bildschirm so, daß der Major erkennen konnte, woran Jay gerade arbeitete.

"Sieht kompliziert aus", brummte Charles und zog die Brauen hoch. Jay blinzelte verständnislos, dann murmelte er eine Entschuldigung, als ihm aufging, daß sein Vater wohl nichts mit der komplexen chemischen Verbindung anzufangen wußte, die auf dem Bildschirm zu sehen war. Eine leichte Röte überzog das Gesicht des Jungen. Der Major legte ihm eine Hand auf die Schulter, forderte ihn damit wortlos auf, seine Entdeckung zu erklären.

"Ich habe noch mal die Blutprobe untersucht, die du vor ein paar Tagen... organisiert hast. Irgend etwas daran hat mir keine Ruhe gelassen. Jetzt weiß ich, was es war", erklärte Jay und sah lächelnd auf das Ergebnis seiner Nachforschungen.

"Als ich noch im Centre gelebt habe, hatte ich unter anderem Unterricht in Chemie", fuhr er dann ganz unbefangen fort, doch Charles zuckte bei der Erwähnung des Centres innerlich zusammen. "Mein Lehrer hieß Dr. Auberon, und er arbeitete eigentlich als Chemiker in der Forschungsabteilung des Centres. Zu dem Zeitpunkt, als er mit meinem Unterricht begann, arbeitete er gerade an einem Projekt namens 'Verity'. Nach anfänglichen Erfolgen kam er allerdings nicht mehr weiter, also hat er mich nach ein paar Wochen zu seinem Assistenten gemacht. Gemeinsam haben wir dann eine Woche später den Durchbruch erzielt."

Der Major brummte noch einmal, doch diesmal brachte er damit nur zum Ausdruck, daß er verstanden hatte, worauf Jay hinauswollte.

"Verity - ein passender Name für ein Wahrheitsserum, habe ich recht?" erkundigte er sich bei seinem Sohn. Jay nickte heftig.

"Stimmt, Dad. Ist mir allerdings damals gar nicht aufgefallen", gab er grinsend zu. Sein Vater beugte sich ein wenig vor, um die chemische Verbindung auf dem Bildschirm genauer zu untersuchen. Er verstand nicht besonders viel von Chemie, aber er konnte sehen, daß diese Verbindung aufgrund ihrer Zusammensetzung erstaunliche Eigenschaften besitzen mußte.

"Und du hast Spuren davon in Bens Blut gefunden?"

Der Ausdruck auf Jays Gesicht verdunkelte sich etwas. Erneut nickte er.

"Zunächst habe ich die Spuren übersehen", sagte er, und er schien deswegen verärgert über sich selbst zu sein. Der Major drückte kurz Jays Schulter. "Das Serum wurde so konstruiert, daß es bei möglichst langer Wirkung trotzdem praktisch nicht nachzuweisen ist - es sei denn, man weiß genau, wonach man suchen muß. Nach ein paar Stunden zerfällt die Verbindung in Stoffe, die alle auch von Natur aus im Körper eines Menschen vorkommen. Nur die Konzentration dieser Stoffe ist dann leicht erhöht, aber das auch nur in den ersten Stunden nach der Zuführung des Serums."

"Ich nehme mal an, daß sich das Serum zwar noch zersetzen, aber daß durch Bens Tod die Konzentration dieser Stoffe nicht mehr auf das Normalmaß sinken konnte", vermutete Charles. Er brachte es nicht fertig, in diesem Zusammenhang von einem glücklichen Umstand zu sprechen, auch wenn es so war.

"Genau", bestätigte Jay, und das aufgeregte Leuchten kehrte in seine Augen zurück. "Dad, ist dir klar, was das bedeutet?"

"Ja, Sohn", antwortete der Major und seufzte. Jemand aus dem Centre hatte Ben Miller vor seinem Tod ein Wahrheitsserum injiziert und ihn befragt; danach hatte er Miller dann auf bestialische Weise ermordet. "Es bedeutet, daß unsere Ermittlungen uns als nächstes nach Blue Cove zurückführen werden."

Jay schien diese Aussicht nicht allzusehr zu beunruhigen, doch den Major bedrückte sie dafür um so mehr. Charles nahm seine Hand von Jays Schulter und ging hinüber zum Fenster. Einmal mehr sah er hinaus auf den Lake Catherine, den die untergehende Sonne mittlerweile blutrot gefärbt hatte. Er spürte, wie Jay neben ihn trat und nach seiner Hand griff.

"Mach dir keine Sorgen, Dad", sagte er leise, aber im Brustton der Überzeugung, "wir schaffen das schon."

Charles wandte den Blick ab von der glitzernden Wasseroberfläche, die ihm wie ein gespenstisches Omen erschien, und sah hinunter auf seinen Sohn. Eigentlich sprach nichts dagegen, den Optimismus seines Sohnes zu teilen. Nur ein kleiner Rest von Vorsicht verblieb in ihm, warnte ihn mit einem drängenden Wispern, die Gefahr nicht zu unterschätzen, die von Raines und seinen Spießgesellen ausging.

"Du hast recht, Sohn", antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. Sie würden noch den allabendlichen Anruf von Jarod abwarten, sich mit Sydney in Verbindung setzen und dann am nächsten Morgen aufbrechen, um sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Nur so würden sie eine Chance haben, dem Mörder endlich auf die Spur zu kommen und Beweise zu finden, die das Centre an sichereren Orten als seinem Computernetzwerk versteckt hielt. "Wir werden es schaffen."

Ob sein letzter Satz mehr an sich selbst oder an Jay gerichtet war, vermochte der Major nicht zu sagen, doch er glaubte mit aller Kraft daran. Nicht nur der Beweis von Miss Parkers Unschuld hing am Erfolg ihres Unternehmens - wenn sie das Centre erst einmal betreten hatten, würde auch ihre eigene Zukunft an einem seidenen Faden hängen.

***

Regen prasselte gemächlich auf das flache Ziegeldach des langgestreckten, geduckten Gebäudes, das mit seiner Umwelt zu verschmelzen schien. Der frische Geruch von regenerfüllter Luft, vermischt mit dem Duft von Lotus und Jasmin, wehte durch die halbgeöffnete Tür ins Schlafzimmer. Miss Parker seufzte wohlig und streckte sich auf dem niedrigen Futonbett aus. Aus halbgeschlossenen Augen sah sie herüber zu dem Mann, der an dem einzigen anderen Möbelstück im Zimmer saß, einem antiken Sekretär, und dort einen Brief schrieb. Er schien ihren Blick auf sich zu spüren, denn er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein Lächeln, das sie mit einem verheißungsvollen Kribbeln erfüllte.

"Was machst du?" erkundigte sich Parker, ihre Stimme nicht mehr als ein Murmeln. Ihr Blick ruhte auf Tanakas nacktem Oberkörper, und er war sich dieser Tatsache offensichtlich bewußt, denn sein Lächeln wuchs in die Breite, strahlte nun nicht mehr nur Erheiterung aus, sondern auch noch etwas anderes, das das Kribbeln in Miss Parkers Körper verstärkte.

"Ich bringe mich bei einem alten Freund in Erinnerung", erklärte Tanaka und schrieb weiter. Für ein paar Sekunden war das leise Kratzen des Füllers das einzige Geräusch außer dem sanften Klopfen des Regens auf dem Dach, dann beendete Tanaka den Brief und legte das Schreibgerät zur Seite. Er drehte sich ganz zu Miss Parker, so daß sie sich nicht länger nur mit seinem Profil zufriedengeben mußte.

"Du legst noch immer sehr viel Wert darauf, Kontakt zu deinen Freunden zu halten, hm?" fragte Miss Parker und stützte ihren Kopf auf ihre Hand.

"Kommt ganz auf die Freunde an", gab Tanaka grinsend zurück, doch dann wurde er für einen Moment ernst. "Das hier ist geschäftlich." Er sah erst auf den nun fertigen Brief und warf dann einen bedeutungsvollen Blick auf seinen verstümmelten kleinen Finger. Miss Parker hob die Brauen.

"Merkwürdig", sagte sie, "ich dachte, du würdest Urlaub machen. Aber kaum schlafe ich für ein paar Minuten ein..." Sie ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen. Um Tanakas Mundwinkel zuckte es.

"Was du für ein paar Minuten hältst, waren fast fünf Stunden, Koibito." Er lächelte nun wieder. "Ich habe dich beobachtet."

"Beim Schlafen?"

"Hai."

Miss Parker lächelte. Das hatte er früher schon getan. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, über ihren Schlaf zu wachen. Als sie ihn vor vielen Jahren nach dem Grund dafür gefragt hatte, hatte er ihr erklärt, daß ein Mensch im Schlaf vieles von sich verriet, das seine Umwelt sonst nie von ihm zu sehen bekam. Zunächst hatte sie dieser Gedanke ein wenig beunruhigt, aber damals wie heute fühlte sie, daß alle ihre Geheimnisse bei ihrem Liebhaber sicher waren.

"Das ist interessant", meinte sie und sah tief in Tanakas dunkle Augen, hielt seinen Blick mit dem ihren fest, "denn ich habe gar nicht geschlafen."

Wenn sie erwartet hatte, daß Tanaka durch diese Enthüllung auch nur im geringsten überrascht sein würde, so wurde sie nun enttäuscht. Er nickte bloß.

"Ich weiß. Aber du hast so entspannt ausgesehen, daß ich dich trotzdem nicht stören wollte."

Sie lachte leise und schüttelte den Kopf.

"Eines Tages, Okami, wird es mir noch gelingen, dich zu überraschen."

"Leere Versprechungen, Parker, leere Versprechungen", erwiderte Tanaka und bewies gute Reflexe, als er rechtzeitig dem Kissen auswich, das sie nach ihm geworfen hatte. Lachend stand er auf und hob das Kissen auf, dann machte er ein paar Schritte auf das Bett zu. Noch immer ein paar Meter von ihr entfernt blieb er stehen, das Kissen in der Hand, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. Die tiefe Emotion in seinem Blick ließ auch Miss Parker ernst werden; Tanakas plötzliche Ernsthaftigkeit verunsicherte sie ein wenig.

"Das ist unfair, Okami", wisperte sie. "Du steckst so voller Überraschungen für mich."

Ein eigenartig Ausdruck huschte über Tanakas Gesicht, doch er war so schnell wieder fort, daß Miss Parker nur eine undeutliche Mischung aus Schmerz und Mitgefühl zu erkennen glaubte. Tanaka überbrückte die Distanz zwischen ihnen und kniete sich auf den Rand des Bettes, nur eine Armeslänge von ihr entfernt. Er legte das Kissen zurück ans Kopfende des Bettes, den Blick gesenkt. Brauchte er eine Entschuldigung, um für einen Moment ihrem Blick auszuweichen?

Als er sie wieder ansah, hielt Miss Parker unwillkürlich den Atem an. Sie spürte, daß gerade etwas sehr Wichtiges in diesem Raum vor sich ging; eine Veränderung kündigte sich an, doch sie wußte nicht, ob sie sich vor ihr fürchten oder sie begrüßten sollte.

Tanaka streckte die Hand aus und griff nach ihrer freien Hand. Sanft hielt er ihre Finger umschlossen, einen undefinierbaren Ausdruck in den Augen.

"Das liegt daran, Parker", antwortete er auf ihre Äußerung, die schon eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen schien, "daß ich dich seit langem in meinem Herzen trage. Wo du auch warst, was du auch getan hast in den letzten Jahren, wie sehr du dich auch verändert haben magst, ich kenne dich. So wie du auch mich kennen könntest, wenn du es zulassen würdest."

Seine Worte bewegten sie, auch wenn sie sich weigerte, sie als die Wahrheit anzuerkennen. Was er da sagte, klang so, als würde sie ihn nicht lieben, und das stimmte einfach nicht. Sie hatte ihn geliebt, seit sie ihn kannte, mal als Freund, mal als ihren Liebhaber. Doch sie konnte verstehen, daß er nun daran zweifelte. Seit sie vor fast vier Wochen hier angekommen war, hatte sie ihm nicht ein einziges Mal gesagt, daß sie ihn liebte. Nicht einmal in der intimsten aller Umarmungen, als ihre Körper miteinander vereint gewesen waren, als ihre Leidenschaft alle Schranken in ihr niedergerissen hatte, waren die Worte über ihre Lippen gekommen. Ein Teil von ihr wußte, woran das lag, doch sie ignorierte ihn - auch jetzt, an diesem wichtigen Wendepunkt ihrer Beziehung. Eine sehr leise, dunkle Stimme flüsterte ihr drängende Warnungen zu, doch sie hörte ihr nicht zu.

Es gab einiges, was sie ihm zur Antwort geben wollte, doch sie entschied sich für den sicheren Weg.

"Ich habe nachgedacht", sagte sie ausweichend, ihren Blick jedoch noch immer fest auf seine Augen gerichtet. Vielleicht konnten ihm ihre Augen sagen, was sie nicht über die Lippen bringen konnte. Etwas flackerte in Tanakas Augen auf; er schien etwas sagen zu wollen, aber hielt sich im letzten Moment davon ab. Statt dessen nickte er einfach.

"Über unsere Verlobung", fuhr sie fort. Tanakas Augen weiteten sich etwas. Er hatte lange auf diesen Moment - auf ihre Antwort - warten müssen.

"Ich glaube nicht, daß...", begann sie, doch er unterbrach sie, indem er einen Finger an ihre Lippen legte.

"Du willst ablehnen", stellte er fest. "Ich möchte dich bitten, mir zuerst zuzuhören."

Miss Parker holte tief Luft. Er hatte recht; sie hatte ihm wirklich sagen wollen, daß sie ihn nicht heiraten konnte. Obwohl sie es durchaus wollte. Nur gab es da etwas, das sie zurückhielt. Nicht ihre Trauer um Tommy. Nicht ihre Gefühle für Jarod. Angst. Schlichte, nackte Angst. Wieder versuchte die dunkle Stimme, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken - vergeblich.

In den letzten Wochen hatte sie sehr viel Zeit gehabt, um über alles nachzudenken. Die Menschen, die sie verloren hatte: ihre Mutter, Tommy, Ben. Sie hatte sich mit ihrer Trauer auseinandergesetzt und glaubte nun, sie überwunden zu haben. Doch statt des Gefühls der Erleichterung, das sie erwartet hatte, war da nichts als Leere in ihr. Als wäre etwas nicht an seinem Platz; als fehle ihr ein Antrieb, der sie wieder zurück ins Leben bringen würde.

"Parker?"

Sie blinzelte und sah überrascht in Tanakas Gesicht.

"Entschuldige", murmelte sie und drückte leicht seine Hand. "Ich war nur für einen Moment abgelenkt."

Tanaka nickte; das Verständnis in seinem Blick gab Miss Parker nicht nur Halt, sondern erfüllte sie auch mit einem angenehmen Gefühl der Wärme.

"Schon gut", meinte er, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Er schwieg für einen Augenblick, schien seine Gedanken zu sammeln.

"Eigentlich wollte ich dir das alles schon viel früher sagen", fing er dann an, sein Tonfall so sanft wie das leise Prasseln des Regens, "aber ich habe mir eingeredet, daß ich deine Entscheidung nicht beeinflussen wollte. Wie überaus dumm von mir! Natürlich möchte ich deine Entscheidung beeinflussen; ich möchte, daß du meine Frau wirst. Wirklich, Parker, ich meine es ernst. Das ist nicht nur eine Laune von mir. Und es hat auch nichts damit zu tun, daß mein Vater mich nun schon seit Jahren drängt, mir endlich eine Frau zu suchen."

Seine trockene Bemerkung entlockte Miss Parker ein Lächeln.

"Natürlich nicht", meinte sie mit leicht gehobenen Brauen, doch dann wurde sie ernst. "Ich kann nicht wirklich glauben, daß deine Familie mich - eine Gaijin - akzeptieren wird."

Tanaka schnaubte.

"Meinst du das etwa ernst? Mein Vater hätte dich sicher selber gefragt, wenn er nicht gerade erst wieder geheiratet hätte", witzelte er, doch dann wurde auch er ernst. "Traditionen sind meiner Familie natürlich sehr wichtig, da hast du recht. Aber mein Vater mag dich. Sogar sehr gern. Und das gilt auch für Miyako. Was den Rest der Familie angeht - sie mögen, wen mein Vater mag."

Parker seufzte leise. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, langsam begannen Tanakas Worte, vor ihr ein angenehmes Bild der Zukunft entstehen zu lassen. Eine zweite Stimme gesellte sich der ersten hinzu; eine kleine, helle Stimme. Noch immer lagen beide von ihnen außerhalb von Parkers Wahrnehmungsbereich. Als sie schwieg, fuhr Tanaka leise, aber eindringlich fort.

"Erinnerst du dich noch an das zweite Jahr, in dem wir zusammen waren? Meine Mutter starb, und du... warst der einzige Mensch, mit dem ich über meine Trauer reden konnte. Du warst mir in dieser Zeit näher als jedes Mitglied meiner Familie - Miyako ausgenommen, aber sie war damals noch zu jung und zu sehr mit ihrer eigenen Trauer um unsere Mutter beschäftigt, um mir Trost zu spenden. Wenn ich dich damals nicht gehabt hätte... Wer weiß, was passiert wäre."

Er ließ ihre Hand los, stand auf und ging hinüber zum Schreibtisch. Nachdem er dort etwas aus einer der Schubladen gezogen hatte, kehrte er zu ihr zurück und kniete sich wieder neben sie. Dann streckte er seine Hand aus, so daß sie den Ring sehen konnte, der darin ruhte.

"Ich möchte, daß du ihn annimmst. Ich möchte, daß du mich annimmst. Heirate mich, Parker."

Es war nicht unbedingt der romantische Antrag, den sie sich als Mädchen und später als junge Frau erträumt hatte, aber er berührte sie nichtsdestotrotz. Etwas überrascht registrierte sie, wie sich Widerstand in ihr regte. Es schien ihr, als könne sie plötzlich zwei Stimmen hören, die miteinander um die Vorherrschaft rangen - mal obsiegte die eine, dann die andere der beiden.

"Du willst also eine Vernunftehe?" fragte sie ihn. Er sah sie fragend an. Miss Parker beschloß, reinen Tisch zu machen und ihm dann die Entscheidung zu überlassen. "Ich weiß nicht, ob ich dich... liebe. Nicht auf die Weise, wie du es dir wünschst. Vielleicht solltest du dir lieber jemand anderen suchen - eine Frau, die du liebst und die deine Gefühle erwidert."

Die Worte klangen wie Hohn in ihren Ohren. Was redete sie da eigentlich? Sie wußte, daß sie ihn liebte! Wieso fühlte sie das eine und sagte das andere? Unter all dem Schmerz und der Trauer liebte sie ihn; sie spürte es, wenn sie in seinen Armen lag, wenn er sie küßte, wenn sie miteinander schliefen oder wenn sie einfach nur gemeinsam im Garten spazieren gingen.

Er schien ihre innere Zerrissenheit zu erkennen.

"Ich weiß, daß dein Herz dir ein Rätsel ist", antwortete er. "Aber warum sollte ich suchen, was ich schon gefunden habe?"

Seine Worte ließen ihr den Atem stocken. Konnte er etwas in ihr sehen, für das sie blind war? Sie wünschte es sich, aber sie konnte es nicht glauben. Parker schüttelte leicht den Kopf. Es war Zeit für eine Entscheidung. Wenn Tanaka trotz ihrer Bedenken noch immer bereit war, mit ihr alt zu werden, dann würde sie ihm diesen Wunsch erfüllen. Erleichterung erfüllte sie; sie hatte sich entschieden, und die Aussicht, hier in Japan an Tanakas Seite zu leben, war durchaus angenehm.

'Nur angenehm?' wisperte die dunkle Stimme in ihr. 'Du gibst dich mit angenehm zufrieden? Wach doch endlich auf!'

"Ich werde dich heiraten - aber nur unter einer Bedingung", sagte sie, weigerte sich, ihrer inneren Stimme zuzuhören. Tanaka sah sie aufmerksam an.

"Was soll ich tun?"

"Versprich mir, daß... daß du nicht vor mir sterben wirst."

Er starrte sie an; sie starrte zurück. Sie wußten beide, wie sinnlos ein solches Versprechen sein würde. Es war ein Versprechen, von dem niemand wußte, ob er es erfüllen konnte. In Tanakas Gesicht arbeitete es. Ebenso wie sie schien er zu wissen, daß ihr Aussage nicht wirklich eine Bitte an ihn war. Es war eine Warnung. Die Männer an Miss Parkers Seite neigten dazu, schlechte Erfahrungen mit dem Leben zu machen. Eine Hochzeit mit ihr mochte sein Todesurteil bedeuten, früher oder später.

Tanaka schien mit sich zu ringen. Sie sah in seinen Augen, daß er ihr dieses Versprechen gerne geben würde; er wußte, daß sein Tod sie endgültig zerstören würde. Zuviel Schuld lastete bereits auf ihr; noch einen Menschen zu verlieren, nur weil er sie liebte, würde sie nicht ertragen.

Miss Parker wartete seine Antwort nicht ab. Er wußte nun um das Risiko, auf das sie sich beide einließen, und sie kannte ihn gut genug um zu wissen, daß er sich dementsprechend verhalten würde. Wortlos streckte sie ihm ihre Hand entgegen, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen.

"Bist du sicher?" fragte er, unterdrückte Freude in den Augen. Sie nickte, und er steckte ihr den Ring an den Finger. Einen Augenblick sahen sie beide auf ihre Hand, jeder verloren in seinen eigenen Gedanken, dann beugte sich Tanaka zu ihr herüber und zog sie sanft an sich. Er küßte sie, und als die Leidenschaft erneute in Miss Parker aufflammte, vertrieb sie für den Moment die Leere und alle Gedanken an die Zukunft aus ihr. Für den Moment vertraute sie allein der hellen Stimme in ihr.

***

Es war kalt in dem kleinen Appartement im dritten Stock. Eines der Fenster im Wohnzimmer stand offen, und ein kühler Wind wehte in den Raum. Jarod saß auf der Couch in der Mitte des Zimmers, seinen Mantel eng um sich geschlungen. Er sah auf die Uhr an seinem Handgelenk und gähnte. Nach diesem Treffen mußte er sich dringend mal wieder etwas Schlaf gönnen, Alpträume hin oder her.

Der Pretender sank etwas tiefer in die Couch. Wenn er schon so lange hier wartete, dann konnte er es wenigstens auch bequem haben. Ein erneutes Gähnen ließ ihn in seiner Aufmerksamkeit nachlassen und so überhörte er das leise Geräusch, mit dem sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Erst der Klang leiser Schritte im Flur ließ ihn aufhorchen. Er lächelte schwach, als er hörte, wie der Wohnungsinhaber sich bemühte, möglichst lautlos seine Waffe zu ziehen und zu entsichern. Einen Augenblick später ging das Licht im Wohnzimmer an.

"Keine falsche Bewegung", knurrte Sam. Jarod hob langsam die Hände über den Rücken der Couch, so daß sein unfreiwilliger Gastgeber sie sehen konnte. Dann stand er auf und drehte sich zu Miss Parkers Sweeper um.

"Hallo, Sam", begrüßte er den Mann.

"Jarod."

Sam sah ihn ein wenig erstaunt an, dann ließ er die Waffe sinken, sicherte sie und steckte sie wieder ins Holster.

"Was zum Teufel wollen Sie hier?" fragte er den Pretender. Jarod grinste schwach.

"Falscher Text, Sam. Sie sollten eigentlich sagen: Wie dumm von Ihnen hierherzukommen, Jarod. Ich werde Sie ins Centre zurückbringen."

Der Sweeper stieß entnervt die Luft aus.

"Können Sie gerne haben, Jarod", sagte er. "Oder Sie beantworten mir einfach meine Frage und verschwinden dann wieder."

"Einen schweren Tag im Centre gehabt?" erkundigte sich Jarod in einem leichten Tonfall. Für einen Moment sah Sam aus, als wolle er seine Waffe wieder ziehen.

"Als wüßten Sie das nicht! Seit Miss Parker weg ist, darf ich für Lyle den Laufburschen spielen. Und dann kommen Sie und brechen immer wieder in den Mainframe des Centres ein. Sechsmal in den letzten vier Wochen. Lyle ist sauer. Wirklich sauer. Jetzt raten Sie mal, an wem er das ausläßt."

In Sams Augen funkelte es angriffslustig. Jarod begriff, daß dem Sweeper der Sinn nicht nach leichter Konversation stand.

"Sieht so aus, als ob er seine Schwester vermißt, hm?"

"Nicht so sehr wie Sie sie vermissen, würde ich sagen", gab Sam ungerührt zurück, und Jarod sah ihn überrascht an. Entweder war er leichter zu durchschauen, als er bisher immer angenommen hatte, oder aber er hatte Sam unterschätzt. Beide Möglichkeiten gefielen ihm nicht besonders.

"Zuerst dachte ich, Sie würden wegen ihr in den Daten des Centres herumschnüffeln", fuhr Sam fort, nun sichtlich entspannter. Er schien die Tatsache zu genießen, daß er den Pretender erstaunt hatte. "Dann fiel mir auf, wie dumm dieser Gedanke war. Das Centre wäre im Moment der letzte Ort, an dem man eine Spur von ihr finden könnte. Also habe ich Erkundigungen eingezogen. Schon Glück gehabt mit der Familienzusammenführung?"

Jarod spürte, wie sich seine Wangenmuskeln anspannten. Die Kontrolle über dieses Treffen schien ihm langsam zu entgleiten.

"Nein", antwortete er gepreßt. "Doch dafür habe ich Hinweise auf ein Projekt von Raines gefunden, das erklären dürfte, warum meine Mutter und meine Schwester nicht schon längst wieder mit meinem Vater vereint sind."

"Ach, das ist ja interessant", sagte Sam, und in seinen Augen erkannte Jarod aufrichtiges Interesse. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Sam von seiner Entdeckung zu berichten, doch dann erinnerte er sich daran, weswegen er Miss Parkers Sweeper aufgesucht hatte. Diese Angelegenheit hatte im Moment die absolute Priorität für ihn.

"Wollen Sie gar nicht mehr wissen, warum ich hier bin?" fragte er ungeduldig. Sam verzog die Lippen zu einem Grinsen, doch das konnte nicht über die Müdigkeit in seinem Gesicht hinwegtäuschen. Er zuckte mit den Schultern.

"Ich kann's mir denken. Sie erinnern sich noch an das, was ich Ihnen bei unserem letzten Gespräch gesagt habe?"

Eigentlich war es mehr eine Aussage als eine Frage, aber Jarod nickte dennoch.

"Sie wollten mich bei unserer nächsten Begegnung ins Centre zurückschaffen. Was hat Ihre Meinung geändert?"

Ein Ausdruck puren Hasses huschte über Sams Gesicht.

"Nichts auf dieser Welt könnte mich dazu bringen, etwas zu tun, was Lyle in ein besseres Licht rückt", erklärte er knapp. Jarod verstand. Heimlich amüsiert fragte er sich einen Herzschlag lang, ob Sam ihn wohl zurückbringen würde, wenn er damit Miss Parker in ein besseres Licht rücken konnte, dann schüttelte der den Gedanken als müßig ab.

"Eine Sache, in der wir uns einig sind", stellte der Pretender ruhig fest. "Vielleicht können wir ja noch eine finden?"

Sam erwiderte Jarods fragenden Blick, einen steinernen Ausdruck auf dem Gesicht. Wenn er es darauf anlegte, konnte der Sweeper recht schwer zu durchschauen sein.

"Ich denke schon", antwortete er nach einer Weile. Dann: "Ich weiß, wo sie ist."

Jarod hielt den Atem an. Hatte er gerade richtig gehört? Er blinzelte.

"Wie bitte?"

"Warten Sie hier", wies Sam ihn an. Der Sweeper verließ den Raum, und der Pretender starrte ihm fassungslos hinterher. All seine Mühe, Miss Parker zu finden - und Sam hatte die ganze Zeit gewußt, wo sie war? Bei diesem Gedanken meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er hatte seinem Vater zwar nicht direkt versprochen, die Suche nach Miss Parker aufzugeben und sich statt dessen darauf zu konzentrieren, seine Familie zu finden, aber es hatte sich trotzdem nicht ganz richtig angefühlt, seine Anstrengungen auf beide Aufgaben zu verteilen.

"Hier."

Sam war zurückgekehrt und hielt Jarod eine schwarze Plastikbox entgegen. Der Pretender öffnete sie und fand zu seiner Überraschung ein GPS-Peilgerät darin. Ungläubig starrte er von dem kleinen Gerät zu Sam und wieder zurück.

"Das ist nicht Ihr Ernst."

Als würde er sich unter Jarods Blick plötzlich unwohl fühlen, verlagerte Sam sein Gewicht von einem Bein aufs andere.

"Was für eine Wahl blieb mir denn?" fragte er mit einem Schulterzucken, einen irgendwie trotzigen Ausdruck auf dem Gesicht. "Sie wollte fortgehen; ich konnte in ihren Augen sehen, daß sie es ernst meinte. Dazu dann noch ihre Anweisungen... Als sie mich vor ihrer Abreise in ihr Haus rief, da brachte ich eine Wanze mit. Es war nicht weiter schwer, einen geeigneten Gegenstand zu finden, an dem ich sie unauffällig befestigen konnte, als sie mich für ein paar Momente allein ließ."

Jarod fühlte sich, als wäre er gerade mit dem Kopf direkt in eine massive Wand gerannt.

"Miss Parker... trägt eine Wanze mit sich herum? Seit mehr als einem Monat?"

"Das sagte ich doch gerade, oder nicht? Die Wanze befindet sich im Rahmen eines der Fotos, die sie mitgenommen hat. Ich..." Er brach ab und sah mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen auf das Peilgerät in Jarods Händen. Ein humorloses Lachen schüttelte seinen Körper für einen kurzen Moment.

"Sie wird mir die Haut abziehen, wenn sie das erfährt", murmelte er, dann sah er Jarod direkt in die Augen. "Ich habe das Gerät nur einmal eingeschaltet, um zu überprüfen, ob es funktioniert. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht, aber ich denke mal, daß Sie das ohne meine Hilfe herausfinden können."

Jarod schüttelte den Kopf.

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sam", war alles, was er für den Moment hervorbrachte. "Na ja, außer vielleicht: danke. Warum Sie mir helfen, weiß ich zwar nicht, aber das heißt nicht, daß ich nicht dankbar..."

"Ja, ja, schon gut", winkte Sam ungeduldig ab. "Sie sind es nicht, dem ich helfen will, soviel sollte Ihnen klar sein. Ich will nur, daß Miss Parker gefunden wird." Sams Gesicht verdüsterte sich. "Es gibt da einige Dinge im Centre, von denen sie nichts weiß. Dinge, um die sie sich kümmern sollte."

"Was..?" begann Jarod, doch Sam schüttelte nur den Kopf.

"Sie gehen jetzt besser. Ich habe schon viel zuviel gesagt." Er nickte mit dem Kopf in Richtung Tür, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen. Jarod sah ihn einen Augenblick lang unschlüssig an, dann nickte er Sam zum Abschied zu und machte sich mit seinem Schatz in den Händen auf den Weg zur Tür. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal zu Miss Parkers Sweeper um.

"Auch wenn Sie's nicht hören wollen: Ich danke Ihnen trotzdem. Miss Parker weiß gar nicht, wieviel sie Ihnen zu verdanken hat."

Mit diesen Worten verließ er Sams Wohnung, zum ersten Mal seit Wochen mit einem leichten Herzen und den Anfängen eines Plans im Kopf.

***

Ein leises, aber trotzdem sehr dringlich wirkendes Klopfen an seiner Bürotür riß Sydney aus seinen Gedanken. Er schloß die Akte, an der er gerade gearbeitete hatte - Raines hatte ihn erneut zu Experimenten mit Zwillingen verdonnert - und bat seinen Besucher herein. Verwundert fragte er sich, wer ihn so spät am Abend noch stören würde.

Es war Broots, der mit hochrotem Kopf und ziemlich außer Atem Sydneys Büro betrat. Der Ausdruck auf seinem Gesicht spiegelte eine Mischung aus kompletter Verwirrung, Erleichterung und Schock wider. Sydney erhob sich besorgt aus seinem Sessel. Erst jetzt fiel sein Blick auf das Blatt Papier, das Broots in der Hand hielt. Es schien sich um einen Computerausdruck zu handeln.

"Sydney, das... müssen Sie... sich ansehen", brachte Broots atemlos hervor und ließ sich auf die Couch gegenüber des Schreibtischs sinken. Seine Hände zitterten leicht.

"Broots, was ist denn los? Haben Sie neue Beweise im Fall Ben Miller gefunden?"

Der Techniker schüttelte den Kopf, und seine Augen weiteten sich leicht, als er Sydney das Blatt entgegenhielt. Er sah aus, als stünde er kurz vor einem hysterischen Anfall.

"Schön wär's", murmelte Broots. "Oh Mann, ich glaub's einfach nicht!"

Sydney begriff, daß es gar keinen Sinn haben würde, Broots noch weiter zu befragen. Er nahm seinem Freund und Kollegen das Blatt aus der Hand, drehte es herum und begann zu lesen. Zumindest versuchte er das, aber die fremdartigen Schriftzeichen ergaben keinerlei Sinn für ihn. Eine Sekunde später begriff er, daß das auch gar nicht nötig war. Sein Blick blieb an einem Schwarzweißfoto hängen, das von den Schriftzeichen völlig umschlossen war.

"Das ist ja Miss Parker!" rief er fassungslos, als er die Frau auf dem Bild erkannte. Der Mann neben ihr kam ihm ebenfalls bekannt vor... "Und das... Tommy Tanaka?"

Seine Gedanken überschlugen sich. Miss Parker war in Japan. Der Freund, von dem sie am Telefon gesprochen hatte, mußte Tanaka gewesen sein.

"Es geht ihr gut", wisperte Sydney erleichtert. "Es geht ihr doch gut, oder?" Besorgt sah er zu Broots, der leicht nickte.

"Wo haben Sie das gefunden, Broots?"

Broots schien beinahe in der Couch zu versinken.

"Erinnern Sie sich noch an das Programm, das ich mal geschrieben habe, um Jarod besser finden zu können? Der Spürhund?"

Sydney nickte, unterbrach Broots aber nicht.

"Angelo hat ein wenig daran herumgebastelt und dann im Internet nach Miss Parker gesucht. Vor einer Stunde hat er dann diesen Artikel hier gefunden, auf der Webseite einer japanischen Klatschzeitung."

Die Stimme des Technikers war immer leiser geworden; Sydney mußte sich ein wenig zu ihm vorbeugen, um seine nächsten Worte verstehen zu können.

"Ich hab's mir von Morgan aus der PR Abteilung übersetzen lassen - wissen Sie, was da steht, Sydney? Miss Parker wird in wenigen Wochen die Frau von Tommy Tanaka sein."

***

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Garten in ein fast unirdisch wirkendes Licht. Miss Parker wanderte gedankenverloren vorbei an langgezogenen Steinbassins und Zypressenhainen, bis sie über eine kleine Brücke den Teich im Zentrum des Gartens erreichte. Sie setzte sich auf eine Steinbank am Ufer des Teiches und ließ sich treiben. Der Frieden dieses Ortes erfüllte sie mit innerer Ruhe, und sie war in den letzten Wochen oft hergekommen, um über all das nachzudenken, was sie beschäftigte.

Auch heute erhoffte sie sich, Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken bringen zu können. Ihre Augen erfreuten sich an der minimalistischen und doch wunderschönen Gestaltung des Gartens, während ihr Bewußtsein damit beschäftigt war, die Ereignisse der letzten Stunden aufzuarbeiten. Ganz in Gedanken versunken betrachtete sie den Ring an ihrer Hand.

Noch vor ein paar Wochen hätte sie das alles kaum für möglich gehalten. Hier saß sie, Tausende von Kilometern von Blue Cove entfernt, verlobt mit einem Mann, der der japanischen Halbwelt angehörte und ihr einen Ort geboten hatte, an dem sie vor den unangenehmen Ereignissen in ihrer Heimat sicher war. Sie wußte, daß sie nicht wirklich alles hinter sich gelassen hatte. Die Erinnerung an Bens Tod war noch immer frisch in ihrem Gedächtnis; der Wunsch, sowohl seinen Mörder als auch den von Tommy zu finden, brannte noch immer in ihr. Doch beides war merkwürdig blaß, wirkte weniger intensiv, jetzt, da sie dem Centre den Rücken gekehrt hatte. Vielleicht bestand ja darin das Geheimnis, ihr Leben endlich in den Griff zu bekommen; vielleicht mußte sie einfach nur alles loslassen.

Loslassen - der Begriff schien ihr merkwürdig vertraut. Während sie noch in ihrer Erinnerung nach seiner versteckten Bedeutung kramte, wurde sie auf einmal von einer Bewegung abgelenkt. Etwas oder jemand war hier im Garten, ganz in ihrer Nähe.

"Hallo?" rief sie und schalt sich einen Moment später schon dafür. Sie wiederholte ihren Ruf, doch diesmal auf Japanisch. Keine Antwort. Dann, gerade als sie aufgestanden war, um sich in der Nähe etwas umzusehen, sah sie den Grund für die Geräusche auf sich zu kommen. Ein kleines japanisches Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, kam langsam über die Brücke gelaufen. Seine schwarzen Haare fielen ihm offen bis auf die Schultern, und in seinem runden Gesichtchen leuchteten zwei große, dunkle Augen. Die Kleine lächelte, als sie Miss Parker entdeckte und lief auf leicht wackeligen Beinchen auf sie zu.

"Hallo, meine Süße", begrüßte Miss Parker das Mädchen in seiner Muttersprache. "Verrätst du mir vielleicht, wer du bist?"

Das Mädchen überbrückte die letzten Meter zwischen ihnen und mußte sich für einen Moment an Miss Parkers Beine klammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Miss Parker lächelte und nahm die Kleine auf den Arm. Der vertrauensvolle Blick aus den großen Kinderaugen hatte eine merkwürdig beruhigende Wirkung auf sie.

"Akiko", sagte die Kleine klar und deutlich. Dann lächelte sie so zauberhaft, daß Miss Parker leise lachen mußte.

"Freut mich, Akiko-chan", erwiderte sie freundlich. "Ich bin Miss Parker. Sag mal, wo hast du denn deine Mama gelassen? Oder bist du hier etwa ganz allein unterwegs?"

Akiko sah sie nur groß an und gluckste vergnügt. Miss Parker überlegte. Tanaka hatte nichts davon erwähnt, daß auf dem Tanaka-Anwesen auch Kinder lebten. Vielleicht war ja heute jemand zu Besuch, der seine Tochter mitgebracht hatte? Noch während sie überlegte, was sie jetzt machen sollte, hörte sie erneut den Klang von Schritten. Sie mußte nicht lange warten, bis sie den Urheber des Geräuschs über die Brücke kommen sah.

"Miyako?" rief sie ungläubig, sobald sie die junge Frau erkannt hatte, die ihr mit langen, federnden Schritten entgegenkam. Kurz vor ihr blieb die Japanerin stehen und verneigte sich ernst, dann bedachte sie Miss Parker mit einem strahlenden Lächeln. Parker erwiderte beides.

"Hai, in Person", beantwortete Miyako Miss Parkers Frage. "Ist ganz schön lange her, nicht wahr, Parker-san?"

"Das müssen jetzt fast acht Jahre sein", bestätigte Parker und unterzog Miyako einer genauen Musterung. Wie auch als Kind schon trug die junge Japanerin die tiefschwarzen Haare zu einem langen Zopf geflochten; nur ihr Pony fiel ihr jetzt nicht mehr ganz so lang in die Stirn. Sie war fast so groß wie Miss Parker und damit ungewöhnlich hochgewachsen. Ihr Gesicht wirkte etwas blaß, aber aufgeschlossen und fröhlich wie eh und je. Erfreut über das unerwartete Wiedersehen setzte Parker die kleine Akiko vorsichtig auf dem Boden ab und schloß Miyako in die Arme.

"Du siehst wirklich wundervoll aus, Miyako", meinte sie dann und verzichtete bewußt auf das 'chan'. Miyako war jetzt eine erwachsene Frau und da erschien es Parker unpassend, sie noch immer wie ein Kind anzureden, auch wenn die andere Frau jünger war als sie selbst. Bei genauerer Betrachtung mußte Miyako jetzt ungefähr Mitte zwanzig sein, also ungefähr im selben Alter wie Miss Parker, als sie Miyakos Bruder Tommy kennengelernt hatte.

"Danke, das kann ich nur zurückgeben", erwiderte Miyako mit einem feinen Lächeln. Die Zeit mit meinem Bruder scheint dir gut zu bekommen."

Parker lachte leise.

"Ich sehe schon, dir entgeht noch immer nichts!"

Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber von Akiko unterbrochen, die mit dringlicher Miene an Miyakos Kimono zupfte und so ihre Aufmerksamkeit zu erlangen suchte.

"Okâsan", sagte die Kleine und deutete hinüber zum Teich. Miyako lächelte.

"Setzen wir uns?" fragte sie Miss Parker und nickte hinüber zu der Steinbank, auf der Parker noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. Ohne Parkers Antwort abzuwarten, ging sie zum Ufer des Teiches und setzte sich so, daß Akiko unter ihrer Aufsicht ein wenig mit den Händen im Wasser plantschen konnte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Miss Parker sich wieder gefaßt hatte.

"Du hast eine Tochter?" erkundigte sie sich ungläubig. Miyako lachte leise und hob dann ihre rechte Hand so, daß Parker den Ring daran sehen konnte. "Und verheiratet bist du auch?"

"Hai, seit fast drei Jahren schon", bestätigte Miyako und klopfte mit der flachen Hand einladend neben sich auf die steinerne Bank.

"Du kennst ihn übrigens", fuhr sie fort, während Miss Parker sich setzte und ihre alte Freundin überrascht ansah. "Er arbeitet in der New Yorker Niederlassung unserer Firma. Sein Name ist Ioyushu Shinji."

Für einen Augenblick wußte Miss Parker mit dem Namen nichts anzufangen, dann fiel ihr wieder ein, unter welchen Umständen sie den Mann getroffen hatte. Er war derjenige gewesen, mit dem sie sich ausgiebig über ihren Bruder Lyle unterhalten hatte. Wenn sie sich recht erinnerte, war er ein gutaussehender Mann Ende zwanzig, der ihr geduldig zugehört und sie sehr höflich behandelt hatte.

"Ein guter Fang", sagte sie nach einer kurzen Pause und meinte es auch so. Miyako hätte es sehr viel schlechter treffen können. Etwas benommen schüttelte Parker den Kopf.

"Geht es dir nicht gut, Parker-san?" erkundigte sich Miyako besorgt.

"Nein, ist schon gut - ich muß das nur erst einmal alles verarbeiten. Ich bin etwas... überrascht, dich hier zu treffen. Und deine Tochter. Dein Bruder hätte mich vorwarnen sollen."

"Tommy wußte selbst nicht, daß wir heute schon ankommen würden", erklärte Miyako, und in ihren Augen funkelte es vergnügt. "Unsere Ankunft war erst für nächste Woche geplant, aber ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie. Außerdem konnte ich es kaum abwarten, dich wiederzusehen."

Miss Parker setzte zu einer Erwiderung an, doch ein lautes Platschen lenkte sie ab. Miyako fuhr herum und erwischte ihre Tochter gerade noch rechtzeitig um zu verhindern, daß sie ganz in den Teich fiel. Akiko gluckste vergnügt, obwohl sie vom Bauchnabel an aufwärts klatschnaß war.

"Sie liebt Wasser", meinte Miyako entschuldigend. "Wenn es nach ihr ginge, würde sie mindestens dreimal am Tag baden. Entschuldige mich bitte, aber ich gehe sie lieber abtrocknen, sonst erkältet sie sich noch."

"Natürlich", sagte Miss Parker sofort. Sie stand ebenfalls auf, als Miyako sich erhob und strich Akiko über das nasse Haar. "Du solltest lieber schnell schwimmen lernen, Süße."

Miyako lächelte und nahm ihre Tochter auf den Arm.

"Sehen wir uns zum Abendessen?" fragte sie Miss Parker.

"Mit Vergnügen", lächelte Parker.

"Schön, dann bis gleich", verabschiedete sich Miyako, dann verneigte sie sich mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen und machte sich auf den Weg zurück zum Hauptgebäude des Anwesens. Akiko, die über ihre Schulter zurück auf Miss Parker blickte, winkte zum Abschied.

Miss Parker sah den beiden nach, bis sie über die Brücke gegangen und hinter einer Biegung im Kiesweg verschwunden waren. Verblüfft kehrte sie zurück zur Steinbank und setzte sich wieder hin. Die Begegnung mit Miyako hatte ihre Gedanken in einen so starken Aufruhr versetzt, daß sie jede Hoffnung auf ein paar klärenden Einsichten für diesen Tag wohl aufgeben konnte. Sie lächelte. Ihr Wiedersehen mit Miyako war durchaus ein wenig Aufruhr wert, fand sie. Mit Sicherheit konnten ihre Einsichten noch etwas länger warten.

Noch immer lächelnd erhob sich Miss Parker und warf einen letzten Blick auf den kleinen Teich, in dem sich die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten. Zeit fürs Abendessen. Während sie über die Brücke zurück in den äußeren Bereich des Gartens schlenderte, ignorierte Miss Parker die leise Stimme in ihrem Inneren, die darauf bestand, daß sie sich an die Bedeutung des Wortes 'loslassen' erinnern solle. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Part 19 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des Copyrights ist nicht beabsichtigt.

Der Countdown läuft - die Geschichte nähert sich unaufhaltsam ihrem Ende. Noch 2 Teile (exklusive diesem)!

In diesem Teil wird es - ganz ungewohnt, aber zur Abwechslung doch eigentlich ganz nett - mal etwas actionlastiger zugehen. Am Ende wird es zwei Tote zu beklagen geben; ein Mörder wird enthüllt und eine langvermißte Person gefunden. Kurzum: Wenn Ihr beim Lesen auch nur halb soviel Spaß habt wie ich beim Schreiben, dann werdet Ihr Euch prächtig amüsieren. :)

Ich möchte mich natürlich - wie immer - ganz herzlich bei meinen Betafeen bedanken. You rock!
Außerdem danke ich Nic, die nicht nur die Zeitung beigesteuert, sondern auch meine Ideen unterstützt hat. :)

***

And I have the sense to recognize that
I don't know how to let you go
Every moment marked
With apparitions of your soul
I'm ever swiftly moving
Trying to escape this desire
The yearning to be near you
I do what I have to do
The yearning to be near you
I do what I have to do
But I have the sense to recognize
That I don't know how
To let you go

-- Sarah McLachlan, 'Do What You Have To Do'




Kostbare Momente
Teil 19

von Miss Bit





Wäre die Welt auf der anderen Seite seines Bürofensters untergegangen, es hätte nicht schlimmer aussehen können als das Unwetter, das sich gerade über Blue Cove austobte. Lyle schaute mißmutig hinaus in die grauen Regenschleier. Er mußte an Brigitte denken, die während eines ganz ähnlichen Sturms ermordet worden war.

Es überraschte ihn selbst ein wenig, daß er sie vermißte. Für gewöhnlich fand er sich schnell damit ab, wenn Personen, aus welchen Gründen auch immer, aus seinem Leben verschwanden - ganz egal, ob sie ihm nun nahegestanden hatten oder nicht. Aber Brigittes Ableben beschäftigte ihn schon seit Tagen. Nicht nur, daß er sich fragte, wer sie ermordet haben und was aus dem Kind geworden sein könnte, er befürchtete auch, daß der Mörder seine eigenen Pläne durchkreuzen würde. Abgesehen davon war Brigitte im Besitz von Informationen gewesen, die ihm durchaus gefährlich werden konnten.

Versunken in seine Gedanken, erhob sich Lyle von seinem Sessel und durchmaß sein Büro mit langen Schritten. Vor der Tür machte er abrupt halt, drehte sich um und marschierte zurück zu seinem Schreibtisch. Fühlten sich so vielleicht Raubtiere, die ohne jede Hoffnung auf Flucht in einem Zoo oder Zirkus vor sich hinvegetierten, nicht einmal wußten, daß ihnen ein freies, ungezähmtes Leben in der Savanne entging? Lyle schnitt eine Grimasse. Wenn ihm schon solche Vergleiche durch den Kopf gingen, dann hatte er wohl den Einfluß unterschätzt, den die Ereignisse der letzten Wochen auf ihn gehabt hatten.

Mit einem leisen Grollen sank Lyle wieder in seinen Ledersessel. Wenigstens war er nicht noch einmal verhaftet worden; die Anklage gegen ihn war im Sande verlaufen, doch das ungute Gefühl, daß ihn jemand durch dieses Spielchen in seine Schranken hatte weisen wollen, blieb. Sein Hauptverdacht richtete sich mittlerweile gegen die japanischen Yakuza, obwohl er sich keiner Tat bewußt war, die die plötzlich wiederaufflammende Aufmerksamkeit seiner ehemaligen Geschäftspartner erklären würde.

Er schüttelte den Kopf und wandte seine Gedanken wieder drängenderen Problemen zu. Sein Vater hatte von ihm verlangt, Brigittes Kind ausfindig zu machen. Lyle hatte durchaus nichts gegen diese Aufgabe einzuwenden, die auf alle Fälle weniger schwierig zu werden versprach als die Jagd nach Jarod. Natürlich war ihm schon kurz durch den Kopf gegangen, daß Jarod vielleicht derjenige war, der das Kind entführt hatte - aber irgendwie wollte das nicht zu dem Bild passen, das Lyle von Jarod hatte. Dazu kam noch, daß der edle Helfer der Unterdrückten zur Zeit mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein schien. Mehrere Einbrüche in das lokale Netzwerk des Centres ließen darauf schließen, daß Jarod wieder verstärkt nach seiner Familie suchte; ganz besonders nach seiner Mutter und seiner Schwester.

Und dann war da noch seine eigene Schwester, Miss Parker. Lyle runzelte die Stirn, ohne sich dieser Geste bewußt zu sein. Es hatte ihn zutiefst überrascht, daß sie Blue Cove so überstürzt verlassen hatte, und es verwirrte ihn, daß niemand in der Chefetage des Centres dies als Verlust zu betrachten schien. Ganz egal, was er sonst über sie denken mochte, er hielt sie für eine fähige Frau, die es im Machtgefüge des Centres durchaus weit hätte bringen können, wenn sie nur ihre moralischen Bedenken über Bord geworfen hätte. Nun, ihr Versäumnis war mit Sicherheit sein Vorteil. Ihr Verschwinden bedeutete für ihn einen Gegner weniger, den es im Auge zu behalten galt.

Die Fingerspitzen nachdenklich aneinander gepreßt, lehnte Lyle sich in seinem Sessel zurück, die Augen halb geschlossen. Auch wenn sein Vater darauf verzichtete, nach seiner Schwester suchen zu lassen und ihr Fortgehen offenbar als unumstößliche Tatsache akzeptierte, verbesserte sich seine eigene Position dadurch wirklich nur minimal. Was ihm fehlte, war ein wirksames Druckmittel. Es war etwas eingetreten, das er immer zu vermeiden gehofft hatte: Er war zum Spielball der Mächtigen im Centre geworden. Sein Vater hielt ihn mit kryptischen Drohungen eisern unter seiner Kontrolle und verhinderte, daß Lyle die Karriereleiter auch nur einen Millimeter weit erklomm.

Das Geräusch sich rasch nähernder Schritte riß Lyle aus seinen Gedanken. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das dumpfe Pochen sein Büro erreichte; die Tür flog ohne irgendeine Ankündigung auf und sein Vater betrat wutschnaubend das Zimmer.

Lyle erhob sich halb aus seinem Sessel und öffnete den Mund, um seinen Vater zu fragen, was ihn hierher verschlagen hatte, doch er beschloß zu schweigen, als er den zornigen und aufgebrachten Ausdruck in den kalten Augen des älteren Mannes sah.

Mit drei langen Schritten erreichte Mr. Parker den Schreibtisch seines Sohnes. Es schien, als bedürfe es dieser physischen Barriere, um ihn zu stoppen. Ein lautes Klatschen hallte durch das Büro, als Parker eine dicke Zeitung auf Lyles Schreibtisch warf.

"Sieh dir das an!" wies er seinen Sohn an, sein Tonfall erbost.

Den Blick auf seinen Vater gerichtet, griff Lyle mit seiner gesunden Hand nach der Zeitung und drehte sie so um, daß er das Titelblatt lesen konnte. Zunächst fiel sein Blick auf den Namen der Zeitung. Asahi Shimbun, ein durchaus renommiertes japanisches Tagesblatt. Lyles Herz sank. Bedeutete das etwa, daß ihn die Yakuza in weit schlimmere Schwierigkeiten gebracht hatte, als ihm bisher bewußt geworden war?

"Seite 17", knurrte der alte Parker, und Lyle vermied es geflissentlich, ihm ins Gesicht zu sehen. Während er mit leicht zitternden Fingern die richtige Seite aufschlug, überlegte er, wie er sich am besten aus der Affäre würde ziehen können. Am besten würde er einfach alles leugnen; das hatte auch früher schon funktioniert. Lyle legte sich bereits einige Worte zurecht, als er endlich auf Seite 17 ankam und sofort erkannte, was seinen Vater so in Rage versetzt hatte. Fassungslos starrte er auf das viertelseitige Schwarzweißfoto, das seine Schwester an der Seite des Yakuza-Kronprinzen Tommy Tanaka zeigte. Hastig überflog er die Schlagzeile und die Bildunterschrift.

"Sie will ihn heiraten?" fragte er erstaunt, mehr an sich selbst denn an seinen Vater gerichtet. "Bist du dir auch ganz sicher, daß das keine Ente..."

Ein Blick in Parkers Gesicht ließ ihn verstummen, noch bevor er das Ende seines Satzes erreicht hatte. Oberhalb seiner rechten Schläfe pulsierte eine Ader, verriet Lyle, daß sein alter Herr kurz vor der Explosion stand.

Parker richtete einen zitternden Zeigefinger auf Lyle. Wie hypnotisiert starrte Lyle darauf, bis Parker den Finger auf das Bild niedersausen ließ, wo er wie zufällig direkt auf Tanakas Kopf landete.

"Du wirst nach Japan fliegen", befahl er seinem Sohn, der ob dieser Worte einen eisigen Schock verspürte. Wie konnte sein Vater das von ihm verlangen, nach allem, was er dort durchgemacht hatte? "Du wirst sie zurückholen. Ihre Rückkehr aus diesem lächerlichen Urlaub ist schon längst überfällig. Meine Tochter wird auf keinen Fall einen solchen... einen solchen Verbrecher heiraten!"

Lyle neigte den Kopf leicht zur Seite und sah seinen Vater von unten herauf an. Der alte Mann lebte offenbar doch schon etwas weiter von der Realität entfernt, als er bisher angenommen hatte. Urlaub? Er hielt die so offensichtliche Flucht seiner Tochter aus dem Centre für einen Urlaub? Und was machte Tanaka zu einem schlechteren Menschen als, beispielsweise, Parker selbst?

"Sie wird vielleicht nicht zurückkehren wollen", gab Lyle vorsichtig zu bedenken. Er schürzte nervös die Lippen und wartete ab, ob seine Worte einen erneuten Ausbruch des Mount Parker heraufbeschwören würden. Zu Lyles großer Überraschung schien der alte Mann seine Worte wirklich zu überdenken; ja, er nickte sogar.

"Das ist natürlich alles die Schuld dieses japanischen Halsabschneiders", grollte er, und Lyle sah seine letzte Hoffnung schwinden. "Mein kleiner Engel würde seinem Vater so etwas niemals antun."

"Dad, ich...", begann er, aber Parker winkte bloß ab.

"Pack deine Sachen. Der Jet startet um 21 Uhr, und du wirst drinsitzen."

Während ihm alle Felle davonschwammen, suchte Lyle panisch nach irgend etwas, das ihm diese Reise ersparen würde.

"Was ist mit dem Kind?" stieß er hervor. Die kleine Ader über Parkers Schläfe pulsierte plötzlich schneller. Er glaubte doch nicht etwa, daß seine Schwester schwanger war und deshalb heiratete? Lyle beschloß, sobald wie möglich den Artikel zu lesen, der das Foto umgab. "Du wolltest doch, daß ich nach Brigittes Kind suche."

Verstehen blitzte in Parkers Augen auf. Er nickte kurz, und Lyle begann, wieder neuen Mut zu schöpfen. Zwei Sekunden später erkannte er, daß er sich umsonst Hoffnungen gemacht hatte. Parker nahm die Zeitung wieder an sich und wandte sich zum Gehen.

"Darum werde ich mich kümmern", sagte er im Hinausgehen. "Sieh du nur zu, daß du deine Schwester zurück in den Schoß der Familie bringst."

Damit verließ er das Büro. Das Geräusch seiner sich entfernenden Schritte wurde überdeckt von dem lauten Schlag, mit dem die Tür hinter ihm zufiel. Lyle sprang auf und trat um seinen Schreibtisch herum. Er spielte mit dem Gedanken, seinem Vater nachzugehen, doch er wußte, daß das keinen Sinn haben würde. Wütend trat er gegen den Schreibtisch.

"Verdammt!" fluchte er. "Warum mußte es ausgerechnet Japan sein?!"

Ein weiterer Tritt gegen das schwere Möbelstück half ihm dabei, zumindest einen kleinen Teil seiner Wut abzubauen. Seine Gedanken überschlugen sich, aber eins erkannte er mit unverkennbarer Deutlichkeit: Er würde Hilfe brauchen, wenn er in Zukunft vermeiden wollte, wieder in so eine Situation zu geraten. Sich aus dieser neuen Verpflichtung herauszuwinden, war unmöglich, soviel wußte er. Falls... nein, wenn er das aber hinter sich gebracht hatte, mußte er unbedingt dafür sorgen, daß nicht mehr sein Vater ihn, sondern er seinen Vater in der Hand hatte.

Während er blicklos auf seinen Schreibtisch herunterstarrte, fiel ihm nur eine Person ein, an die er sich wenden konnte: Raines. Der ehrgeizige Wissenschaftler war einer der wenigen im Centre, die sich nicht scheuten, die Klingen mit dem alten Parker zu kreuzen. Außerdem würde Raines zweifelsohne erkennen, daß es ihm einige Vorteile bringen würde, Parker aus dem Weg zu haben.

Die daumenlose, behandschuhte Hand zur Faust geballt, verließ Lyle sein Büro. Mit langen Schritten stürmte er den Korridor entlang, hieb auf den Rufknopf des Fahrstuhls am Ende des Flurs und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Kabine. Die Fahrt ins Erdgeschoß schien eine Ewigkeit zu dauern; endlose Minuten, in denen er sich sein Empfangskomitee in Japan vorstellte.

Mit knirschenden Zähnen verließ er den Fahrstuhl, als der endlich zum Halt gekommen war, und ging so schnell weiter, daß er fast schon rannte. Er durchquerte die Eingangshalle, nahm aus dem Augenwinkel war, daß das Unwetter vorüber und der Abend angebrochen war und bog dann in den Korridor ein, der ihn direkt zum neuen Flügel des Centres führen würde.

Er erreichte Raines' neues Labor in Rekordzeit. Schwungvoll stieß er die Tür des Labors auf und sah sich suchend nach Raines um. Der Wissenschaftler stand in einer Ecke des quadratischen Raumes, beugte sich dort über eine Ansammlung von merkwürdig geformten Glasgefäßen. Als er Lyle auf sich zukommen hörte, richtete er sich auf und drehte sich um. Er sah dem jüngeren Mann entgegen, die Stirn unwillig gerunzelt.

"Mr. Lyle, ich habe nur wenig Zeit", sagte er anstelle einer Begrüßung.

"Ist mir durchaus klar", gab Lyle unbeeindruckt zurück. "Wir müssen reden, Raines. Über meinen Vater."

Bei den letzten Worten senkte er die Stimme zu einem Flüstern und sah Raines eindringlich an.

"Ah, er hat Sie gerade gebeten, sich um diese leidige Angelegenheit mit Ihrer Schwester zu kümmern, habe ich recht?" erkundigte sich Raines, ein schadenfrohes Lächeln auf den Lippen.

"Gebeten, ha!" schnaubte Lyle wütend. "In weniger als zwei Stunden startet der Jet nach Japan, und mir bleibt keine andere Wahl, als dem Wunsch" - er spie dieses Wort praktisch aus - "meines Vaters Folge zu leisten. Aber vorher möchte ich noch etwas mit Ihnen besprechen."

In Raines' Augen glomm Interesse auf. Lange maß er Lyle mit einem abwägenden Blick.

"Sie sind es müde geworden, im Schatten Ihres Vaters zu stehen", vermutete der Wissenschaftler mit einem wissenden Lächeln. Es schien ihm sehr zu gefallen, Lyle in dieser Situation zu sehen.

"Wenn Sie es so ausdrücken wollen", erwiderte Lyle mürrisch und biß die Zähne aufeinander. Wann immer möglich, zog er es vor, allein zu arbeiten, doch eine Allianz mit Raines erschien ihm im Moment als einziger Ausweg aus seiner mißlichen Lage. "Mein Vater hat mich in letzter Zeit sehr unter Druck gesetzt. Ich will, daß das ein Ende hat."

"Ein Ende", wiederholte Raines nachdenklich; in seinen Augen lag ein abschätzender Ausdruck. "Reden wir hier über ein vorübergehendes Ende oder...?"

"Über etwas Endgültiges", sagte Lyle mit Nachdruck. Nur mühsam gelang es ihm, ein Schaudern zu unterdrücken, als er daran dachte, wie unangenehm die letzten Wochen für ihn gewesen waren. Ganz abgesehen von seinen Schwierigkeiten mit der lokalen Polizei hatte er außerdem mit dem einen Gefühl zu kämpfen gehabt, daß er am meisten von allen haßte: Angst. Und es war sein Vater gewesen, der diese Furcht in ihm ausgelöst hatte.

"Es gibt da vielleicht einen Weg, wie wir beide bekommen könnten, was wir wollen", keuchte Raines. Seine Aufregung über Lyles Besuch schien ihm das Atmen zu erschweren. Nach ein paar tiefen Zügen Sauerstoff aus seinem Nasenschlauch atmete er jedoch wieder ruhiger. Lyle musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Es stimmte; er brauchte Raines' Hilfe, um sein Ziel zu erreichen. Das einzige, was ihn dabei beunruhigte, war, daß er Raines' eigene Ziele nicht kannte. Raines schien seine Gedanken zu erahnen.

"Ich schätze, wir haben hier ein kleines Vertrauensproblem", meinte er leise.

"Nein", widersprach Lyle, "ich... vertraue Ihnen."

"Oh ja, sicher, in gewissen Grenzen", spottete Raines, aber sie beide wußten, daß es dumm von Lyle gewesen wäre, Raines vollends zu vertrauen. Der Wissenschaftler unterzog Lyle erneut einer stummen Musterung, bevor er weitersprach. "Nun, Sie haben mir Ihr Vertrauen bereits bewiesen, indem Sie zu mir gekommen sind. Ich schätze, Ihr Vater wäre nicht sehr begeistert, von Ihrem kleinen Besuch hier zu erfahren."

Lyle spürte, wie er blaß wurde.

"Hören Sie, mein Vater weiß bereits, daß er auch aus den Reihen seiner eigenen Familie mit Verrat rechnen muß", erklärte er sehr viel ruhiger, als er sich fühlte. "Wie sonst hätte er es hier so weit bringen können?"

Raines sah ihn ungeduldig, fast schon zornig an.

"Wenn Sie wieder gehen wollen, dann machen Sie das gleich. Ich sagte Ihnen schon, daß ich wenig Zeit habe."

Damit drehte er sich wieder halb seinem Experiment zu, aber Lyle legte ihm hastig die Hand auf die Schulter.

"Warten Sie, Raines", zischte er. "In dieser Sache bleibt keinem von uns eine Wahl, das wissen Sie ebensogut wie ich. Beweisen Sie, daß ich Ihnen ebenfalls vertrauen kann, und wir kommen ins Geschäft."

Raines starrte auf Lyles Hand, bis dieser den älteren Mann losließ. Die beiden maßen einander mit Blicken voller unterdrücktem Mißtrauen und Wut. Schließlich nickte Raines knapp.

"Folgen Sie mir, Mr. Lyle", sagte er sehr leise. "Ich werde Ihnen den ultimativen Beweis liefern, daß Sie mir vertrauen können. Aber ich warne Sie: Wenn Sie mir in den Rücken fallen, wenn Sie irgend jemandem verraten, was Sie gleich sehen werden, dann werden Sie keine Zeit mehr haben, Ihren Fehler zu bereuen."

"Schluß mit der heißen Luft, Raines", knurrte Mr. Lyle ungehalten. "Zeigen Sie mir, was Sie mir zu zeigen haben, dann sehen wir weiter."

Raines sagte nichts mehr, sondern drehte sich wortlos um und schlurfte hinüber zur Tür, die Sauerstoffflasche an seiner Seite. Nicht so ganz überzeugt, daß er wirklich das richtige tat, indem er sich auf ein Bündnis mit Raines einließ, folgte Lyle ihm. Ein dunkler Schemen huschte hinter ihm quer über den Korridor, doch weder Raines noch Lyle bemerkten ihn.

Während des ganzen Wegs schwieg der Wissenschaftler. Lyle ging neben ihm her und wunderte sich ein wenig über das zufriedene Lächeln auf Raines' Lippen. Ein Gefühl sagte ihm, daß Raines noch einen Trumpf im Ärmel hatte, aber es war nicht unbedingt ein ungutes Gefühl. Ein starker Verbündeter war schließlich genau das, was er im Moment brauchte.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie ihr Ziel erreichten. Das lag zum einen daran, daß Raines nur sehr langsam vorankam, zum anderen war es ein langer Weg. Raines machte mehrere Umwege, schien sich ganz sicher sein zu wollen, eventuelle Verfolger abgeschüttelt zu haben. Schließlich standen sie vor einer schweren Eisentür am Ende eines langen Korridors auf Sub-Level 14, tief in den Eingeweiden des Centres. Die Tür war mit einem Zahlenschloß gesichert. Raines stellte sich so davor, daß Lyle nicht sehen konnte, welchen Code er eintippte. Entnervt rollte Lyle mit den Augen. Glaubte Raines wirklich, daß er diesen Code nicht würde herausfinden können, wenn er es wirklich wollte?

Ein lautes Poltern auf der anderen Seite der Tür deutete an, daß schwere Riegel zur Seite gewuchtet wurde. Erstaunt hob Lyle die Brauen.

"Was verstecken Sie hier unten, Raines? Das Bernsteinzimmer vielleicht?" Doch noch während er spottete, ahnte er auf einmal, was er gleich hinter dieser Tür sehen würde.

"Nein, Mr. Lyle", gab Raines ernst zurück. "Nur die Erfüllung Ihrer und meiner Wünsche."

Damit schwang die Tür nach außen auf und gab den Blick frei auf ein hochmodern eingerichtetes Labor. Lyle staunte nicht schlecht, als er erkannte, daß mindestens eine halbe Million Dollar in die Einrichtung dieser unterirdischen Schatzkammer geflossen sein mußte. Aufmerksam sah Lyle sich vom Eingang des großen Raumes her um, ließ seinen Blick über ihm unbekannte, teuer aussehende Geräte und eine Gruppe von vier Leuten schweifen. Im rückwärtigen Bereich des Raumes sah er dann, was er seit der Öffnung der Tür erwartet hatte.

"Raines, Sie Mistkerl!" zischte er, erfüllt von einer Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn. "Mein Vater macht mir die Hölle heiß, weil ich das Kind nicht finden kann - und sie verstecken es die ganze Zeit hier unten!"

Mit ein paar langen Schritten erreichte er den Brutkasten, der etwas abgeschieden am anderen Ende des Raumes stand. Fassungslos starrte er hinunter auf das winzige Bündel darin, von dem nur ein blasses Gesichtchen zu erkennen war. Eine blaßrosa Narbe zog sich von der Stirn über die rechte Schläfe bis hinunter zur Wange des Kindes; ein untrüglicher Beweis dafür, daß es sich um Brigittes Kind handeln mußte.

"Es sah lange Zeit nicht sehr gut für sie aus", sagte Raines auf einmal hinter Lyle, und der zuckte vor Schreck leicht zusammen.

"Ein Mädchen?"

"Mr. Lyle, darf ich Ihnen Ihre Schwester vorstellen?" schnaufte Raines spöttisch. "Ihre Geburt verdient zweifelsohne die Beschreibung 'ungewöhnlich'."

"Geburt?" fragte Lyle mit hochgezogenen Brauen. Neben ihm zuckte Raines mit den Schultern.

"Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es war kein Kaiserschnitt mehr nötig", sagte Raines. Aus den Augenwinkeln glaubte Lyle zu sehen, daß der ältere Mann bei dieser Aussage grinste, aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Ein anderer Gedanke beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit.

"Sie waren es, der das Kind aus Brigitte herausgeschnitten hat."

"In der Tat. Ich hatte Glück, ebenso wie dieses Kind. Ich war rechtzeitig dort, um diesem Mädchen das Leben zu retten. Wie gesagt, es sah lange Zeit nicht gut für sie aus, aber mein Ärzteteam" - er nickte herüber zu den drei Männern und der Frau, die in der Mitte des Raumes um einen Tisch herum standen - "konnte ihr Leben retten."

"Sie waren rechtzeitig da", wiederholte Lyle flüsternd, völlig gefangengenommen von dem einen Gedanken, der ihn beschäftigte. Er löste seinen Blick von seiner gerade erst einen Monat alten Schwester und sah Raines mit einem glühenden Ausdruck in den Augen an. "Sie haben alles gesehen. Sie wissen, wer Brigitte ermordet hat!"

"Mein lieber Mr. Lyle", gab Raines mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen zurück, "ich weiß noch viel mehr als das."

"Jetzt rücken Sie schon raus damit, Sie alter Narr", verlangte Lyle und griff nach Raines Schultern; er schüttelte den alten Mann leicht. Raines erwiderte Lyles brennenden Blick voller Gelassenheit. Spott und Herablassung verzerrten seine Lippen zu einem Lächeln.

"Brigittes Mörder ist derselbe Mann, der auch Thomas Gates und Ben Miller auf dem Gewissen hat", verriet er Lyle, dann machte er eine dramatische Pause, die Lyle dazu veranlaßte, ihn erneut zu schütteln. "Ihr Vater."

Lyle konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Fassungslos ließ er Raines los; seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sicher, er hatte durchaus seine Vermutungen gehabt, aber das übertraf alles bei weitem. Für eine Sekunde schoß es ihm durch den Kopf, daß er wohl derjenige gewesen war, der Bens Ermordung ausgelöst hatte - denn er war es gewesen, der dem alten Parker erzählt hatte, wo seine Tochter ihren Urlaub verbringen wollte. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Diese Information, zusammen mit der Entdeckung seiner jüngsten Schwester, offenbarte ihm völlig neue Möglichkeiten. Der Flug nach Japan erschien ihm mit einemmal gar nicht mehr so schlimm. Was war das schon gegen die Veränderungen, die es hier im Centre geben würde, sobald er zurückkehrte?

***

Hoch über Lyle und den anderen kauerte sich eine verstörte Gestalt eng an die beruhigend kühle Wand des Luftschachts, während die Digitalkamera in ihren Händen fast lautlos summte.

***

Den Rücken leicht an die Trennwand aus Papier gelehnt, die Beine unter sich gefaltet, versuchte Miss Parker, sich zu entspannen. Sie saß am Kopfende des Futonbettes im Schlafzimmer des Pavillons, den sie gemeinsam mit Tanaka bewohnte. In ihrem Schoß lag eines der beiden Bilder, die sie mit nach Japan gebracht hatte. Es zeigte sie selbst als junges Mädchen. Neben ihr stand ein etwa gleichaltriger Jarod, und hinter ihnen beiden stand ihre Mutter. Das Bild war während des einzigen gemeinsamen Treffens zwischen Catherine, Jarod und ihr entstanden; Sydney hatte das Foto geschossen.

Sie konnte sich noch an jede Einzelheit dieses Tages erinnern; das sanfte Lächeln ihrer Mutter; den Ausdruck von Sehnsucht und zögerlicher Freude in Jarods Augen; Sydneys gerunzelte Stirn; ihr eigenes Gefühl der Unbeschwertheit. Am Ende des Tages hatte Jarod ihr gestanden, daß er sie um ihre Mutter ein wenig beneidete; daraufhin hatte sie ihm gesagt:

>Sei nicht dumm, Jarod. Du hast doch auch eine Mutter. Jeder hat eine! Außerdem kannst du ein Teil meiner Familie sein.<

Miss Parker runzelte die Stirn, als sie sich an diese Worte erinnerte. Damals hatte sie sie so gemeint, aber galt das heute auch noch?

Sie schloß die Augen und versuchte, an nichts Bestimmtes zu denken. Tanaka war zu einer zweitägigen Geschäftsreise nach Tokio aufgebrochen; seine Schwester und ihre Familie machten einen Ausflug in den Süden von Hokkaido. Dadurch hatte Miss Parker die Gelegenheit, allein und ungestört mit ihren Gedanken zu sein.

Das Bild schien schwer in ihren Händen zu lasten, die entspannt in ihrem Schoß lagen. Viele Erinnerungen hingen daran; gute und schlechte. Anders als in den letzten Wochen zwang sich Miss Parker, nicht länger vor den Erinnerungen zurückzuschrecken. Etwas in ihr drängte sie dazu, sich endlich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Während sie noch überlegte, wie genau sie mit der Bewältigung ihrer Erfahrungen und Erlebnisse beginnen sollte, geschah etwas Unerwartetes.

Miss Parker schnappte überrascht nach Luft, als sie sich auf einmal an einem Ort wiederfand, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Konnte das wirklich möglich sein...?

Vor ihrem inneren Auge erstreckte sich eine bewaldete Landschaft, durchsetzt mit flachen Hügeln und in goldenes Sonnenlicht getaucht. Die Strahlen der Sonne fühlten sich angenehm warm an auf ihrer Haut, und doch waren sie so irreal und substanzlos wie eine Erinnerung.

Sie stand auf einer kleinen Anhöhe, die mit hohem Gras bewachsen war. Nur ein einzelner Baum stand hier; eine Weide, deren Äste bis auf den Boden herunterhingen. Wann immer sie von dem leichten Wind gestreift wurde, der in kaum spürbaren Böen über den Hügel strich, regnete ein hauchdünner Schleier aus goldenem Blütenstaub auf die Erde herab. Zu ihrer Rechten, am Fuße der Anhöhe, lag ein Teich, der die Form eines Ahornblattes hatte. Sein tiefblaues Wasser glitzerte einladend.

Wie viele Jahre war es jetzt her, seit sie zum letzten Mal hiergewesen war? Es mußten über zwanzig sein; wahrscheinlich aber sogar noch mehr.

...Zuflucht...

Dieser Ort, dieser eine Platz auf der Welt, der ihr ganz allein gehörte, war ihre innere Zuflucht, ihr Hafen. Er war ein Geschenk ihrer Mutter an sie. Ihre Mutter hatte diese innere Welt für sie erschaffen, hatte ihr durch Geschichten und Erzählungen geholfen, sie immer weiter auszuschmücken und am Ende so plastisch und real werden zu lassen, daß Miss Parker sich tatsächlich dorthin hatte zurückziehen können, wenn sie die Augen geschlossen hatte. Ihre Zuflucht - so hatte ihre Mutter diesen Ort genannt. Und oft war es eine Zuflucht für sie gewesen. Besonders in den letzten Jahren vor dem Tod ihrer Mutter hatte Miss Parker lange Stunden damit verbracht, durch ihre innere Welt zu streifen und so der wirklichen Welt zu entfliehen.

Ein paar Wochen nach dem Tod ihrer Mutter war sie dann zum letzten Mal in diese Welt eingetaucht, die damals nichts anderes als die Traumwelt eines jungen, verängstigten Mädchens gewesen war. Dann hatte sie den Fehler gemacht und ihrem Vater davon erzählt. Er war sehr wütend geworden und hatte ihr eine lange Predigt gehalten, die ihr doch nur das eine hatte vermitteln sollen: eine Parker versteckte sich nicht vor der Realität. Sie lernte, sie zu akzeptieren oder sie zu ändern, wenn sie ihr nicht paßte, aber niemals, niemals ergriff sie die Flucht vor ihr.

Natürlich hatte sie versucht, ihre innere Zuflucht auch danach wieder zu erreichen, aber es war ihr nie wieder gelungen. Über die Jahre hatte sie dann das Geschenk ihrer Mutter als Traum abgetan, hatte vergessen, daß sie sich an einen Ort zurückziehen konnte, der ihr innere Ruhe und Frieden schenkte.

Erstaunt, aber glücklich sah Miss Parker sich jetzt um in ihrer Zuflucht, fühlte sich ein bißchen wie der erwachsene Peter Pan, der nach Nimmerland zurückkehrte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Das hier war ganz anders.

Langsam schlenderte sie herüber zu der Weide, deren Äste kaum merklich im Wind schaukelten. Stimmen wehten zu ihr herüber, und durch den Vorhang aus goldgelben Blättern sah sie zwei Gestalten, die nebeneinander auf dem Boden saßen, offenbar in ein Gespräch vertieft. Miss Parker strich ein paar der Äste zur Seite und ließ sich neben den beiden Menschen nieder, die nichts weiter waren als ein Teil ihrer Erinnerungen.

>Was ist das hier für ein Ort, Mama?< fragte die junge Miss Parker. >Träume ich?<

>Nein, du träumst nicht. Du bist wach, auch wenn deine Augen vielleicht geschlossen sindAber nichts hier ist wirklich, oder?<

>Wie wirklich ist eine Erinnerung?< fragte Catherine zurück, einen wissenden Ausdruck in den Augen. >Für dich ist diese Welt real, denn du bist es, die sie jedesmal wieder aufs neue erschafft.<

Die junge Miss Parker runzelte die Stirn.

>Aber was ist diese Welt denn nun, Mama?< wollte sie wissen. Catherine lachte leise über die Hartnäckigkeit ihrer kleinen Tochter.

>Manche würden ihn vielleicht deine Seele nennen; andere dein Herz. Einige würden sagen, daß es dein Unterbewußtsein ist; wieder andere hielten es vielleicht für dein Gedächtnis. Später wirst du vielleicht einen eigenen Namen dafür finden, aber bis dahin kann es deine Zuflucht sein.<

...Zuflucht...

Die erwachsene Miss Parker erhob sich, und die Gestalten aus ihrer Erinnerung verblaßten langsam, bis sie völlig verschwunden waren. Sie wußte jetzt, warum sie hier war. Wie sie den Zugang zu ihrer Zuflucht wiedergefunden hatte, würde sie erst noch herausfinden müssen, aber im Moment spielte das keine Rolle. Wichtig war nur, daß sie hier war. Sie und ihre Erinnerungen.

Nachdenklich schlenderte sie von der Weide fort und hinunter ans Ufer des Teiches. In einiger Entfernung erkannte sie einen dunklen Schemen, der gemächlich auf den sanften Wellen schaukelte. Miss Parker schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. Es war eine kleine Segeljolle, die dort tief im Wasser lag. Zwei Männer, deren Gesichter sie nicht erkennen konnte, saßen darin und angelten. Wer sie wohl waren?

>Du weißt es dochBen und TommyDu kannst mich nicht fangen!<

Eine weitere Gestalt huschte an ihr vorbei. Es war Jarod, in etwa so alt wie ihr jüngeres Ich. Er lachte und sah sich im Laufen kurz um.

>Und ob ich das kann!< rief ihm die junge Miss Parker nach und sprintete hinter ihm her. Miss Parker lächelte und sah den beiden nach, beschloß dann, ihnen zu folgen. Die beiden Kinder rannten über einen bemoosten Weg, der direkt auf den Waldrand zuführte. Mächtige Eichen und Buchen streckten ihre Wipfel hoch in den Himmel, warfen lange Schatten auf das Gras vor ihnen.

>Es ist schön, daß du dich endlich entschlossen hast, diesen Weg zu gehenIch habe AngstDas weiß ich, mein Herz. Aber es ist Zeit für dich, dich der Realität zu stellen.<

Miss Parker lachte leise auf.

>Ausgerechnet hier?<

>Hier beginnt esKommst du nicht mit?< wollte Miss Parker wissen und blieb ebenfalls stehen.

>Du brauchst meine Hilfe nicht, mein Liebes. Folge deinem Herzen, und du wirst deinen Weg erkennen.<

Catherine lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu, dann drehte sie sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.

... Du mußt sie loslassen...

Die Worte, die ihre Mutter in ihrem Traum an sie gerichtet hatte, fielen ihr wieder ein, als Miss Parker dabei zusah, wie Catherines Gestalt vor ihren Augen verblaßte. Gehörte ihre Mutter auch zu den Dingen, die sie loslassen sollte? Sie hoffte es nicht.

Miss Parker ging weiter, folgte dem Weg, der direkt in den Wald hineinführte. Als sie den Wald erreichte, erwartete sie eine Überraschung. Irgendwie hatte sie erwartet, daß es im Inneren des Waldes dunkel, vielleicht auch bedrohlich sein würde, doch das traf nicht zu. Ganz im Gegenteil; der Weg verbreiterte sich sogar noch und führte schnurgerade in den Wald hinein. Hoch über dem Weg bildeten die Wipfel der Bäume ein grünes Dach, so daß Miss Parker das Gefühl hatte, durch einen Säulengang zu wandern. Licht filterte durch die Baumkronen, zauberte immer neue Muster auf den Weg und erfüllte sie mit einem Gefühl der Geborgenheit.

>Du gehörst zu mir. Das weißt du doch, nicht wahr, mein Engel?< erklang die Stimme ihres Vaters neben ihr. >Wir sind eine Familie.<

>FamilieDas Centre ist deine FamilieIch wollte nie im Centre leben. Ich wollte nie für das Centre leben. Doch ich habe für dich gelebt, für deine Anerkennung, deine Liebe.<

Ihr Vater ging etwas schneller und griff nach ihrem Arm, um sie mit sich zu ziehen. Wütend schüttelte Miss Parker seine Hand ab und blieb stehen.

>Bist du hier, um mir zuzuhören?< fragte sie ihn. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um.

>Natürlich, mein Engel.<

>GutDu hast das Centre zu meinem Zuhause gemacht, obwohl ich es nicht wollte; du hast gewußt, was das für mich bedeuten würdeIch verlor meine Mutter, als ich noch ein Kind war. Was ich damals brauchte, waren deine Liebe und deine Aufmerksamkeit. Was ich bekam, war der Aufenthalt in einem Internat und der noch stärkere Wunsch nach deiner Aufmerksamkeit, deiner Anerkennung.<

Traurig über sich selbst, schüttelte sie den Kopf. Natürlich hatte sie immer gewußt, daß sie hauptsächlich von ihrem Wunsch nach Anerkennung - nach der Liebe ihres Vaters - angetrieben worden war. Sie hatte vieles im Centre hingenommen, hatte Entschuldigungen für Dinge gesucht, die vielleicht nicht zu entschuldigen waren. In ihrem Streben, ihrem Vater zu gefallen, hatte sie sich in den Dienst des Centres gestellt, hatte ein Leben im goldenen Käfig gewählt. Das Gold war längst abgeblättert von den Gittern, die sie gefangen hielten, und trotzdem arbeitete sie noch immer für ihren Vater und das Centre.

Es war leicht gewesen, nach außen hin so zu wirken, als mache es ihr nichts aus, die Ziele des Centres zu verfolgen, als wären die Ansichten ihres Vaters ihre eigenen. Eine Zeitlang war es sogar leicht gewesen, sich das selbst einzureden. Dann waren Sydney und Jarod wieder in ihr Leben getreten, und die ersten leisen Zweifel hatten begonnen, sie zu plagen. Ihr erstes Treffen mit Ben und Jarods unermüdliche Versuche, sie an ihre Vergangenheit zu erinnern, hatten die Zweifel verstärkt. Und dann hatte sie Tommy getroffen. Plötzlich hatte es zum ersten Mal seit vielen Jahren so ausgesehen, als könne es für sie ein Leben ohne das Centre geben. Sie hatte begriffen, daß es für sie möglich war, sich von ihrem Vater zu lösen und ihre Angst zu überwinden. Diese Angst war tief in ihr verwurzelt; Angst vor Verlust; Angst vor der Welt außerhalb des Centres; Angst vor der Person, die sie ohne das Centre werden würde.

Mit Tommy war ihre Hoffnung gestorben, das Centre jemals verlassen zu können. Allein fühlte sie sich dazu einfach nicht in der Lage. Es stimmte, sie hatte nicht mehr viel zu verlieren, aber an dem Wenigen, das ihr noch geblieben war, hielt sie mit aller Kraft fest.

>Du weißt, daß ich immer für dich da binJaIch habe dich gar nicht für ihn gejagt, habe ich recht?< fragte sie nach einer Weile und öffnete die Augen wieder. Ihr Vater war verschwunden; statt dessen fiel ihr Blick auf Jarod und sich selbst als Kinder. Die Arme des erwachsenen Jarod hielten sie noch immer in einer lockeren Umarmung, gaben ihr die Kraft, sich ihren Überlegungen zu stellen. Sie spürte, wie Jarod hinter ihr den Kopf schüttelte; sein Atem strich sanft und warm über ihren Nacken.

>Ich bin nicht derjenige, der dir diese Antwort geben kannDie Antwort...< Miss Parker starrte auf ihr jüngeres Selbst, das einem überraschten Jarod gerade seinen ersten Kuß gab. Ein Zittern lief über die Lichtung, als hätte irgend etwas Miss Parkers innere Welt erschüttert. Die Kinder vor ihren Augen alterten, wurden zu Teenagern, die sich gegenseitig durch die Gänge und Korridore des Centres jagten. Miss Parker erschauderte; Jarods Umarmung wurde merklich fester.

>Es ist wie...Ein Vorbote, nicht wahr?< beendete Jarod den Satz für sie. Er seufzte. >Jäger. Gejagte. Immer auf der Suche. Wonach?<

Entschlossen schüttelte Miss Parker den Kopf.

>Keine FragenDiese Einstellung hat dich dort hingebracht, wo du jetzt bistVerlustWohin führt das alles?< fragte Miss Parker die Welt im allgemeinen und niemanden im besonderen. Sie drehte sich um, wandte den Blick ab von ihren Erinnerungen. Jarod stand nicht mehr hinter ihr; er war fort.

>Das werde ich dir zeigenr Jarods Verlust?

>Das ist es, nicht wahr?< fragte sie, erstaunt über die Distanz, mit der sie die Dinge jetzt betrachtete. Sie wandte sich direkt an ihren Vater, dessen Gesicht aschfahl war. >Hier führt alles hin. Ich verlasse das Centre und verliere alles.<

>Auf der Suche. Wonach?<

Jarod - ein beruhigend gesund aussehender Jarod - trat neben ihren Vater, musterte sie erwartungsvoll aus dunklen Augen.

>Nach SicherheitGeborgenheit. Menschlicher Wärme. Einer Zukunft. Garantien.<

Der Körper des erschossenen Jarod verschwand; zurück blieben nur ihr Vater und der starke, zuversichtliche Jarod, der sie eben noch in seinen Armen gehalten hatte. Miss Parker lächelte, und dabei ruhte ihr Blick allein auf Jarod.

>Ganz schön dumm von mirSeit wann bekommt man Garantien für die Zukunft?<

>Keine GarantienNur Vertrauen.<

Nun stand er direkt vor ihr; Mr. Parker war nicht länger zu sehen. Miss Parker sah in Jarods Augen. In den dunklen Tiefen erkannte sie die Ernsthaftigkeit von Jarods Gefühlen, aber sie suchte nicht länger nach einer festgeschriebenen Zukunft darin.

Wind frischte auf, trieb die vertrockneten Blätter über den Waldboden und schien Miss Parker etwas zuzuflüstern.

...loslassen...

Sie wußte, daß sie gerade erst den ersten Schritt gemacht hatte, aber es fühlte sich gut an. Sie fühlte sich gut. Die Unentschlossenheit, die Lethargie der letzten Wochen und Monate begann, von ihr abzufallen, wurde vertrieben von neuer Energie und dem Wunsch, ihre Zukunft endlich selbst zu formen; auch gegen Widerstände - mochte es nun das Centre oder ihr Vater sein.

Geisterhafte Gestalten zogen an Miss Parker vorbei; sie nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr. Sydney, das Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt. Broots, nervös wie eh und je. Tanaka, mit einem wissenden Lächeln auf dem Gesicht. Brigitte, ihre Haut wächsern und blaß.

>SpäterFreunde
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