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Die meisten Figuren dieser Geschichte gehören nicht mir, wem auch immer,mir nicht! Die anderen, die mir gehören, gehören mir ganz allein! DieseGeschichte wurde geschrieben, weil ich gerne schreibe, nicht weil ich damit Geld verdienen will!



Die vergessene Akte
Teil 11
von Dara



Kapitel 11

Sie atmete tief ein. Die Augen geschlossen, stand sie auf der Veranda und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Sie hatte einen eigenartigen Traum gehabt:

Sie war vollkommen im Dunkel und konnte nichts sehen. Aber sie hörte, daß jemand neben ihr stand und atmete. Obwohl es doch so unheimlich war, fürchtete sie sich nicht. Er war neben ihr. Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter. Wärme, Zuflucht, Geborgenheit. Sie war ganz ruhig. Sie lehnte sich an ihn und blieb so stehen. Im vollkommenen Dunkel. Und sie wußte, er war es, den sie liebte.

***

Parker schüttelte den Kopf: "Nein, Broots, wir werden dieser kleinen Schnepfe keine Babyparty geben!"

"Aber Ihr Vater!"

"Mein Vater kann vieles, aber er kann nicht befehlen, daß ich mit dieser Hexe Luftballons aufblase und ein Kaffeekränzchen für die Nachbarn veranstalte!"

"Ich mag Luftballons!"

"Broots!" Parker belegte den Techniker mit einem Blick, der selbst die Hölle zugefroren hätte.

"Guten Morgen, Miss Parker, Broots!" Sydney kam mit einem vagen Lächeln in das Büro.

"Syd! Ich habe hier ein Päckchen für Sie!" Broots sprang auf und lief in eine Ecke, um ein kleines, sorgsam verschnürtes Paket hervorzuholen. Parker zog die Augenbrauen nach oben.

"Seit wann werden Ihre Sendungen denn ins Centre geliefert?"

"Es ist nicht von Jarod!" Broots starrte neugierig auf die sorgfältig gemalten Namen auf dem Absender. Sydney blickte kurz auf seine Post, machte aber keine Anstalten, das Paket zu öffnen.

"Herrgott, Syd, öffnen Sie das verdammte Ding endlich!" Parker machte einen Schritt zum Schreibtisch.

"Sie beide sind überhaupt nicht neugierig, hab ich recht?!" Das Lächeln des Psychiaters wurde breiter.

Er zerriß das braune Packpapier und öffnete den Karton. Ein gelbes Buch kam zum Vorschein, und zwei dicke Akten.

"Was ist das?" Sydney durchblätterte das Buch. "Eine Therapie für Nick."

"Ist Nick krank?"

"Nein, aber ein autistischer Schüler von ihm. Sam hatte versprochen zu helfen. Die gelben Bücher sind ihr Markenzeichen." Er wedelte mit dem zitronengelben Notizbuch, das er durchgeblättert hatte.

"Ist sonst noch was drin, vielleicht ein Hinweis, wo sie sich aufhalten könnte?"

Broots blickte noch mal in den Karton

"Nichts!"

"Dann sollten wir uns jetzt wieder anderen Dingen zuwenden."

***

Wie konnte sie ihm vertrauen, wenn sie noch nicht einmal wußte, wer er war?

"Du weißt es!"

Wirklich?

"Ich weiß es nicht, du mußt dich irren!"

"Denk nach!"

"Ich versuche es! Aber ich kann ihn einfach nicht erkennen."

"Du darfst dich nicht selbst belügen!

"Das tue ich nicht, ich kann ihn nicht erkennen, es ist zu dunkel! Viel zu dunkel."

Er ließ sie los, langsam glitt er von ihr weg; die Kälte, sie konnte die Kälte immer deutlicher spüren...


***

"Jack, Kay? Jay? Wo seid ihr?" Jarod blickte in das verlassene Kinderzimmer. "Hey, ihr drei, ich hab Lasagne gekocht !" Es war nichts zu hören. Er runzelte die Stirn. Er ging zum Dachboden. "Jay - Essen!" Auch hier waren sie nicht.

Sam kam die Treppe herauf: "Wenn ihr nicht bald kommt, esse ich das allein auf!" Ihr Magen knurrte deutlich, fast weinerlich rieb sie ihren Bauch.

"Die Kinder sind nicht hier!"

"Dann sind sie draußen!"

"Eigentlich hab ich da schon nachgesehen."

"Im Truck?" Jarod schüttelte den Kopf.

Sam sah ihn in die Augen: "Was willst du damit andeuten? Irgendwo müssen die Gören ja sein!" Sie schaute ins Kinderzimmer.

"Da hab ich schon nachgesehen!"

Sam überlegte angestrengt. "Wo genau draußen warst du?"

"Hinterm Haus, hinterm Truck, in der Scheune, im Obstgarten!" Sam nickte grübelnd und plötzlich verfinsterte sich ihr Gesicht. Sie stampfte wütend die Treppe herunter. Jarod folgte ihr neugierig.

"Wenn die da unten sind..." Sam hatte ihre Lippen so fest zusammengepreßt, daß sie kaum noch zu sehen waren.

"Was ist da unten?"

"Der Keller!" Diese Antwort kam lapidar, aber es erschien Jarod doch sonderbar. Er beobachtete seine neue Freundin mit Interesse. Sie faßte die Klinke an. Sie ließ sich herunterdrücken. Sie schnaufte kurz und öffnete die Tür.

Major Charles hatte es sich bereits am gedeckten Mittagstisch gemütlich gemacht. Er hatte Jarods Rufe gehört und kam neugierig in den Flur. Gerade noch rechtzeitig, um Jarod im Keller verschwinden zu sehen. Er folgte ihm.

Sie gingen bedächtig die Treppe runter; man konnte die Schritte kaum hören. Jarod konnte ein leises, kontinuierliches Rauschen vernehmen. Das Rauschen einer Belüftung, wie bei Computern. Sam ging zielstrebig zur Tür links von der Treppe. Sie drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür.

Was sich Jarod da eröffnete, war selbst für ihn zuerst unfaßbar. Ein Computerschrank, wie früher, als die Computerspeicherplätze noch ganze Räume ausfüllten. Etwa 10 Monitore flackerten im dunklen Kellerraum, auf einigen waren Menschen zu sehen, andere schienen ausgeschaltet zu sein. Ein Podest stand in der Mitte des Raumes. Ein runder Tisch, wie die Konsole in einem Raumschiff – in letzter Zeit begeisterte sich Jarod für Raumschiff Enterprise - und ein großer drehbarer Ledersessel waren zu sehen.

Jay stand links neben dem Sessel, Kay rechts davon. Sie unterhielten sich angeregt, ja fast hektisch, aber mit gedämpften Stimmen. Sie hatten die Erwachsenen nicht bemerkt.

Jarod schluckte. "Das sieht hier wie der Technikraum im Centre aus!" flüsterte er fast ehrfürchtig. Er blickte auf einen der Bildschirme, der in Schwarz /Weiß war. Ein Büro war dort zu sehen. Mr. Raines Büro. Er starrte gebannt auf den Bildschirm. Die Tür ging auf, und der alte gebeugte Mann schlurfte herein. Er hatte einen hellen Anzug an und zog seine Sauerstoffflasche wie ein Kinderspielzeug hinter sich her. Jarod konnte ihn fast keuchen hören.

"In wiefern habe ich mich eigentlich ungenau ausgedrückt?" Sam hatte ihre Stimme nur leicht erhoben, aber Major Charles konnte die Wut erkennen, die hinter diesen Worten lag. Die Kinder schraken auf und sahen zur Tür.

"Mum, ich, wir..." Kay rang die Hände, als sie versuchte, etwas zu sagen.

Sam holte tief Luft: "Raus hier!"

"Mum, wir..." Jack wollte etwas sagen, doch Sam duldete keine Widerworte mehr.

"RAUS HIER; ODER ES KNALLT!" Sie trat einen Schritt zur Seite und deutete zur Treppe: "Ihr werdet jetzt etwas essen und dann geht ihr in euer Zimmer. Ich gebe euch einen guten Rat: ich will die nächsten Stunden niemanden von euch sehen, geschweige denn hören. Ihr werdet solange in eurem Zimmer bleiben, bis ich euch rufe."

Kay wollte noch etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders, als sie Sams Gesichtsausdruck sah. Mit gebeugtem Haupt schlichen die Zwillinge an ihrer Mutter vorbei. Am Fuß der Treppe angekommen, sah Kay hoch. Sie winkte Jay zu sich.

Jay hatte sich nicht gerührt. Erstarrt hatte er die Szene verfolgt. Er konnte sich immer noch nicht bewegen. Er sah, wie Kay ihn zu sich winkte, aber er bewegte sich nicht. Er blickte ängstlich in ihre Augen und schluckte.

"Na los, nun geh schon!" Sam sah ihn an. Nicht mehr wütend, sondern traurig, enttäuscht. Sie war enttäuscht. Er wußte nicht, was er schlimmer fand. Die Wut in Sam oder die Enttäuschung. Er wollte nicht, daß sie enttäuscht war.

"Ich ..."

"Es ist in Ordnung, Jay. Die beiden haben einen Fehler gemacht. Sie kennen die Regeln, du nicht. Wenn du willst, kannst du nach dem Essen in den Truck oder im Wohnzimmer spielen."

"Nein, ich ..."

Kay kam wieder zurück und zog ihn mit sich. "Komm schon..."

Major Charles und Jarod sahen Sam an.

"Geht schon mal vor, ich komme gleich nach!" Sie setzte sich in den Ledersessel und drehte sich nicht mehr zu den beiden um.

Jarod und sein Vater verließen ebenfalls den Kellerraum. Als Jarod einen letzten Blick zurückwarf, konnte er auf einem Bildschirm Mr. Raines sehen, wie er mit Mr. Parker redete.

***

"Geh nicht fort, bleib bei mir!"

"Ich kann nicht bleiben, wenn du mir nicht vertraust!"

"Bitte, geh nicht, es ist so kalt ohne dich!"

Sie konnte seine Silhouette erkennen. Groß und stark, er durfte nicht gehen.

"Bleib!"

"Wer bin ich?"

"Bitte bleib!"

"Wer bin ich?"

Er löste sich auf, immer noch konnte sie sein Gesicht nicht sehen.

"Bleib bei mir!"

Sie konnte hören, daß er weinte, doch er wurde immer unsichtbarer...


***

"Sie haben Post." Parker sah auf den Bildschirm. Es war spät am Abend, die meisten waren schon längst zu Hause. Sie öffnete ihre Mailbox und las die Nachricht.

Buffalo, Snake Hills

Und eine kleine Skizze, nur einige Striche, die keinen Sinn ergaben. Sie starrte auf den Monitor, während der Drucker arbeitete.

"Was willst du jetzt schon wieder, Wunderknabe?"

Entschlossen riß sie das Papier vom Drucker und schloß den Laptop. Sie hängte sich ihre Jacke über die Schultern und ging zur Tür. Draußen stand Sam, ihr Sweeper, und sah sie fragend an.

"Ich fahr nach Buffalo, Sam."

"Soll ich mitkommen, Miss Parker?"

Sie sah ihn nachdenklich an.

"Nein, ist wahrscheinlich doch nichts Wichtiges. Das schaff ich auch allein, gehen Sie nach Hause!"

Der Mann nickte kurz und ging dann.

***

Plötzlich stand noch jemand neben ihr. Eine Frau, aber sie blendete sie so.

"Sag ihm, wer er ist!"

"Ich weiß es nicht!"

"Wenn du es ihm nicht sagst, kann er nicht bleiben!" Sie wurde ungeduldig und wütend, sie fror, war frustriert, sie wollte unbedingt, daß er blieb.

"Sag mir, wer er ist!"

"Die Antwort kennst du!"

"ICH KENNE SIE NICHT; HILF MIR DOCH!" Sie schluchzte auf.

"Wenn du dir nicht sicher bist, dann küß ihn einfach und höre, was dein Herz dir sagt!"

Sie sah zu der nun nur noch dünnen Gestalt.

"Beeil dich, oder er ist fort, für immer!" Die Frau neben ihr war verschwunden...


***

"Sie ist ziemlich wütend! Soll ich mal mit ihr reden?" Major Charles war den Kindern in die Küche gefolgt. Diese saßen stillschweigend am Tisch und würgten das Essen lustlos hinunter.

Kay schüttelte den Kopf: "Wir haben den Computer benutzt, obwohl sie es uns verboten hat. Wir sind selbst schuld, daß sie sauer ist."

"Mag sie uns jetzt nicht mehr?" Jay sah am mitgenommensten aus.

"Natürlich mag sie uns noch! Sie wird uns eine deftige Strafarbeit geben, wird eine Woche lang nicht mehr mit uns reden und unser schlechtes Gewissen wird immer bedrückender. Dann kommt eine Aussprache, wir entschuldigen uns und versprechen, daß wir das nie wieder tun werden, und sie vergibt uns." Jack wischte sich Tomatensoße vom Mund.

"Das hört sich an, als wenn ihr das schon mehrmals durchgespielt habt!"

Major Charles mußte lächeln. Kay blickte mit gesenktem Kopf zu Jack und beide mußten kichern.

"Na ja, sagen wir mal, es passiert schon ein, zweimal im Jahr!"

"Aber es ist immer wieder scheiße von Mum erwischt zu werden."

Kay seufzte: "Am schlimmsten ist es immer, daß sie so ruhig bleibt und wenn sie dann nicht mit uns spricht. Sie behandelt uns dann immer, als wenn wir Luft sind und..." Sie schluckte heftig. Major Charles hätte schwören können, daß er eine Träne gesehen hatte.

Jarod stand im Türrahmen zur Küche. Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Major Charles stand auf und ging zu ihm, als die drei Kinder die Küche verließen und nach oben schlichen. Der Major sah seinen Sohn an und ahnte, was der sich gerade fragte.

"Sie muß Grenzen setzen, Jarod. Eine Mutter muß auch mal streng sein."

Jarod sah ihn zweifelnd an.

"Du kannst dich nicht an deine Mutter erinnern, oder? Zumindest nicht, daß sie jemals wütend oder traurig war, weil ihr Rabauken nicht artig gewesen wart? Aber auch das gehört dazu, und es fällt nicht immer sehr leicht, streng zu bleiben!" Der Major grinste: "Zum Glück bin ich jetzt der Opa. Der ist nicht mehr für die Erziehungsfrage zuständig, sondern mehr für die Kür. Das Verwöhnprogramm!"

"Jay?"

"Ach, wenn ich Kay und Jack als Enkel ansehe, muß ich Jay das gleiche zugestehen."

Jarod setzte sich an den Tisch und begann ebenfalls zu essen. Neben sich hatte er seinen Laptop laufen und schrieb eine Mail an Sydney. Als er die Mail sendete, bekam er die Meldung: Sie haben Post. Langsam las er die Mail.

Entschlossen packte er seine Tasche, griff sich eine Jacke und die Autoschlüssel. Der Major sah ihn fragend an.

"Ich fahre weg, spätestens in drei Tagen bin ich wieder da!" Damit stieg er in das rostbraune Auto und fuhr weg.

"Jarod, falls du eben eine Mail be..."

Sam fand nur eine leere Küche vor. Der Major stand auf der Veranda und blickte hinaus auf den Weg zur Stadt.

"Wo ist Jarod?"

"Der ist eben gerade weggefahren. Er meinte, er wäre in 3 Tagen wieder da."

Sam kicherte.

"Diese Gören haben es wirklich faustdick hinter den Ohren." Mit schüttelndem Kopf ging sie zur Küche. Gott, sie hatte vielleicht Kohldampf. Sie würde sich später um das neueste "Projekt" ihrer lieben Kleinen kümmern.

***

"Wer bin ich?" Nur noch leise war seine verzweifelte Stimme zu hören. Sie rannte, sie rannte zu ihm; jemand schien sie festhalten zu wollen, doch sie riß sich los. Dann war sie bei ihm. Sie nahm ihre Hand und zog seinen Kopf zu sich...

***

Parker stieg langsam aus ihrem Auto. Sie war mit einem Privatjet des Centres hierher geflogen. Mit einem Mietwagen war sie das letzte Stück gefahren. Sie zückte vorsichtshalber ihre Waffe. Hier war es schon etwas hügelig, aber wo sollte sie genau hin? Sie starrte förmlich auf den Ausdruck der Skizze in ihrer Hand. Sie blickte nach oben und kontrollierte den Horizont. Diese Bäume da, sie standen genau wie diese beiden Striche. Und dahinten, das sah aus wie ein See, ähnlich im Umfang wie der Kreis auf dem Blatt. Sie lächelte. Eine Schatzkarte, und der Schatz war die Freiheit, wenn sie Jarod endlich fangen würde. Sie machte sich auf den Weg zwischen den Bäumen hindurch.

Jarod hatte sich einen Hubschrauber besorgt und landete auf einem Hügel. Aus der Luft hatte er ein Auto gesehen und eine kleine Gestalt, die sich ihren Weg durch den Wald bahnte. Er mußte grinsen, als er sich Parker vorstellte: mit ihren üblichen Hackenschuhen und im Minirock durch die Wildnis - sie fluchte sich bestimmt gerade die Seele aus dem Leib.

"Ich bring ihn um! Warum hab ich nicht Sam mitgenommen, dann hätte ich beim Wagen bleiben können!" Parker fluchte laut, schon wieder hatte sich ihr Absatz im Gestrüpp verfangen. Nachdenklich sah sie auf ihre Skizze.

"Hm, die Bäume, der See, was soll das bloß für ein komischer Bogen sein?" grübelte sie laut. Sie stand am Fuße eines Abhanges. Es ging ziemlich steil ca. 6 Meter hoch. Sie ließ ihre Augen an der natürlichen Wand entlangwandern, als sie es sah: ein Loch. Ein Eingang zu einer Höhle.

"Spielt der Wunderknabe etwa Grizzlybär?" murmelte sie und holte ihre Taschenlampe hervor.

Es war ziemlich dunkel, nur der Strahl ihrer Taschenlampe beleuchtete die feuchten Wände der Höhle. Es war eigentlich kaum etwas zu hören. Ein paar Tropfen, die sich von der Höhendecke lösten. Ein paar Bewegungen im Dunkel, wahrscheinlich Ratten oder so. Parker fluchte heftig. Eine Wand direkt vor ihr glänzte eigenartig. Sie trat einen Schritt vor, um besser sehen zu können.

Jarod hatte die Höhle gefunden. Er war Parker im angemessenen Abstand gefolgt und konnte ihre Flüche hören.

"Na Parker, das ist aber nicht die feine englische!" grinste er leise. Plötzlich hörte er ein dumpfes Geräusch, wie das Zerbersten von morschem Holz. Dann war es nur noch still.

"Parker? Alles in Ordnung?" Jarod lief zu der Stelle, wo er sie vermutete. Er verdammte sich, daß er keine Taschenlampe dabei hatte.

"Parker? Wo bist du?" Er drehte sich auf der Stelle und trat einen kleinen Schritt nach hinten. Dann verlor er den Halt unter den Füssen. Er fiel. Nicht lange und er landete auf etwas Weichem. Das Weiche unter ihm stöhnte.

"Parker?" Er tastete sich durchs Dunkel, bis er ihren Kopf fühlen konnte. Er legte sie vorsichtig in eine günstigere Lage. Dabei stieß er auf einen länglichen metallischen Gegenstand. Die Lampe. Er blendete zu Parker. Sie hatte sich etwas aufgesetzt und hielt sich ihren Arm. "Alles in Ordnung?"

"Mir geht es gut, Einstein. Hast du das etwa geplant?"

"Geplant? Daß du in eine Höhle gehst und dann mit mir in ein tiefes Loch fällst? Wohl kaum!"

Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Er sorgte sich um sie und sie hatte nur Anschuldigungen für ihn. "Ich habe eine Mail bekommen, daß ich etwas über meine Familie finde. Ich dachte, Angelo hätte sie mir geschickt!"

Sie sah ihn an. Obwohl ihre Haare ziemlich unordentlich ins Gesicht fielen, konnte er doch Blut an der Stirn sehen. Er beugte sich zu ihr, doch sie robbte von ihm zurück.

"Du blutest, und ich will sehen, wie schlimm es ist. Stell dich nicht so an, Parker!" Jarod griff rigoros ihren Arm und zog sie zu sich. Dann betastete er ihre Stirn.

Sie hielt die Luft an. Er war so nah.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Laut sagte sie: "Was sind wir heute, Doktor?"

"Genau, Parker, und du bist Patient. Und der Onkel Doktor sagt: stillhalten!" Sein Griff wurde stärker. Sie bemerkte, daß sie sich unwillkürlich angespannt hatte und entkrampfte sich wieder.

"Und, wie sieht es aus?"

"Nicht so schlimm, ist nur ein kleiner Kratzer, aber ich werde das Blut mit einem Taschentuch stoppen müssen." Während er ihre Kopfverletzung verarztete, sah sie ihn an. Sie hielt die Taschenlampe, die er ihr in die Hand gedrückt hatte. So konnte sie sein Gesicht sehen. Er sah verdammt gut aus, wenn auch die gerunzelte Stirn auf Ärger – oder war das Sorge? – hindeutete.

"Ich habe auch eine Mail bekommen!" Sie wedelte mit ihrer Schatzkarte, die sie beim Fall in ihrer Hand festgekrallt hatte.

"Von wem?"

"Keine Ahnung, kein Absender!"

"Und dann bist du allein hierher gekommen, also wirklich, Parker. Es hätte doch sonstwas..."

"Halt bloß die Klappe!" Sie winkte ab.

"So, fertig!" Er richtete sich auf. " Gib mir mal die Lampe, mal sehen, wie wir hier wieder rauskommen!" Er leuchtete das Loch ab. "Sieht aus wie ein Bergschacht, aber der Zugang dort hinten ist verschüttet! Wir kommen nur oben wieder raus!"

"Tolle Beobachtung Wunderknabe!" knurrte sie.

Sie grunzte abfällig. "Okay, ich steig auf deine Schultern und klettere raus. Wie wär's damit?"

"Dann rufst du das Centre und die holen mich ab. Hast du dir das so ungefähr gedacht? Oder wolltest du mich hochziehen? "

"Eigentlich ersteres!" Ihr Lächeln verzog sich sonderbar im Schein der Lampe.

"Wir machen es andersrum: ich steige auf deine Schultern, hangele mich rauf und zieh dich hoch!" entgegnete Jarod. Sie wollte noch etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Sie nickte zustimmend.

Also versuchten sie es. Jarod versuchte, soviel Gewicht wie möglich auf die Wand zu verlegen, um Parker zu entlasten. Er suchte einen Absatz, wo er seinen Fuß raufstellen konnte. Er schwang sich nach oben und hielt sich in einem Loch an der Wand fest. Er konnte etwas glattes, kühles unter seiner Hand spüren, dann durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Er verlor den Halt und fiel. Parker beugte sich über ihn.

"Was war los?"

"Ich weiß nicht." Er leuchtete mit der Taschenlampe auf seine Hand. Zwei kleine Bißwunden waren zu sehen.

"Ist es das, was ich denke, das es ist?" Parker starrte ungläubig auf die Hand.

Jarod rieb sich den Arm. Seit einer Viertelstunde saßen sie jetzt schon da unten. Er hatte Parker verboten, sich nach oben zu hangeln. Die Schlange könnte immer noch da sein. Ihm war heiß, und er schwitzte.

"Ich vermute, das war eine Giftschlange!" würgte er hervor. Er konnte Parkers Gesicht nicht sehen, weil sie ihn mit der Lampe anstrahlte. Er schloß die Augen; er war so müde. Sie fuhr mit ihrer Hand über seine Stirn. So schön kühl, warum ließ sie die Hand nicht einfach da?

Parker beobachtete Jarod. Er war ganz blaß und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Vorsichtig wischte sie ihn ab. Er hatte die Augen geschlossen. Sie drückte ihm die Lampe in die Hand und zerriß ihr Unterhemd. Sie schnürte damit den Arm halbwegs ab. Plötzlich flackerte der Lichtkegel und dann erlosch das Licht. Sie saßen in völliger Dunkelheit.

"Hey, du Genie, mach das Licht wieder an!"

"Die Batterie ist leer, Parker. Du solltest immer ein Paar neue Batterien einlegen, bevor du in irgendwelche Löcher fällst!" Sie konnte seine Müdigkeit hören. Bald würde er sein Bewußtsein verlieren.

"Bleib bei mir!" flüsterte sie...

"Jarod, werde wach! Jarod, bleib bei mir!" Sie rüttelte ihn. Unendlich langsam öffnete er seine Augen. Seine Lippen fühlten sich trocken an, und er konnte nicht schlucken. Ihm war so heiß. Wieso ließ sie ihn nicht einfach schlafen?

"Laß mich, Parker!"

"Komm schon, Wunderknabe! Bleib wach!"

"Laß mich!"

"Jarod! Du Idiot, ich muß dich noch ins Centre bringen, damit ich frei sein kann! Du darfst nicht sterben, dann kann ich dich ja nicht mehr ärgern!"

Er lachte hustend. "Gefällt dir die Jagd, Parker?"

"Man könnte sagen, ich habe mich dran gewöhnt, Wunderknabe!"

"Schnappst du mich deshalb nicht?"

"Ich hatte nie die Möglichkeit..."

"Du warst immer so nah dran, Parker! Viel zu oft so nahe!" Seine Stimme wurde immer leiser und schwächer.

"Bleib hier, Jarod. Bleib hier!" Sie raffte seinen Körper hoch und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Leicht wiegte sie sie beide hin und her.

"Wieso, Parker, warum sollte ich bleiben?" Jarod genoß die Nähe, hatte aber den starken Verdacht, daß er halluzinierte.

Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Er atmete so schwer. Sein Kopf war naß, und er brannte förmlich. Panik stieg in ihr auf. Was, wenn er es nicht überlebte?

"Du darfst mich nicht allein lassen. Hörst du, Jarod? Du darfst mich nicht allein lassen." Sie drückte seinen Kopf fest an sich.

"Du brauchst mich nicht. Du bist stark!" Die letzten Worte hauchte er tonlos und hustete schwer. Er war so müde.

"Ich brauche dich, Jarod. Bleib bei mir!" Sie konnte sich der Tränen nicht erwehren. Sie war so hilflos. Sie konnte ihm nicht helfen. Er murmelte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Sie beugte sich zu ihm runter; sie konnte den schwachen Atem auf ihrer Haut spüren. "Bleib bei mir, Jarod!" Sie küßte ihn. Sie wußte nicht warum, vielleicht, weil sie diese wahnsinnige Idee hatte, daß er aufwachen würde, wenn sie ihn küßte.

Er schien zu träumen. Parker hielt ihn in den Armen. Sie wog ihn sanft hin und her. Es war so ruhig und friedlich. So, als wäre alles gut.

"Bleib bei mir Jarod!" Er fühlte ihre Lippen auf seinem Mund. So weich, so süß. Er erwiderte ihren Kuß. Das letzte bißchen Kraft für einen letzten Kuß. Beinahe glaubte er, über sich einen Lichtstrahl sehen zu können.

Ihr Atem beschleunigte sich, als er den Kuß erwiderte. Seine Arme hielten sich an ihr fest, als wäre er kurz vor dem Ertrinken und nur noch ihr Kuß rettete ihn davor. Eine Träne rann über ihre Wange. Sie wollte ihn nicht loslassen. Wenn sie das tat, verlor sie ihn. Und so küßte sie ihn. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit.

Der Kuß fühlte sich so warm an, so richtig...

"Parker? Jarod? Seid ihr zwei hier unten?"

Eine Stimme ließ Parker nach oben blicken. Ein Lichtschimmer schwebte über dem Loch, in dem sie gefangen waren.

"Jarod? Alles in Ordnung?"

Sam.

"SAM, wir sind hier! Sei vorsichtig! Sam!" Oh Gott, sie hatte sie gefunden. "Jarod, Sam ist da, Sam ist hier. Alles wird gut!" Doch Jarod lag schwer auf ihrem Schoß. Sie konnte kaum noch seinen Atem spüren. "Beeil dich, Sam. Jarod wurde von einer Schlange gebissen!"

Am Rand des Loches konnte sie jetzt eine Gestalt erkennen.

"Eine Schlange? Was für eine Schlange?"

"Ich weiß es nicht! Er wollte hochklettern und hat sich irgendwo festgehalten, und dann hat sie zugebissen. Aber hier unten ist sie nicht - hoffe ich!" fügte sie leise hinzu. Parker konnte hören, wie Sam ein paar Anweisungen an jemanden gab. Dann leuchtete sie herunter.

"Oh, ihr zwei Süßen seht ja gar nicht gut aus! Ihr solltet euch für eure Rendezvous andere Treffpunkte aussuchen!"

Parker mußte unwillkürlich lachen.

"Halt die Klappe und hol uns hier lieber raus. Der Wunderknabe wird langsam zu schwer für mich!" Sie setzte wieder ihre kühle Miene auf, doch ihre Sorgen um Jarod waren immer noch da.

"Na, dann wollen wir eure Party beenden!" Sam verschwand kurz aus Parkers Sicht, dafür erschien Jays Kopf.

"Sie holt noch ein paar Seile! Sie kommt bald wieder!" Er leuchtete auf den reglosen Körper von Jarod. Dann leuchtete er den Rand ab und sah die Schlange. Er nahm den Revolver, den Sam ihm gegeben hatte und zielte auf das Tier.

"Treffer!" Zufrieden steckte er die Waffe wieder weg. Nun war auch Sam wieder zu sehen. Sie redete leise mit Jay.

"Gute Nachrichten! Jay weiß, welche Schlange Jarod geärgert hat und holt das passende Antiserum. In der Zeit können wir ihn ja schon mal nach draußen verfrachten." Eine letzte Träne der Erleichterung lief über Parkers Gesicht. Sie griff nach der Schlaufe, die Sam ihr runtergelassen hatte und band Jarod dran fest.

"Wie steht es um ihn?" Parker stand unruhig da, als Sam sie verarztete.

"Halt still! Es geht ihm gut. Das Antiserum wirkt ziemlich schnell. Er dürfte bald wieder zu sich kommen." Sam tupfte die letzten Schrammen an Parkers Armen mit Jod ab.

"Woher wußtest du, wo wir sind?"

"Ich habe einen Informanten im Centre und der hat mir erzählt, daß du alleine unterwegs warst. Und Jarod hat eine Mail bekommen, daß er hier etwas über seine Vergangenheit erfahren würde."

"Und?"

"Ich bin hergekommen mit Jay. Nur zur Kontrolle! Da hab ich doch so einen Typen um dein Auto schleichen sehen. Häßlich, ich glaube, es war einer von Parkers... ähm , ich meine ein Sweeper deines Vaters."

"Warum sollte mein Vater ...?"

"Entscheidungen. Für wen würdest du dich entscheiden? Jarod oder das Centre! – Vermute ich." Sam sah Parker fragend von der Seite an.

"Was?"

"Würde mich auch schon interessieren!"

"Die Frage hat sich ja nun nicht gestellt, ihr seid in der Überzahl."

"Aha."

"Was heißt hier 'aha'?"

"Du hättest ihn wirklich in die Folterburg zurückgebracht?"

"Ich weiß es nicht!"

"Du solltest es aber langsam wissen, Parker. Der Countdown läuft, und du weißt das!" Sam sah ihr auffordernd in die Augen und lief zu Jay.

"Parker, was ist passiert?"

Jarod kam langsam wieder zu sich. Er sah schon besser aus. Sie setzte ihr Pokerface auf.

"Wir sind eingebrochen in eine Höhle; du wurdest von einer Schlange gebissen. Sam hat uns rausgeholt und nimmt dich wieder mit. Du bist diesmal noch mit einem blauen Auge davon gekommen, Wunderknabe!"

"Ich wurde von einer Schlange gebissen?" Er konnte sich nicht erinnern. Alles, an was er denken konnte, war der Kuß. "Hab ich halluziniert? Ich hätte schwören können...?" Er versuchte sich auf die vergangenen Stunden zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen.

"Was?" Parker hielt die Luft an. Er schüttelte mit dem Kopf.

"Ach, nein. Es ist nichts." Er lächelte gequält und schloß die Augen. Parker sah ihn an.

"Wir fliegen jetzt! Der Wagen da hinten ist geklaut! Das Centre macht doch bestimmt sauber, oder?"

Sam winkte und setzte sich die Kopfhörer auf. Sie würde den Hubschrauber zurückfliegen. Parker lächelte kurz und winkte. Ein letzter Blick auf Jarod, der sich inzwischen hingesetzt hatte. Ihre Blicke begegneten sich.

"Bleib bei mir, Jarod!"

Sie holte tief Luft und öffnete die Augen. Die Sonne berührte zartrosa die Baumwipfel in der Ferne. Mit ihren Fingerspitzen fuhr sie über ihre Lippen. Es hatte sich so richtig angefühlt.









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