Einsichten by Miss Bit, admin

1. Part 1 by Miss Bit

2. Part 2 by Miss Bit

Part 1 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie "The Pretender" gehören nicht mir, sondern MTM und NBC Television. Ich habe sie mir nur ausgeliehen. Alle anderen Charaktere sind mein 'Eigentum'. Diese Story wurde nur zu meinem Vergnügen und dem anderer Fans geschrieben und veröffentlicht. Ich verfolge damit keinerlei finanzielle Interessen irgendeiner Art.

Spoiler: Bis in die dritte Staffel. Dazu ein paar Worte... Als Pretender-Junkie halte ich mich auf dem laufenden und kann auch dem kleinsten Spoiler nicht widerstehen. Bei dieser Geschichte habe ich mich aber nicht streng an die Ereignisse der dritten Staffel gehalten, sondern manches weggelassen und einiges dazu erfunden. Aber wenn ich mit den Entwicklungen dieser Staffel hundertprozentig zufrieden wäre, würde ich ja keine Fanfic schreiben...

Zur Story: Eine kleine "Was wäre wenn"-Geschichte. Miss Parker greift zu verzweifelten Maßnahmen, und dadurch nimmt nicht nur ihr Leben eine unerwartete Wendung...

Und jetzt: Viel Spaß beim Lesen!




Einsichten

Teil I
von Miss Bit






Prolog
SL-22
Das Centre
Blue Cove, Delaware
23:45



Eine unheimliche Kombination von Geräuschen erklang in dem dunklen Korridor, der zu einem Raum führte, den Lyle gerne als Halle der Wahrheit bezeichnete. Zuerst war ein leises, aber beständiges Quietschen zu hören, wie von einer selten benutzten, schlecht geölten Tür. Dann gesellte sich ein unregelmäßiges, keuchendes Atemgeräusch hinzu.

Mr. Raines schleppte sich mit der für ihn typischen behäbigen Geschwindigkeit durch den Flur, bis er den Raum mit der Bezeichnung SL-22-157 erreicht hatte. Er preßte seine Hand auf eine unscheinbare Fläche neben der Tür, die daraufhin geräuschlos zur Seite glitt.

Mr. Lyle verließ sein Versteck. Es war nicht nötig, Raines zu folgen - er hatte andere Möglichkeiten, um herauszufinden, was auf der anderen Seite der Tür vor sich ging. Ein paar Türen weiter befand sich ein kleiner Raum, der früher einmal als Aufenthaltsraum für Raines Sweeper gedient hatte. Dort hatte Lyle seine Ausrüstung aufgebaut, die es ihm erlaubte, alles zu verfolgen, was in der Halle der Wahrheit passierte.

Die Halle war Raines private Folterkammer, und Lyle hatte keinen Zweifel daran, daß Jarods erster Weg ihn dorthin führen würde, sobald es Miss Parker gelungen war, ihn ins Centre zurückzubringen. Aber das war nicht sein Problem. Er war aus einem ganz anderen Grund hier. Der Grund hieß Mr. Parker.

Rein zufällig hatte Lyle mitbekommen, wie die beiden sich hier verabredet hatten. Sein ausgeprägter Überlebensinstinkt ließ ihn vermuten, daß die beiden etwas planten, möglicherweise sogar gegen ihn. Diesmal wollte Lyle darauf vorbereitet sein. Er schaltete die Überwachungsgeräte ein und sah gespannt auf den Monitor.

"... ist nicht mehr als eine Gefährdung für uns alle", zischte Raines gerade wütend. Der alte Parker verzog das Gesicht - schwer zu sagen, ob verärgert oder gelangweilt.

"Sie ist immerhin meine Tochter, Raines."

Oh, es geht hier überhaupt nicht um mich, dachte Lyle einigermaßen fasziniert. Offenbar hat meine Schwester mich für den Augenblick von Raines Abschußliste verdrängt. Was für eine Verschwendung.

"Seit wann spielen Familienbindungen hier eine Rolle?"

"Ich werde meine Zustimmung nicht einfach so erteilen", donnerte Parker, jetzt eindeutig wütend. "Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten."

"Eine sehr vernünftige Entscheidung", keuchte Raines spöttisch, doch dann fuhr er ärgerlich fort. "Ihr Zögern wegen Catherines Einmischung hat uns viel Ärger eingebracht."

"Das wird nicht noch einmal passieren, dafür werde ich persönlich sorgen."

"Hoffentlich."

Raines drehte sich um und schlurfte zur Tür, während Lyle beeindruckt mit der Zunge schnalzte. Seine Schwester steckte in weitaus schlimmeren Schwierigkeiten, als er vermutet hatte. Und sie ahnte nicht das Geringste.



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
10:21



"Hallo, Sydney. Haben Sie etwas Zeit?"

"Hallo, Miss Parker. Worum geht es denn?"

"Ich möchte Sie etwas fragen. Die Roten Akten spielen dabei eine Rolle."

"Also hat es etwas mit Jarod zu tun", schloß Sydney. Miss Parker verzog das Gesicht.

"Nein, nicht wirklich. Nur indirekt."

"Miss Parker, Sie werden schon etwas deutlicher werden müssen."

Sie beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen.

"Helfen Sie mir dabei, eine Simulation zu machen."



SL 7
Das Centre
Blue Cove, Delaware
10:35



"Miss Parker, das ist verrückt."

"Vielen Dank, Dr. Freud", gab sie trocken zurück.

Ihr war klar gewesen, daß Sydney die Idee überhaupt nicht mögen würde, aber das spielte für sie kaum eine Rolle. Allerdings brauchte sie seine Hilfe, um die Simulation durchzuführen.

"Sie sind kein Pretender, der Versuch wäre also sinnlos."

"Die Roten Akten sagen etwas anderes. Syd, Sie wissen so gut wie ich, daß jedes Kind, über das eine solche Akte angelegt wurde, eine besondere Fähigkeit besitzt. Alles, was ich möchte, ist herauszufinden, ob das auch für mich gilt."

Sydney schien über ihr Argument nachzudenken, dann neigte er den Kopf.

"Mal angenommen, Sie besitzen tatsächlich eine natürliche Begabung... Warum hat Raines dann nie versucht, das auszunutzen?"

"Vielleicht hat meine Mutter mich beschützt. Vielleicht erschienen die Talente der anderen Kinder auch einfach nur lohnenswerter. Wer weiß schon, was in seinem kranken Hirn vor sich geht? Fragen Sie ihn, nicht mich." Miss Parker zögerte kurz. Als sie weitersprach, nahm ihre Stimme einen drängenden Ton an. "Kommen Sie schon, Sydney. Ich möchte doch nur Gewißheit haben. Eine einzige Simulation. Dabei kann doch nicht viel schiefgehen, oder? Es ist ja nicht so, daß sie ein Kind ausnutzen, das nicht ahnt, was es da tut. Ich habe mich aus freien Stücken dazu entschieden."

An Sydneys Reaktion erkannte sie, daß sie mit ihrer Argumentation ins Schwarze getroffen hatte. Ihn plagten noch immer Schuldgefühle wegen Jarod. Es dauerte lange, bis er schließlich antwortete. Er klang resigniert.

"Sie haben gefragt, was schiefgehen kann. Nicht viel, wenn Sie kein Pretender sind. Sollten Sie aber wirklich die Gabe besitzen, kann das hier sehr gefährlich werden. Ich kann Sie vielleicht nicht beschützen."

Sie ging zu ihm und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.

"Schon gut, Sydney. Ich trage das Risiko. Was auch immer passiert - Sie trifft keine Schuld. Oh, und noch etwas. Ich habe nichts dagegen, wenn die Kameras eingeschaltet sind, aber außer Ihnen soll niemand etwas davon erfahren. Raines macht mir das Leben auch so schon schwer genug."

Sydney nickte und ging zu einem der Schränke, die in dem Simulationsraum standen. Nachdem er ihn geöffnet hatte, betrachtete er eine Weile den Inhalt, um dann eine Diskette herauszunehmen. Zögernd ging er damit zurück zu Miss Parker. Neugierig sah sie auf den Datenträger in seiner Hand.

"Was ist das?" wollte sie von ihm wissen.

"Eine Simulation, die die Regierung bei uns in Auftrag gegeben hat. Das... Problem hat sich allerdings von selbst gelöst, bevor Jarod die Gelegenheit hatte, daran zu arbeiten. Deshalb hat er die Diskette bei seiner Flucht wohl auch zurückgelassen. Für eine erste Simulation ist sie zwar nur bedingt geeignet..."

"Lassen Sie uns anfangen."

"Miss Parker!" Sie sah ihn überrascht an, als sie den wütenden Unterton in seiner Stimme hörte. Normalerweise blieb er immer ruhig, selbst wenn sie versuchte, ihn zu reizen. "Das hier ist kein Spiel! Selbst Jarod hat einige Vorbereitungszeit und ein spezielles Training gebraucht, bevor er angefangen hat, Situationen zu simulieren. Das hier ist Wahnsinn."

"Sydney, ich weiß das. Aber mir läuft die Zeit davon. Wie lange, glauben Sie, wird das Centre noch dabei zusehen, wie Jarod uns immer wieder entwischt? Ungewöhnliche Situationen erfordern eben ungewöhnliche Methoden."

Sydney sah sie lange an, ehe er nachgab.

"Bevor wir anfangen, gibt es noch einige Regeln, die Sie unbedingt beachten müssen. Hören Sie mir jetzt gut zu..."



SL 7
Das Centre
Blue Cove, Delaware
15:13



"Was sehen Sie?"

"Da sind... mehrere Autos hinter mir. Es ist die Polizei!"

"Was denken Sie?"

"Ich... ich weiß nicht. Ich habe Angst..."

"Miss Parker, konzentrieren Sie sich! Was denken Sie?"

Sie befand sich mitten in einer Simulation. Die Situation war ihr denkbar einfach erschienen, dennoch bereitete sie ihr jetzt erhebliche Probleme. Es ging um Ruth Stiller, eine junge Frau, die vor beinahe zwanzig Jahren eine Bank überfallen hatte und dann mit der Beute quer durch drei Staaten geflohen war. Offenbar war der Überfall mehr eine spontane Idee gewesen, was die Flucht erschwert hatte.

"Was denken Sie?"

Sydneys Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Miss Parker versuchte, sich auf Ruth einzulassen, sich in ihre Situation einzufühlen so gut sie konnte, aber sie sträubte sich noch immer dagegen, sich zu öffnen.

"Ich beginne, mir Vorwürfe zu machen. Gleichzeitig versuche ich fieberhaft, mir etwas einfallen zu lassen, wie ich wieder hier rauskomme. Die Polizeiautos kommen immer näher! Ich gerate in Panik. Ich muß hier raus. Im Auto bin ich nicht länger sicher."

"Was tun Sie als nächstes?"

Nachdem Ruth das Auto verlassen hatte, war sie in ein kleines Restaurant gerannt, wo sie mehrere Geiseln genommen hatte. Sie benutzte dazu die Waffe, die sie dem uralten Wachmann in der Bank abgenommen hatte. Nach und nach war es der Polizei gelungen, sie dazu zu überreden, alle bis auf zwei Geiseln gehen zu lassen.

"Wieso lassen Sie die letzten beiden Geiseln nicht auch gehen?"

"Ich brauche sie noch. Was hindert die Polizei denn, mich zu erschießen, wenn ich sie auch noch gehen lasse? Sie müssen bleiben, aber ich werde ihnen nichts tun."

"Wieso glauben Sie, daß die Polizei Sie erschießen wird, wenn Sie alle Geiseln gehen lassen?"

"Es... es ist nur ein Gefühl."

"Miss Parker, Sie müssen sich konzentrieren."

"Verdammt, Sydney, ich bin konzentriert! Das ist es, was ich in diesem Moment fühle - was sie empfunden hat."

Innerlich fragte sie sich, ob dem wirklich so war. Vielleicht war es nur das, von dem sie glaubte, daß Ruth es gefühlt haben mußte. Sie bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen, so wie Sydney es ihr gezeigt hatte. Wenn es ihr nicht gelang, die letzte Sperre in sich zu lösen, konnte sie keinen Zugang zu Ruth finden.

"Was passiert jetzt?"

Sie griff nach den beiden Beuteln, die denen ähnelten, in denen Ruth ihre Beute transportiert hatte. Ihr Blick glitt wie von selbst zu dem großen Spiegel hinter dem Tresen. Etwas Blaues blitzte kurz darin auf - und dann verlor Miss Parker plötzlich die Kontrolle über sich. Für einen Sekundenbruchteil hörte sie auf, sie selbst zu sein und wurde zu Ruth. Sie sah, was sie gesehen hatte, fühlte, was sie gefühlte hatte, wußte, was sie gewußt hatte.

Eine unglaubliche Panik bemächtigte sich ihrer. Von ihrer inneren Stimme getrieben sah sie in einen der Beutel, und statt Geld sah sie Dokumente darin. Wieso hatte man ihr das gegeben? Sie hatte doch den Tresorinhalt verlangt...

Plötzlich zerriß ein Schuß die Stille. Eine der Geiseln schrie auf. Die andere Geisel war leblos in sich zusammengesackt, getroffen von einem tödlichen Schuß. Fassungslos starrte Ruth auf ihre Waffe. Dann flog die Tür auf, und bewaffnete Polizisten stürmten das Restaurant. Ruth wußte, was jetzt passieren würde - sie hatte es die ganze Zeit geahnt. Sie schrie, als die ersten Kugeln sie trafen, bis ein Schuß in den Kopf sie für immer zum Schweigen brachte.



Miss Parker schrie und schrie. Sydney kniete hilflos neben ihr am Boden und versuchte, sie zu beruhigen. Verdammt, er hätte es kommen sehen sollen! Sie hatte auf seine letzten Fragen nicht reagiert, dann hatte sich ihre gesamte Haltung plötzlich verändert. Fassungslos hatte Sydney dasselbe Wunder beobachtet, das er auch schon bei Jarod gesehen hatte, doch dann war alles anders gelaufen, als er es erwartet hatte.

Zunächst hatte es ohnehin nicht so ausgesehen, als würde sich Miss Parker auf die Simulation einlassen. Sicher, sie hatte es versucht, aber sie konnte ihre Distanz einfach nicht aufgeben. Sydney hatte damit gerechnet. Doch jetzt sah es fast so aus, als sei sie wirklich ein Pretender.

"Miss Parker!"

Er mußte so schnell wie möglich zu ihr durchdringen, sonst verlor er sie womöglich. Auch mit Jarod war ihm das zweimal beinahe passiert. Miss Parker hatte sich zu sehr auf die Simulation eingelassen und hatte jetzt Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden. Sydney mußte schnell handeln, sonst nahm sie vielleicht ernsthaften Schaden.

"Miss Parker, hören Sie auf meine Stimme. Es ist vorbei. Beruhigen Sie sich."

Besorgt sah er, daß seine Bemühungen um sie erfolglos blieben. Angst erfaßte ihn. Er faßte sie an den Schultern.

"Miss Parker!"

Während er ihren Namen schrie, schüttelte er sie leicht, dann etwas stärker, bis ihm plötzlich bewußt wurde, daß sie nicht mehr schrie.

"Syd..."

Ihre Stimme klang rauh durch die Überbeanspruchung und zitterte ein wenig.

"Miss Parker, Gott sei Dank", sagte Sydney erleichtert und zog sie kurz in seine Arme. Dann ließ er sie los und betrachtete sie eingehend. "Wie fühlen Sie sich?"

"Reif für den Psychiater, würde ich sagen", meinte sie mit dem Hauch eines Lächelns.

Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst.

"Was ist passiert?"

"Syd, es war unglaublich. Für einen Moment, ganz kurz, war ich Ruth. Ich meine, ich habe mich nicht nur so gefühlt, als wäre ich sie - ich war es wirklich."

"Mhm, es sieht fast so aus, als hätten Sie wirklich das Pretender-Gen in sich."

Miss Parker stieß die Luft aus, und Sydney wurde plötzlich klar, daß sie nicht wirklich damit gerechnet hatte. Sie schüttelte leicht den Kopf, dann verengten sich ihre Augen plötzlich.

"Sie haben sie umgebracht!"

"Wen?" fragte Sydney überrascht.

"Ruth natürlich. Gott, Sydney, das arme Mädchen."

Er sah sie verblüfft an. Ihre Mitleidsbekundung überraschte ihn mindestens ebenso sehr wie die Information, die sie ihm gerade geliefert hatte.

"Wer hat sie umgebracht?"

"Das FBI. Kein Wunder, daß die Regierung plötzlich nicht mehr wollte, daß die Simulation durchgeführt wird. Als ich in den Spiegel gesehen habe, konnte ich etwas Blaues sehen - eine FBI-Jacke. In den Beuteln mit der Beute befand sich überhaupt kein Geld, sondern Dokumente. Auf einigen befand sich ein Stempel des FBI. Natürlich, wo sollten brisante Dokumente sicherer sein als in den Schließfächern irgendeiner Provinzbank, die nur ein Idiot überfallen würde?"

"Und als Ruth den Kassierer aufgefordert hat, ihr den Inhalt des Tresors zu geben..."

"... hat er ihr die Dokumente gegeben, richtig. Bestimmt hat er nicht einmal gewußt, was er da weitergibt. Die Geisel wurde nicht von Ruth erschossen, sondern von einem Scharfschützen des FBI. Die wußten doch genau, wie die Polizei auf eine tote Geisel reagieren würde."

"Von uns wollte die Regierung also nur wissen, ob Ruth gewußt hat, was sie getan hat, ob jemand sie engagiert hatte."

"Sie müssen ihren Irrtum selbst bemerkt haben und haben dann natürlich alles versucht, um ihn zu vertuschen. Und das alles nur wegen ein paar Dokumenten. Irgendwie erinnert mich das ans Centre."

Miss Parker seufzte, und Sydney verstand sie nur zu gut. Er reichte ihr die Hand.

"Kommen Sie, wir gehen besser wieder nach oben, bevor uns jemand vermißt."



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
16:44



Miss Parker saß auf der Couch in Sydneys Büro und versuchte, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Die Erlebnisse im Simulationsraum hatten sie aufgewühlt. Sie spürte, daß eine Veränderung bevorstand. Als sie aufsah, begegnete sie Sydneys Blick, der hinter seinem Schreibtisch saß und sie aufmerksam musterte.

"Wie fühlen Sie sich, Miss Parker?"

"Immer der Psychiater, was?" fragte sie, froh, daß er sich wirklich um sie zu sorgen schien. Aber sie brauchte noch einen Moment, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Also beschloß sie, Sydney für eine Weile mit seinem Lieblingsthema abzulenken. "War die Arbeit mit Jarod auch so... ungewöhnlich?"

Natürlich durchschaute er ihr Manöver, ging aber trotzdem darauf ein. Sein Stirnrunzeln verriet ihr, daß er mit den Gedanken nicht wirklich bei Jarod war, als er ihr antwortete.

"Ja, das war sie. Allerdings habe ich nur selten erlebt, daß er so stark auf eine Simulation reagiert hat wie sie vorhin. Das ist eigentlich nur vorgekommen, wenn ihn die Simulation an seine eigene Situation erinnert hat."

Miss Parker wölbte belustigt die Brauen.

"Ich habe nicht vor, eine Bank zu überfallen oder Geiseln zu nehmen."

"Das habe ich auch nicht gesagt. Miss Parker, Sie sollten wirklich mit mir darüber reden. Es handelt sich um ein einschneidendes Erlebnis, das einiges in Ihrem Leben verändern könnte. Ich..."

Ein leises Klopfen unterbrach ihn. Verärgert drehte er sich zur Tür um.

"Ja?"

Die Tür öffnete sich, und Lyle kam herein.

"Ah, da sind Sie ja. Hallo, Schwesterchen. Warum so gereizt, Sydney?"

"Ich bin nicht gereizt. Kann ich irgend etwas für Sie tun?"

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß er Lyle als unerwünschte Störung betrachtete. Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Ich suche euch beide schon eine Weile. Broots sucht Sie, Sydney. Und Dad möchte uns sehen, Parker."

Sie tauschte einen langen Blick mit Sydney und stand dann auf.

"Wir führen unsere Unterhaltung später weiter, in Ordnung, Sydney?"

Er nickte langsam.

"Na schön, aber vergessen Sie es nicht."

"Das werde ich nicht", versprach sie. "Vielen Dank für Ihre Hilfe."

"Gern geschehen, Miss Parker."

Wenn er überrascht war, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Sie lächelte ihn warm an und verließ dann hinter Lyle sein Büro.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
19:07



Miss Parker betrat den kleinen Raum, der ihr und ihrem Team in den letzten zweieinhalb Jahren als Treffpunkt und Hauptquartier für die Suche nach Jarod gedient hatte. Broots saß konzentriert vor seinem Computerbildschirm und sah sich nur kurz um, als er sie kommen hörte. Sydney lächelte, als er sie sah.

"Ah, Miss Parker. Das war aber ein langes Gespräch."

"Nein, Daddy hat sich ziemlich kurz gefaßt, aber ich hatte noch etwas anderes zu erledigen. Irgendwas Neues, Broots?"

Der Techniker zuckte zusammen, als sie ihn ansprach. Sie schüttelte leicht den Kopf.

"Nein, Miss Parker. Bisher hat Jarod nichts von sich hören lassen, und wir haben keine Spur von ihm."

"Na gut, machen Sie weiter. Da nichts Dringendes mehr anliegt, werde ich jetzt nach Hause fahren."

Sydney sah aus, als wollte er etwas sagen, doch dann überlegte er es sich anders und nickte nur.

"Gute Nacht, Miss Parker. Bis morgen."

"Nacht, Syd, Broots."

Fast widerstrebend verließ Miss Parker den Raum und wünschte, sie könnte wenigstens Sydney in ihre Pläne einweihen.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
23:11



Zum letzten Mal überprüfte sie ihre Tasche. Als sie sicher war, daß sie nichts vergessen hatte, sah sie sich ein letztes Mal in ihrem Haus um. Schließlich griff sie nach der Reisetasche und ging nach draußen. Sorgfältig schloß sie die Tür ab, bevor sie in ihren Wagen stieg und sich auf den langen Weg zum Flughafen machte.

Während der Fahrt kreisten ihre Gedanken um die Ereignisse dieses Tages. Am meisten beschäftigte sie aber das Gespräch, das sie mit ihrem Vater geführt hatte. Es war nicht das, was er gesagt hatte, sondern was sie in seinem Büro gesehen hatte, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Als sie und Lyle das Büro betreten hatten, war ihr Vater offenbar mit etwas beschäftigt gewesen. Sobald er sie bemerkt hatte, hatte er die Akte auf dem Schreibtisch geschlossen. Allerdings hatte er ein einzelnes Dokument vergessen. Miss Parker hatte einen kurzen, aber aufschlußreichen Blick darauf werfen können, bevor ihr Vater sich auch darum gekümmert hatte.

Das Dokument stammte aus dem Tower und unterlag der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe. Sie hatte dem Blatt nur zwei Informationen entnehmen können, aber das genügte völlig. Es handelte sich um einen Namen und ein Land. Offenbar war es dem Centre gelungen, Jarods Vater in England ausfindig zu machen.

Trotz ihres Versprechens, die Sache ruhen zu lassen, plante sie jetzt nach Großbritannien zu reisen. Allerdings war sie nicht länger auf Rache aus. Alles, was sie wollte, waren ein paar Antworten, und die würde sie gewiß nicht von einem Toten bekommen.


Heathrow Flughafen
London, England
Am nächsten Tag
13:25



Miss Parker streckte sich ausgiebig, nachdem sie das Flugzeug endlich verlassen hatte. Zu ihrer Überraschung präsentierte sich das englische Wetter von seiner besten Seite und begrüßte sie mit strahlendem Sonnenschein. Ihre Stimmung besserte sich schlagartig. Großzügig ließ sie alle Formalitäten über sich ergehen, dann rief sie sich ein Taxi und ließ sich in ihr Hotel bringen. Sie hatte einigen Schlaf nachzuholen, bevor sie mit ihren Nachforschungen beginnen konnte.



Hotelzimmer
Vier Jahreszeiten
London, England
16:35



Die Klimaanlage summte leise, während Miss Parker auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte. Hin und wieder fielen ihr die Augen zu, aber sie öffnete sie jedesmal wieder nach ein paar Sekunden. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, noch einmal einzuschlafen.

Die Erinnerung an ihren Alptraum, aus dem sie schweißgebadet aufgewacht war, war noch immer sehr lebendig. Sie hatte von Ruth geträumt. Was sie daran am meisten beunruhigte, war, daß ihr Traum nichts mit der Simulation zu tun gehabt hatte. In ihrem Traum hatte sie Dinge gesehen, die eindeutig nur von Ruth Stiller stammen konnten. Wie war das möglich?

Direkt nach dem Aufwachen hatte sie eine Weile gebraucht, um in die Realität zurückzufinden. Diese Erfahrung war einigermaßen beängstigend gewesen, und sie konnte darauf verzichten, sie zu wiederholen.

Nach einem kurzen Aufenthalt unter der Dusche hatte sie sich angezogen und wieder aufs Bett gelegt, versunken in ihre Überlegungen. Mittlerweile bereute sie, daß sie keine weitere Gelegenheit gehabt hatte, mit Sydney über die Simulation zu reden. So wie es aussah, mußte sie allein mit den Auswirkungen fertig werden.

Miss Parker warf einen Blick auf die Uhr, dann verzog sie ärgerlich das Gesicht. Sie mußte mit diesen Grübeleien aufhören. Es war absolut sinnlos, auf diese Weise ihre Zeit zu verschwenden. Entschlossen stand sie auf und ging zum Tisch, wo ihr Laptop stand. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, daß der glänzende Metallkoffer mit den DSA's noch neben dem Schrank stand. Ein leichtes Lächeln spielte für einen Moment um ihre Lippen. Im Centre würde man sicher nicht begeistert sein, daß sie ihn mitgenommen hatte, aber das war schließlich nicht ihr Problem.

Ein wenig ruhiger setzte sie sich an den Tisch und schaltete den Computer ein. Wenn sie dem Centre zuvorkommen wollte, mußte sie ihre Nachforschungen so schnell wie möglich erfolgreich abschließen. Wie ging Jarod immer vor?

Miss Parker schüttelte den Kopf. Sie mußte ihren eigenen Weg finden. Was auch immer sie dazu befähigt hatte, die Simulation durchzuführen, unterschied sich von Jarods Talenten, dessen war sie sich ganz sicher.



Speisesaal
Vier Jahreszeiten
London, England
20:06



Der Speisesaal des Hotels war geschmackvoll eingerichtet. Um diese Tageszeit wimmelte es hier von Gästen, aber Miss Parker war es trotzdem problemlos gelungen, einen ruhigen Tisch zu bekommen. Der Oberkellner war sowohl ihrem Charme, als auch dem großzügigen Trinkgeld erlegen, das sie ihm im Voraus gegeben hatte.

Normalerweise hätte sie es sicher genossen, die Aufmerksamkeit der meisten Männer im Saal auf sich zu ziehen, aber heute war sie viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt.

Die unerwarteten Probleme, die sie beim Schlafen gehabt hatte, ließen sie nicht los. Langsam wurde ihr klar, daß Sydney recht gehabt hatte. Ihr Leben veränderte sich tatsächlich - und sie veränderte sich auch.

Sydney hatte die Vermutung geäußert, daß sie das Pretender-Gen besaß. Durch die Simulation war es vielleicht aktiv geworden und ermöglichte ihr nun den Zugang zu ihren einzigartigen Talenten.

Bisher hatte sie sich oft selbst im Weg gestanden. Es war ihr immer schwergefallen, sich auf ihre Gefühle zu verlassen, aber gestern hatte sie genau das getan. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sie ihre Distanz aufgegeben. Dadurch hatte sie jetzt die Chance, neue Fähigkeiten zu entwickeln. Und, so absurd es ihr auch erschien, endlich ein normales Leben zu führen.


Drei Wochen später
Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
8:57



"Guten Morgen, Broots. Haben Sie schon etwas von Miss Parker gehört?"

Broots drehte sich zu ihm um, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht.

"Morgen, Sydney. Nein, tut mir leid, immer noch nichts."

Sydney runzelte die Stirn.

"Mir gefällt das nicht. Seit drei Wochen hat sie keiner mehr gesehen oder auch nur von ihr gehört. Mr. Broots, ich glaube, es ist Zeit, daß wir etwas unternehmen."

"Uh, sicher. Aber was?"

"Wir treffen uns heute abend bei ihrem Haus. Inzwischen werde ich mal mit ihrem Vater reden."



Mr. Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
9:20



"Sydney, kann ich irgend etwas für Sie tun?"

Mr. Parker sah nur kurz von seinem schweren Schreibtisch auf. Sein Tonfall machte deutlich, daß ihm nichts ferner lag, als seine Zeit mit Sydneys Anliegen zu verschwenden. Sydney fühlte einen Ärger in sich aufwallen, der normalerweise für Raines reserviert war. Er unterdrückte diese Emotion, da ihm klar war, daß er mit harschen Worten bei Mr. Parker nichts erreichen konnte.

"Ich bin eigentlich nur hier, um mich nach Ihrer Tochter zu erkundigen", antwortete er, bemüht um einen leichten Tonfall.

"Ich bin sicher, daß mit ihr alles in Ordnung ist", erwiderte Mr. Parker ruhig, aber mit einem deutlich warnenden Unterton in der Stimme. Er sah Sydney an, eine Mischung aus Kälte und Desinteresse in seinem Blick.

Er weiß auch nicht, wo sie ist, schoß es Sydney durch den Kopf. Und das ärgert ihn. Der allwissende Mr. Parker wurde von seiner eigenen Tochter hintergangen.

Der Moment der Erkenntnis wurde von einem kurzen Gefühl des Triumphs begleitet, das aber wieder verflog, als Sydneys Sorge zurückkehrte. Nur zu gerne hätte er diesem selbstgerechten, alten Narren gesagt, was er von ihm und seinen Erziehungsmethoden hielt, aber damit hätte er niemandem genutzt. Außerdem bestand die Hoffnung, daß Miss Parker sich endlich vom Centre und ihrem Vater losgesagt hatte. Wenn das stimmte, blieb Sydney nur noch die Sorge um Jarod, bevor auch er diesen Ort verlassen konnte.

"Gut. Falls Sie etwas von ihr hören, lassen Sie es mich doch bitte wissen, ja?"

"Sicher."

Damit wandte Mr. Parker seine Aufmerksamkeit wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu und ließ Sydney wissen, daß er entlassen war. Sydney nickte nachdenklich und ging zur Tür. Er war ganz sicher der letzte, den Parker verständigen würde, sollte er etwas von seiner Tochter hören. Soviel dazu.



Scofield Flugplatz
Scofield, GB
10:00



Auf dem kleinen Flugfeld war nur wenig los. Miss Parker schritt zielstrebig zu einem der Hangars, wo ein Mann mittleren Alters an einer kleinen Sportmaschine herumbastelte.

Sie hielt den Atem an. Das mußte er sein. Ihre Nachforschungen hatten sie hierher gebracht. Glücklicherweise war sie dem Centre zuvorgekommen. Während sie die letzten Meter zurücklegte, nahm sie ihre Sonnenbrille ab. Zwei Meter hinter dem Mann blieb sie schließlich stehen.

"Major?"

Überrascht richtete er sich auf und stieß sich den Kopf an einer der Tragflächen.

"Au, verdammt!" fluchte er, bevor er sich umdrehte. Als sein Blick auf sie fiel, erstarrte er mitten in der Bewegung und musterte sie ungläubig.

"Wie ich sehe, haben Sie meine Mutter gekannt, Major ", sagte Miss Parker sanft, während sie ihn näher betrachtete. Er sah Jarod überhaupt nicht ähnlich. Seine Haare waren heller, das Gesicht kantiger, und die Augen strahlten in einem hellen Blauton. Sie mochte ihn sofort und wußte, daß sie ihrem Gefühl trauen konnte. Dieser Mann hatte ihre Mutter nicht getötet.

"Sie sind Catherines Tochter?"

"Ja."

"Mein Gott. Das ist so lange her..."

Der Major ließ sich auf eine Kiste sinken.

"Major, ich..."

"So hat mich schon lange keiner mehr genannt, wissen Sie", sagte er und sah mit einem leichten Lächeln zu ihr auf. Miss Parker erwiderte das Lächeln und streckte ihm ihre Hand entgegen.

"Ich bin... Marine Parker", stellte sie sich vor. Es erschien ihr einfach richtig, daß Jarods Vater ihren Namen kannte.

Er ergriff ihre Hand.

"Und ich bin Charles, aber Sie scheinen mich ja bereits zu kennen. Ihre Mutter hat mich immer Charley genannt."

"Charley..."

Sein Lächeln vertiefte sich.

"Wissen Sie, Sie klingen sogar wie sie."

"Danke", sagte Miss Parker. Sie freute sich immer, wenn ihr jemand sagte, daß sie ihrer Mutter ähnelte. "Ich habe lange nach Ihnen gesucht."

Charles nickte nachdenklich.

"Eigentlich habe ich nie damit gerechnet, Sie noch einmal wiederzusehen. Aber ich muß sagen, daß ich froh bin, daß Sie hier sind."

"Sie haben mich früher schon mal getroffen?" fragte sie erstaunt.

"Aber ja! Natürlich können Sie sich nicht mehr daran erinnern. Sie waren damals noch so klein. Das war, bevor sich alles veränderte..."

Er verstummte, und Miss Parker sah, wie die angenehmen Erinnerungen von schlechten verdrängt wurden. Kurz darauf fing er sich wieder.

"Sie haben bestimmt eine lange Fahrt hinter sich. Kommen Sie, in meinem Büro habe ich ein paar kalte Getränke."

Sie folgte ihm durch den kleinen Hangar in sein Büro. Nachdem sie sich gesetzt hatte, entschied sie sich mit Rücksicht auf ihr Magengeschwür für etwas Wasser, obwohl ihr eher nach etwas Stärkerem zumute war.

"Sagt Ihnen der Name Fenigore irgend etwas?" erkundigte sie sich nach einer Weile.

Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

"Allerdings. Lebt dieser Bastard etwa noch?"

Miss Parker ließ ihren Atem langsam entweichen. Offenbar hatte sie richtig vermutet, und Fenigore hatte ihre Mutter tatsächlich verraten.

"Ja, aber es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit. Das Centre hat ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Vorher konnte ich allerdings noch einige Informationen von ihm bekommen."

Charles schüttelte bedauernd den Kopf.

"Ihre Quelle ist leider nicht sehr verläßlich. Darf ich fragen, was er Ihnen erzählt hat?"

"Alles, was ich von ihm wissen wollte, war, wer meine Mutter erschossen hat. Er sagte, daß Jarods Vater ihr Mörder sei." Sie lächelte schwach. "Mittlerweile habe ich aber Grund, an seiner Integrität zu zweifeln."

Der Major schnaubte zustimmend.

"Er hat Ihre Mutter verraten. Genaugenommen hat er uns alle verraten. Das Centre hat ihn gekauft."

Miss Parker schwieg für einen Augenblick, dann stellte sie die Frage, die sie mehr als alles andere beschäftigte.

"Major, wissen Sie, wer meine Mutter getötet hat?"

Er sah ihr direkt in die Augen, und sein offener Blick war ihr Antwort genug.

"Es tut mir leid, nein. Als es passierte, war ich bereits nicht mehr in den Staaten. Ich schwöre Ihnen, wenn ich auch nur geahnt hätte, in welch großer Gefahr sie sich damals befand, dann wäre ich nicht gegangen. Catherine hat darauf bestanden, daß wir uns in Sicherheit bringen. Sie wollte die letzten Kinder allein retten."

Charles starrte auf den Boden. Miss Parker ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

"Ist schon gut. Sie hätten vermutlich auch nichts ändern können. Immerhin konnten Sie Ihr eigenes Leben retten."

Als er zu ihr aufsah, erkannte sie, daß er nur zögernd bereit war, ihren Trost zu akzeptieren. Trotzdem schien er dankbar für ihren Versuch zu sein.

"Das habe ich mir immer vorgeworfen."

"Es war nicht Ihre Schuld", versicherte ihm Miss Parker noch einmal mit Nachdruck. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Sie sind nicht Jarods richtiger Vater."

"Nein. Wir - meine Frau und ich - haben ihn adoptiert, als er noch ein Baby war."

"Fenigore sagte, daß Jarods Vater meine Mutter getötet hat. Ich glaube ihm das. Kennen Sie seinen leiblichen Vater?"

Charles schüttelte den Kopf.

"Nein. Ich habe nie versucht, seinen Namen herauszufinden. Es erschien mir einfach nicht wichtig."

Miss Parker seufzte enttäuscht. Diesmal war es Charles, der seine Hand tröstend auf ihren Arm legte.

"Seien Sie nicht enttäuscht. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Als ich von Catherines Tod erfuhr, habe ich mir geschworen, eines Tages mit ihrem Mörder abzurechnen. Es scheint, daß der Tag endlich da ist."

Dankbarkeit erfüllte sie, als sie ihn anlächelte und kurz seine Hand drückte.

"Vielen Dank, Major."

"Für Sie tue ich das gerne. Und nennen Sie mich bitte Charley. Das haben Sie als kleines Kind schließlich auch getan." Er lachte leise. "Na ja, sagen wir lieber, daß Sie es versucht haben."

Die aufrichtige Zuneigung in seinem Blick überraschte sie, erfüllte sie aber gleichzeitig mit einer Wärme, die sie lange vermißt hatte.

"Ich wünschte, ich könnte mich erinnern", sagte sie leise und mit ehrlichem Bedauern.

Charles griff in seine Hemdtasche und zog ein altes, zerknittertes Foto hervor. Mit einem erwartungsvollen Lächeln reichte er es ihr.

"Vielleicht erkennen Sie ja jemanden...", meinte er mit einem Zwinkern.

Sie nahm das Foto vorsichtig entgegen. Es war eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der drei Personen abgebildet waren. Die Frau in der Mitte erkannte Miss Parker sofort als ihre Mutter. Der Mann rechts neben ihr mußte Charles sein, und der Mann zu ihrer Linken sah aus wie...

"Ist das Sydney?" fragte sie überrascht, doch der Major schüttelte den Kopf.

"Nein, aber Sie waren nah dran."

"Jacob", flüsterte sie. Diesmal nickte Charles.

"Er hat damals eng mit uns zusammengearbeitet. Bis dieser schreckliche Unfall passierte und er ins Koma fiel."

Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite, als sie Sydneys Zwillingsbruder betrachtete.

"Er ist tot. Letztes Jahr ist er gestorben. Aber vorher ist er noch einmal kurz aus dem Koma erwacht, so daß Sydney endlich Frieden finden konnte."

Der Major nickte traurig.

"Ich weiß. Trotz meines Exils versuche ich, über die Ereignisse in den Staaten informiert zu bleiben. Besonders, wenn es dabei um alte Freunde geht."

"Wer hat das Foto gemacht?" fragte Miss Parker, um Charles ein wenig abzulenken.

"Oh, das war Fenigore. Er wollte nicht mit auf das Bild. Wenn ich jetzt so daran zurückdenke, glaube ich fast, daß er keinen Beweis dafür hinterlassen wollte, daß er mit uns in Verbindung stand", erklärte Charles, mit mehr als nur einer Spur von Bitterkeit in der Stimme.

Miss Parker sah kurz zu ihm auf, um sich zu überzeugen, daß es ihm gutging, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bild. Ihr besonderes Interesse galt natürlich ihrer Mutter. Anders als auf anderen Bildern, die sie von ihr gesehen hatte, haftete Catherine hier keine Aura von Traurigkeit an. Ihre Augen wirkten nicht so ernst und verzweifelt.

"Sie sieht beinahe glücklich aus", murmelte Miss Parker nachdenklich.

"Weil sie es war", versicherte Charles. "Das Foto ist im Mai entstanden."

Sie verstand sofort, worauf er hinaus wollte.

"Nach ihrem Besuch bei Ben Miller."

"Sie wissen darüber Bescheid?"

"Ja, aber ich bin ehrlich gesagt ein wenig überrascht, daß Sie es auch wissen."

Charles sah sie offen an.

"Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander. Aber in diesem speziellen Fall wäre das sowieso kaum möglich gewesen. Der Unterschied in ihrer Stimmung, wenn sie aus Maine zurückkam, war unübersehbar. Auch wenn sie versucht hat, es zu verstecken. Wissen Sie", meinte Charles mit einem Lächeln, "wir waren fast so etwas wie die drei Musketiere. Eine solche Freundschaft findet man nicht oft im Leben."

"Ich würde gerne mehr darüber hören", erwiderte Miss Parker, mit einem beinahe schon sehnsüchtigen Tonfall in der Stimme. "Ich weiß so wenig über meine Mutter, wie sie wirklich war."

"Ich werde Ihnen gerne mehr darüber erzählen, Miss Parker. Eins kann ich Ihnen allerdings schon jetzt sagen. Sie sind ihr sehr ähnlich. Verzeihen Sie mir, wenn ich so offen bin, aber es ist gut, daß Sie nicht nach Ihrem Vater schlagen, obwohl er sie großgezogen hat."

Miss Parker zuckte unmerklich zusammen.

"Sie kennen mich doch kaum", gab sie zu bedenken.

"Aber ich besitze eine hervorragende Menschenkenntnis. Sie hat mich nur ein einziges Mal betrogen, und bei Ihnen bin ich mir ganz sicher."

"Ich danke Ihnen, Charley."

Er lächelte, als sie seinen Spitznamen benutzte.

"Wieso leisten Sie mir nicht heute Abend beim Essen Gesellschaft? Dann erzähle ich Ihnen soviel über Ihre Mutter, wie Sie hören möchten."

"Das klingt wundervoll."

"Also abgemacht. Ich erwarte Sie gegen Sieben. Meine Adresse kennen Sie ja bereits, nehme ich an", antwortete er ihr mit einem neuerlichen Zwinkern. Sie lachte und unternahm gar nicht erst den Versuch, diese Behauptung abzustreiten.

"Bis heute Abend", sagte sie herzlich.

"Ich freue mich darauf", erwiderte er und ergriff zum Abschied ihre Hand. Als Miss Parker das Flugfeld kurz darauf verließ, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr.


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
18:20



"Ich weiß nicht, Syd. Wir können doch nicht einfach in ihr Haus einbrechen. Wenn sie das jemals erfährt, bringt sie uns um."

"Erstens würde sie uns nicht umbringen, weil wir uns Sorgen um sie gemacht haben. Zweitens werden wir ihr nichts davon erzählen. Drittens", sagte Sydney ruhig und zog etwas aus der Tasche seines Jacketts, "habe ich einen Schlüssel für das Haus. Wir brechen also gar nicht ein." Und viertens, fügte er in Gedanken hinzu, war Mr. Parker nicht besonders hilfreich.

Broots wirkte nicht sehr überzeugt und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er den Schlüssel sah.

"Sie hat Ihnen den Schlüssel für ihr Haus gegeben?" fragte er ungläubig.

Sydney machte sich bereits am Schloß zu schaffen, als er antwortete.

"Das habe ich nicht gesagt. Genaugenommen stammt dieser Schlüssel von Catherine. Es ist nicht meine Schuld, daß Miss Parker nie das Schloß austauschen ließ. Andererseits ist das jetzt ein Vorteil für uns. So - nach Ihnen."

Die Tür schwang auf, und Sydney deutete mit einem einladenden Lächeln nach innen. Mit einem Seufzen ging Broots an ihm vorbei und betrat Miss Parkers Haus. Hinter ihm schloß Sydney die Tür wieder und machte dann das Licht an.

"Sind Sie schon einmal hier gewesen?" erkundigte er sich bei Broots. Der schüttelte nur den Kopf und sah sich neugierig um.

"Nein", sagte er nach einer Weile, um sich dann zu Sydney umzudrehen. "Uh - wonach suchen wir eigentlich?"

Sydneys Blick glitt prüfend durch das Wohnzimmer, und er schüttelte andeutungsweise den Kopf.

"Ich weiß es nicht, Mr. Broots. Nach etwas Ungewöhnlichem, das uns vielleicht sagen kann, wohin Miss Parker verschwunden ist. Spuren, Hinweise... Im Grunde genommen dasselbe, was wir auch in Jarods ehemaligen Verstecken suchen. Halten Sie einfach die Augen offen, in Ordnung?"

"Ist gut. Syd, glauben Sie, daß ihr etwas passiert ist? Ich meine, was wenn das Centre... Aber Mr. Parker würde das doch nie zulassen, oder? Sie ist schließlich seine Tochter."

Sydney warf ihm einen kurzen, nachdenklichen Blick zu.

"Ja, das ist sie. Manchmal frage ich mich nur, ob er sich noch daran erinnert."



Broots versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln, das er hatte, seit Sydney und er Miss Parkers Haus betreten hatten. Ganz egal was Sydney sagte, Miss Parker wäre ganz und gar nicht erfreut, wenn sie wüßte, daß sie hier waren. Er kam sich vor wie ein Einbrecher und zuckte bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen.

Mit einem Seufzen blieb er vor einem Spiegel im Flur stehen. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, wurde er ein wenig ruhiger. Dann hörte er plötzlich ein Geräusch aus der Richtung der Küche und stolperte einen Schritt nach hinten.

"Sydney?" fragte er leise.

Ihm fiel ein, daß Sydney noch im Wohnzimmer war und unmöglich in einen anderen Teil des Hauses gelangt sein konnte, ohne an ihm vorbeizukommen. Aber was hatte er dann aus der Küche gehört? Hatte etwa das Centre jemanden hergeschickt?

Hektisch sah sich Broots nach etwas um, mit dem er sich verteidigen konnte, entdeckte aber nichts. Rückwärts ging er zurück ins Wohnzimmer, immer die Küchentür im Blick.

"Sydney?" fragte er noch einmal, diesmal nur noch flüsternd.

"Was ist denn los, Broots?"

Broots fuhr herum und unterdrückte einen erschreckten Aufschrei, als Sydney plötzlich hinter ihm auftauchte.

"Oh Gott, Sydney. Ich... ich glaube, jemand ist in Miss Parkers Küche."

"Sind Sie sicher?"

"Na ja, ich habe nur ein paar Geräusche gehört", gab Broots zu, aber Sydney lächelte nachsichtig.

"Wir sollten trotzdem mal nachsehen."

"Uhm, na gut."



Sydney ging in den Flur, dann blieb er kurz stehen und lauschte. Schließlich zuckte er mit den Schultern, zum Zeichen, daß er nichts gehört hatte. Broots schnitt eine Grimasse, folgte dem älteren Mann aber. Vor der Küchentür blieben sie wieder stehen.

"Und, können Sie was hören?" wisperte Broots so leise, daß Sydney ihn kaum verstehen konnte.

"Nein, nichts. Am besten sehen wir einfach mal nach."

Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Sydney die Tür einen Spalt breit. Drinnen brannte Licht, also mußte Broots recht haben, denn keiner von ihnen war bisher in der Küche gewesen. Sydney atmete tief durch und öffnete die Tür dann ganz. Es befand sich tatsächlich noch jemand im Haus, und Sydney stellte erleichtert fest, daß er den anderen 'Einbrecher' kannte.

"Hallo, Jarod", sagte er, gerade als der Pretender sich zu ihm umdrehte. Leichte Überraschung zeigte sich auf Jarods Gesicht, außerdem schien er verärgert zu sein. "Es ist alles in Ordnung, Broots. Jarod ist hier", fügte er an Broots gewandt hinzu, der noch immer auf der anderen Seite der Tür stand.

Broots streckte den Kopf in die Küche, und auch er wirkte erleichtert.

"Hallo, Sydney. Mr. Broots."

"H-hallo", erwiderte Broots, der sich in Jarods Gegenwart noch immer ein wenig unwohl fühlte. "Uhm, ich sehe mich noch ein bißchen im Rest des Hauses um, okay?"

Er wartete keine Antwort ab, sondern ließ Sydney und Jarod allein. Jarod lehnte am Kühlschrank und musterte Sydney.

"Also, was macht ihr beide hier?" fragte er dann, und Sydney war sich jetzt fast sicher, daß Jarod sich über irgend etwas ärgerte.

"Das könnte ich dich auch fragen", sagte Sydney, anstatt Jarods Frage zu beantworten.

"Miss Parker scheint verschwunden zu sein, also wollte ich die Gelegenheit nutzen, mich in aller Ruhe umzusehen."

Sydney ahnte, daß diese Erklärung nur zur Hälfte der Wahrheit entsprach.

"Broots und ich haben nach Hinweisen gesucht, die uns verraten, wo sie ist - oder warum sie fort ist. Hast du etwas gefunden, Jarod?"

Der Pretender machte ein abfälliges Geräusch.

"Falls es Hinweise gegeben hat, sind sie nicht mehr hier."

Sorge und Verwirrung zeichneten sich für einen Augenblick in Jarods Zügen ab. "Ich dachte zuerst, Miss Parker hätte das Centre verlassen - bis ich heute herkam. Leider war ich nicht der erste, der auf diese Idee gekommen ist. Vor kurzem ist ein Team von Cleanern hier gewesen. Entweder haben sie Spuren beseitigt oder selbst welche gesucht, so wie wir."

Sydney atmete tief ein.

"Glaubst du, das Centre hat sie..."

"Nein", antwortete Jarod sofort. "Ich glaube, im Centre weiß auch niemand, wo sie ist. Die Frage ist nur, was Miss Parker vorhat. Ich konnte ihre Spur bis nach Großbritannien verfolgen, London, um ganz genau zu sein. Aber vor zwei Wochen habe ich sie verloren. Sie hat ihre Spur verdammt gut verwischt."

"Mehr konntest du nicht herausfinden?"

"Nichts Konkretes bis jetzt, nur ein paar Vermutungen. Es wird wohl erst alles klarer werden, wenn Miss Parker zurückkehrt."

"Falls sie zurückkehrt", murmelte Sydney. Jarod sah ihn überrascht an.

"Wenn sie zurückkehrt", sagte er dann fest.

"Was macht dich da so sicher?"

"Nenn es ein Gefühl."

Sydney musterte seinen ehemaligen Schützling eingehend.

"Was ist los, Jarod? Irgend etwas belastet dich doch."

Jarod seufzte.

"Ich will nicht darüber reden, in Ordnung? Das würde es nur schwieriger machen."

Er erwiderte Sydneys Blick ruhig, aber nur kurz, dann wandte er sich ab und ging zur Hintertür.

"Ich gehe jetzt. Hier gibt es nichts zu finden. Ihr solltet auch nach Hause fahren. Gute Nacht, Syd."

Ohne ein weiteres Wort öffnete Jarod die Tür, ging nach draußen und war kurz darauf in der einsetzenden Dunkelheit verschwunden. Sydney sah ihm besorgt und verwundert nach. Jarods Verhalten stellte im Moment ein Rätsel für ihn dar. Er hoffte, daß Jarod seine Meinung ändern und doch noch mit ihm reden würde.

Schließlich schloß Sydney die Tür und verließ die Küche, um Broots zu suchen. Wenn Jarod recht hatte, verschwendeten sie hier nur ihre Zeit. Andererseits war das vielleicht besser als nur untätig herumzusitzen und zu warten.



Langton Cottage
Scofield, GB
18:55



"Miss Parker, Sie sind zu früh dran", erklärte Major Charles lachend, als er ihr die Tür öffnete.

"Oh, aber nur fünf Minuten. Ich komme nicht gerne zu spät", erwiderte sie lächelnd. Charles bat sie herein, und sie folgte ihm in sein gemütliches Haus, das seinen freundlichen Charakter deutlich nach außen sichtbar widerspiegelte.

"Sie sehen wirklich bezaubernd aus, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten."

"Vielen Dank."

Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen hatte der Major bereits alle Vorbereitungen abgeschlossen und servierte ein köstliches Menü. Während des Essens drehte sich das Gespräch hauptsächlich um Oberflächlichkeiten wie das überraschend gute Wetter und die Dinge, die Miss Parker während ihres bisherigen Aufenthalts in England erlebt hatte.

"Das war wirklich köstlich", lobte Miss Parker, nachdem sie mit dem Nachtisch fertig waren. "Ehrlich gesagt habe ich gar nicht erwartet, daß Sie so ein guter Koch sind."

"Ich danke Ihnen. Leider habe ich nur selten Gäste, an denen ich meine Kochkünste ausprobieren kann. Kommen Sie, wir machen es uns im Wohnzimmer bequem. Dort können wir uns besser unterhalten."

Sie half ihm, den Tisch abzuräumen, dann folgte sie ihm ins Wohnzimmer.

"Wie lange wollen Sie noch in England bleiben, Miss Parker?" wollte Charles von ihr wissen.

"Nur noch ein paar Tage. Es wird langsam Zeit, daß ich in die Staaten zurückkehre."

"Das dachte ich mir. Schade, ich hatte gehofft, daß Sie noch ein wenig länger hierbleiben würden."

"Nicht, daß ich das nicht möchte... Aber zu Hause wartet schon ein großer Stapel mit Arbeit auf mich", meinte sie mit einem bedauernden Seufzen.

Er lächelte mitfühlend, dann beugte er sich etwas nach vorn.

"Sie haben heute Morgen Jarod erwähnt..."

"Sie möchten bestimmt wissen, wie es ihm geht. Tut mir leid, ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen."

"Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber ich bin wirklich neugierig. Es ist sehr lange her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe."

Miss Parker schwieg. Sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. Plötzlich kam sie sich wie eine Betrügerin vor. Immerhin war sie Jarods Jägerin, eine Angestellte des Centres. Schuldbewußt sah sie zu Boden, bevor sie entschlossen den Kopf hob, um dem verständnisvollen Blick des Majors zu begegnen.

"Ich habe Ihnen heute Morgen gesagt, daß Sie mich kaum kennen", begann sie schließlich. "Dafür hatte ich einen Grund. Sehen Sie, ich... arbeite für das Centre."

Die freundliche Miene des Majors veränderte sich nicht. Seine Augen schienen sie sogar noch eine Spur freundlicher anzulächeln.

"Ich weiß", erwiderte er schlicht.

Verwirrt sah sie ihn an.

"Ich sagte Ihnen doch, daß ich mich bemühe, informiert zu bleiben."

Er beugte sich vor und berührte sanft ihre Hand.

"Und jetzt weiß ich auch, daß ich heute Morgen recht hatte. Sie kommen nach Ihrer Mutter."

"Aber...", begann sie und brach dann ab. "Was wissen Sie?" fragte sie dann leise.

"Genug. Ich habe Jarods Entwicklung so gut verfolgt, wie es mir möglich war. Dasselbe gilt auch für Sie. Ich möchte Ihnen etwas sagen: Ich verstehe Sie. Und ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Sie können nichts für Ihren Vater, und trotz all seiner Fehler haben Sie sich zu einer jungen Frau entwickelt, auf die Ihre Mutter mehr als stolz wäre."

Er machte eine kurze Pause und drückte beruhigend ihre Hand.

"Zugegeben, Catherine und ich haben uns eine andere Zukunft für unsere Kinder vorgestellt, aber Sie haben ihre Erwartungen noch übertroffen."

Miss Parker wußte nicht, was sie sagen sollte. Tränen brannten in ihren Augen.

"In den vergangenen drei Jahren habe ich Jarod im Auftrag des Centres gejagt, nachdem er entkommen konnte."

"Aber Sie haben ihn nicht zurückgebracht, obwohl Sie es gekonnt hätten."

Sie schüttelte den Kopf. Charles verstärkte den Druck seiner Hand.

"Miss Parker, machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie sind ein Opfer Ihrer Vergangenheit, ebenso wie Jarod. Das Wichtigste ist, daß Sie sich endlich daraus befreit haben. Glauben Sie mir, Sie sind auf dem Weg zurück zu sich selbst, das kann ich in Ihren Augen erkennen."

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke Ihnen, Charley", flüsterte sie.

"Wieso erzählen Sie mir nicht etwas über Jarod", schlug er ihr vor.

Sie lachte leise.

"Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er gerade als Professor an einem College beschäftigt. Er genießt sein Leben in Freiheit sehr und kommt ziemlich gut zurecht, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen er aufgewachsen ist. Aber um ehrlich zu sein... wir kommen nicht sehr gut miteinander aus."

"Vielleicht hatten Sie dazu einfach noch keine Gelegenheit. Als Kinder wart ihr jedenfalls unzertrennlich."

"Schwer vorstellbar", meinte Miss Parker skeptisch, und Charles lachte leise. "Darf ich Sie etwas fragen?"

"Nur zu."

"Wieso sind Sie nicht bei Ihrer Familie geblieben? Bei Ihrer Frau und Jarods Schwester?"

Er seufzte schwer.

"Aus Sicherheitsgründen. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen. Das Centre war nur an mir interessiert, nicht an ihnen. Es ist mir unendlich schwer gefallen, sie zurückzulassen, aber es war einfach das Beste für sie. Ich wünschte nur, ich hätte den Kontakt besser aufrechterhalten können. Damals mußte alles sehr schnell gehen. Ihre Mutter wollte Jarod retten und dann mit Ihnen nach Europa gehen, aber dazu kam es nie."

Miss Parker nickte.

"Es tut mir leid."

Ein Lächeln vertrieb die Trauer aus seinem Gesicht.

"Das muß es nicht. Nichts davon läßt sich jetzt noch ändern. Aber Sie sind hergekommen, um etwas über Ihre Mutter und die Vergangenheit zu erfahren."



Das Centre
Blue Cove, Delaware
SL 7
06/06/1964



"Charley, du träumst schon wieder."

Catherines sanfte, amüsierte Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. Schuldbewußt sah er zu ihr auf.

"Ich habe nur nachgedacht", verteidigte er sich schwach. Sie bedachte ihn mit ihrem einzigartigen Lächeln und einem amüsierten Funkeln in den Augen.

"Natürlich hast du das", erwiderte sie dann. Er lachte leise und freute sich, als sie einfiel. Ihr Lachen war mindestens ebenso angenehm wie ihr Lächeln, aber in letzter Zeit hatte er beides schmerzlich vermißt.

"Ah, die ersten fröhlichen Gesichter, die ich heute sehe", sagte Jacob, als er den Raum betrat. Mit einem schweren Seufzer ließ er sich auf einen der Stühle sinken. Sofort kehrte der besorgte Ausdruck in Catherines Gesicht zurück.

"Ist alles in Ordnung, Jacob?" fragte sie ihn beunruhigt. Jacob bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln.

"Ach, es ist bloß Sydney. Ich wünschte, er würde mir endlich zuhören, aber er weigert sich einfach."

"Gib ihm noch etwas Zeit", mahnte Catherine ruhig. "Früher oder später wird er erkennen, was hier vor sich geht und dann die richtige Entscheidung treffen."

Diesmal kam Jacobs Lächeln von Herzen.

"Ich wünschte, ich hätte deine Geduld." Neugierig sah er sich um. "Wo ist Fenigore? Er wollte doch auch kommen, oder nicht?"

Catherine schüttelte den Kopf.

"Ihm ist etwas dazwischengekommen. Wir sind heute nur zu dritt."

Charles bemühte sich gar nicht erst, seine Erleichterung zu verbergen. Er hatte nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen Fenigore gemacht, aber Catherine zuliebe arbeitete er mit ihm zusammen. Jacob neigte den Kopf ein wenig zur Seite.

"Dann sollten wir gleich zur Sache kommen. Ausnahmsweise habe ich nämlich mal gute Neuigkeiten. Soweit ich weiß, arbeitet Raines zur Zeit an keinem neuen Projekt, was uns eine kleine Verschnaufpause verschafft, in der wir Pläne schmieden können."

Obwohl Charles Jacobs Optimismus nicht ganz teilte, freute ihn diese Entwicklung doch. Sie alle brauchten dringend etwas Zeit für sich. Ein Seitenblick zu Catherine verriet ihm, daß auch sie sich über die positive Nachricht freute, doch die Besorgnis war nicht ganz aus ihren Zügen gewichen. Charles verstand sie nur zu gut.

"Wie ich Raines kenne, wird er nicht lange stillhalten", meinte er nachdenklich. "Aber wir sollten die Zeit nutzen, die sich uns bietet. Ein wenig Freizeit wird uns allen nicht schaden. Wie wär's, wenn wir uns alle ein paar Gedanken machen und uns übermorgen wieder hier treffen?"

Jacob nickte sofort.

"Klingt großartig. Sydney zieht mir die Haut ab, wenn ich ihn schon wieder allein an seinem Experiment arbeiten lasse."

"Catherine?" fragte Charles leise. Diesmal war sie es, die mit ihren Gedanken woanders war. Als sie ihn ansah, verriet ihm ihr Blick sofort, an wen sie gerade gedacht hatte.

"Deine Tochter wird sich sicher sehr darüber freuen, einen ganzen Tag mit dir zu verbringen", sagte er sanft. Er konnte sehen, wie sehr sie sich auf diese Gelegenheit freute, aber in ihren Augen las er auch Mitgefühl. Beruhigend legte er ihr die Hand auf den Arm. "Ist schon gut", meinte er leise. Sie schüttelte den Kopf.

"Nein, das ist es nicht", erwiderte sie traurig. Die Tatsache, daß er nicht die Möglichkeit hatte, den Tag mit seinem Sohn zu verbringen, schien sie mit ebensoviel Kummer zu erfüllen wie ihn selbst. Doch dann hellte sich ihre Miene ein wenig auf. "Charles, bitte leiste uns doch morgen Gesellschaft. Ich weiß, es ist nicht dasselbe, aber..."

"Bist du sicher?" vergewisserte sich Charles, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sie nickte, die Andeutung eines Lächelns in den Augen. Allein das genügte schon, um jeden Widerstand bei ihm zu brechen. "Dann wird es mir ein Vergnügen sein", antwortete er leise.

Auf der anderen Seite des Tisches erhob sich Jacob.

"Ich mache mich jetzt auf den Rückweg", verkündete er. "Sonst schickt Syd am Ende noch einen Suchtrupp nach mir los."

Auch Catherine stand auf.

"Ich begleite dich, Jacob. Ich möchte mit Sydney sprechen. Glaubst du, daß er etwas Zeit hat?"

Jacob lachte leise.

"Für dich bestimmt, Catherine. Mach's gut, Charley. Wir sehen uns in zwei Tagen."

"Bis dann, Jacob. Und wir sehen uns morgen, Catherine."

"Ich freue mich drauf, Charley", versicherte sie ihm mit einem Lächeln. Sie berührte ihn zum Abschied an der Schulter, dann verließ sie zusammen mit Jacob den Raum. Charles sah den beiden nach und fragte sich, was Catherine wohl vorhaben mochte. Er kannte diesen bestimmten Ausdruck in ihren Augen ganz genau, aber fürs erste blieb ihm wohl nichts anderes übrig als zu warten.



Das Centre
Blue Cove, Delaware
SL 7
06/07/1964



Charles saß ungeduldig in dem kleinen Raum, den die kleine Gruppe um Catherine Parker für gewöhnlich als Treffpunkt benutzte. Zum hundertsten Mal fragte er sich, warum sie ihn ausgerechnet hier treffen wollte. Gestern hatte er natürlich angenommen, daß sie den Tag außerhalb des Centres verbringen würden, besonders, da ihre kleine Tochter mitkommen sollte.

Als sich die Tür endlich öffnete, sah Charles erwartungsvoll auf. Allerdings war es nicht Catherine, die den Raum als erste betrat. Das süßeste kleine Mädchen, das er je gesehen hatte, kam die wenigen Stufen vorsichtig herunter und lächelte ihn dann an. Sie hatte das Lächeln ihrer Mutter, und Charles konnte gar nicht anders, als es zu erwidern.

"Hallo, Marine", sagte er sanft. Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie ihren Namen hörte.

"Hallo", erwiderte die Kleine fröhlich. Charles überlegte kurz. Sie mußte jetzt etwa vier Jahre alt sein. Ein Jahr jünger als Jarod, dachte er kummervoll, aber sein Kummer verflog, als er in das strahlende Gesichtchen von Catherines Tochter sah. Plötzlich fragte er sich, wie sie wohl als junge Frau aussehen würde. Ganz sicher mindestens ebenso schön und charmant wie ihre Mutter... Schon jetzt gelang es ihr mit Leichtigkeit, jedes Herz im Sturm zu erobern.

"Marine?" Catherine steckte den Kopf in das Zimmer und lächelte erleichtert, als sie ihre Tochter sah. Das Mädchen wandte ihr sofort den Kopf zu.

"Mama", sagte es glücklich und kam seiner Mutter entgegen, um sich umarmen zu lassen. Charles hielt den Atem an, als er den glücklichen und liebevollen Ausdruck auf Catherines Gesicht sah, während sie ihre Tochter im Arm hielt. Sie schien sie nur widerstrebend wieder loszulassen. Schließlich kam sie zu Charles und setzte sich neben ihn an den Tisch.

"Hallo, Charley", begrüßte sie ihn. "Sie steckt voller Energie. Außerdem kommt sie jetzt in die Phase, in der sie alles erforschen möchte. Manchmal kann ich kaum noch mit ihr Schritt halten", meinte sie lachend und beobachtete liebevoll ihre Tochter dabei, wie sie den Raum erkundete. Charles lächelte. Er freute sich, sie so glücklich zu sehen.

"Dann ähnelt sie ihrer Mutter", erwiderte er, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

"Es ist noch viel zu früh, um das zu sagen."

"Oh, ich weiß nicht", sagte Charles hintergründig. Ein Klopfen an der Tür hinderte ihn daran, mehr zu sagen. Erschrocken sah er auf, doch Catherine legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

"Das ist Sydney", erklärte sie und stand auf, um zur Tür zu gehen. Sie öffnete sie langsam.

"Hallo, Sydney."

"Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, daß ich das Richtige tue, Catherine", erwiderte Sydney statt einer Begrüßung. "Weder Ihr Mann noch Dr. Raines dürften sehr begeistert sein, wenn sie das erfahren."

"Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Sydney. Sie tun das Richtige, glauben Sie mir. Vielen Dank."

"In einer Stunde hole ich ihn wieder ab", stellte Jacobs Zwillingsbruder klar. "Und wenn ich feststellen sollte, daß ihm das hier geschadet hat, wird sich das nicht wiederholen."

"Danke, Sydney", wiederholte Catherine. "Es wird ihm nicht schaden, Sie werden sehen."

"Eine Stunde, Catherine", erinnerte er sie, dann trat er von der Tür zurück.

Charles fragte sich, was los war. Er reckte den Hals, um etwas zu erkennen, aber Catherine versperrte ihm die Sicht. Sie beugte sich hinunter.

"Hallo, Jarod", sagte sie dann und Charles glaubte, sein Herz müßte jeden Augenblick stehenbleiben. Hatte er das wirklich gerade gehört? Bisher war er ihm nie gelungen, seinen Sohn zu sehen, egal wie sehr er es probiert hatte. Catherine richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zur Seite.

Wie gebannt starrte Charles auf den Jungen, der in der Tür stand und unschlüssig nach unten in den Raum sah. Als er auch weiterhin reglos stehenblieb, berührte Catherine ihn sanft an den Schultern.

"Hier ist jemand, der dich gerne sehen möchte", sagte sie sanft.

"Jarod", flüsterte Charles, als er seine Stimme endlich wieder unter Kontrolle hatte. Er wußte, daß Jarod sich unmöglich an ihn erinnern konnte, aber im Moment spielte das keine Rolle. Zusammen mit Catherine kam er die wenigen Stufen hinunter und blieb dann vor Charles stehen. Seine dunklen Augen sahen fragend zu ihm auf.

Ohne weiter darüber nachzudenken, ging Charles in die Hocke und umarmte seinen Sohn. Er spürte, wie ihm Tränen über das Gesicht strömten, aber es war ihm egal. Alles, was in diesem Moment zählte, war Jarod. Voller Dankbarkeit sah Charles zu Catherine auf.

"Danke", wisperte er. Auch sie weinte, aber es waren Freudentränen, trotz des Wissens, daß dieses Zusammensein nur von kurzer Dauer sein würde.

Widerstrebend ließ Charles Jarod wieder los und faßte einen Entschluß. Er würde ihm nicht sagen, daß er sein Vater war. Für Jarod würde das nur zusätzlichen Schmerz bedeuten. Jarod sah ihn noch immer fragend an.

"Wer sind Sie?" wollte er schließlich wissen.

Charles schluckte, hielt aber an seinem Entschluß fest.

"Mein Name ist Charles. Ich... bin ein Freund", brachte er hervor. Für einen Moment schien Jarod darüber nachzudenken, dann nickte er und lächelte. In seinem Blick lag aufrichtiges Vertrauen, und Charles schwor sich, das er es nie enttäuschen würde.

"Mama", ließ sich auf einmal Catherines Tochter mit einer Dringlichkeit vernehmen, die Charles ein Lächeln entlockte. Marine stand neben ihrer Mutter und zog kurz an ihrem Rock, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Der Versuch war sofort von Erfolg gekrönt, und Catherine hob ihre kleine Tochter auf ihren Arm. Jarod beobachtete das Geschehen voller Faszination.

"Was ist denn, mein Schatz?" fragte Catherine. Aber Marine hatte ihr Ziel offenbar schon erreicht, denn sie lächelte zufrieden und küßte ihre Mutter auf die Wange. Catherine lachte leise. "Oh, ich verstehe." Sie küßte ihre Tochter auf die Stirn, drückte sie an sich und stellte sie dann wieder auf den Boden. Das Mädchen gluckste vergnügt, dann wandte es sich auf einmal zu Jarod um und musterte ihn aus großen blauen Augen.

"Hi", sagte sie dann und bedachte ihn mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Wie nicht anders zu erwarten, erwiderte Jarod ihr Lächeln. Charles stellte fest, daß sein Sohn jetzt zum ersten Mal, seit er hier war, seine unnatürliche Ernsthaftigkeit verlor und wie ein ganz normales Kind wirkte.

"Hi", erwiderte er beinahe schüchtern, und Charles fühlte sich plötzlich an den Tag erinnert, an dem er Catherine zum ersten Mal getroffen hatte. Ebenso wie ihrer Mutter gelang es Marine jetzt problemlos, jede Schüchternheit zu zerstreuen. Ein einziger Blick genügte ihr dafür völlig. Als nächstes griff sie nach Jarods Arm und zog ihn mit sich fort, um ihm den Inhalt der Tasche zu zeigen, die sie mitgebracht hatte.

Catherine beobachtete das Geschehen amüsiert und sah dann zu Charles, der sich so glücklich fühlte wie schon seit Jahren nicht mehr. Er nahm ihre Hand und dankte ihr noch einmal. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf.

"Ich wünschte, ich könnte noch mehr tun", sagte sie leise. Charles drückte ihre Hand.

"Hör schon auf, Catherine. Du hast mich heute sehr glücklich gemacht. Und jetzt laß uns den Tag genießen."

Er setzte sich neben sie an den Tisch, und für eine Weile beobachteten sie schweigend die beiden Kinder.

"Sieh sie dir nur an", sagte Charles. Fasziniert sah er dabei zu, wie Marine ihrem neuen Freund gerade etwas erklärte. Jarod hörte ihr mit offenem Mund zu, den Blick fest auf ihre Augen gerichtet.

"Beinahe wie Geschwister", flüsterte Catherine zurück. "Ich hoffe, sie werden einmal ebenso glücklich sein, wenn sie erwachsen sind."

"Davon bin ich überzeugt", versicherte Charles mit Nachdruck. "Dafür werden wir sorgen. Und wenn wir es nicht schaffen, werden sie es selbst tun."

Die Stunde war viel zu schnell vorüber. Als Sydney kam, um Jarod wieder abzuholen, konnte Charles sich nur schwer damit abfinden. Er verabschiedete sich von Jarod, dem der Abschied ebenso schwer zu fallen schien.

"Kann ich wiederkommen?" fragte er, kurz bevor er die Treppe erreichte. Catherine legte ihm die Hand auf den Kopf.

"Ich werde tun, was ich kann", versprach sie dem Jungen, während sie ihn zu Sydney begleitete. Charles wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte.



Charles sah lächelnd von den Papieren auf, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Für eine ganze Weile ruhte sein Blick auf Catherines Tochter, die ein paar Meter entfernt von ihm und Jacob auf dem Boden saß und spielte. Zusammen mit Jacob paßte er auf Marine auf und diese Aufgabe bereitete ihnen beiden großes Vergnügen. In den letzten Wochen hatten sie viel Zeit mit Marine verbracht und sie ins Herz geschlossen wie ihr eigenes Kind.

Catherine hatte ihr Wort gehalten und weitere Treffen mit Jarod arrangiert. Charles war es gelungen, ein inniges Verhältnis zu seinem Sohn aufzubauen, und dafür war er Catherine unendlich dankbar.



Langton Cottage
Scofield, GB
23:20



Als Charles auf die Uhr sah, verzog er überrascht das Gesicht.

"Meine Güte, jetzt rede ich schon seit über drei Stunden."

Miss Parker sah ihn erstaunt an.

"Wirklich?"

Er lachte leise.

"Das passiert, wenn man so selten Gelegenheit hat, über die Vergangenheit zu reden. Obwohl kein Tag vergeht, an dem ich nicht darüber nachdenke", gab er zu.

Miss Parker griff nach seiner Hand und drückte sie leicht.

"Ich danke Ihnen, Charley. Sie ahnen ja nicht, wieviel mir das bedeutet."

"Vielleicht doch, Miss Parker."

Sie lächelte, und in ihren Augen erkannte er denselben Charme und die Wärme, die er dort schon vor so vielen Jahren gesehen hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich.

"Ich weiß, daß es noch viel zu sagen und noch mehr zu erzählen gibt, aber für heute habe ich Sie schon lange genug aufgehalten", sagte sie entschlossen, aber auch mit deutlich hörbarem Bedauern.

Auch Charles erhob sich.

"Bitte versprechen Sie mir, daß Sie mich noch einmal besuchen, bevor Sie England verlassen, Miss Parker", bat er mit bewegter Stimme.

"Marine", verbesserte sie ihn. "Und ich komme gerne noch einmal wieder. Vielen Dank für den wundervollen Abend, Charley."

"Es war mir ein Vergnügen, Marine", erwiderte er. "Kommen Sie gut nach Hause."



Auf dem Weg nach Hause kreisten Miss Parkers Gedanken noch lange um ihr Gespräch mit Jarods Vater. Nur ein kleiner Teil ihrer Aufmerksamkeit war auf die Straße gerichtet. Doch plötzlich fiel ihr etwas ins Auge.

Es war ein Straßenschild, das sie für den Moment von der Vergangenheit ablenkte. Pendleton Heights, las sie im Vorbeifahren, als die Scheinwerfer das Schild für einen kurzen Augenblick erhellten. Der Name löste eine Reaktion in ihr aus, die sie sich zwar noch nicht erklären konnte, die sie aber auf gar keinen Fall ignorieren würde. In den letzten Wochen hatte sie gelernt, ihren Gefühlen zu vertrauen.

Da es nun ohnehin schon zu spät war, um Nachforschungen anzustellen, beschloß sie, am nächsten Tag wiederzukehren und der Sache auf den Grund zu gehen.



Pendleton Heights, GB
Am nächsten Tag
9:12



Der dunkle Wagen fuhr langsam die Auffahrt entlang. Große Eichen säumten den langen, geschwungenen Kiesweg, und das Sonnenlicht bildete interessante Muster auf dem Boden.

All das sah Miss Parker nicht. Sie dachte über das Schild nach, das sie an der Zufahrt des Geländes gesehen hatte. Pendleton Heights war eine Nervenheilanstalt. Das allein genügte noch nicht, um sie zu beunruhigen. Aber zusammen mit der Erinnerung daran, warum ihr dieser Ort so bekannt vorkam, reichte es aus, um sie zu alarmieren.

Der Name dieser Klinik war während einer Unterhaltung zwischen Lyle und ihrem Vater gefallen. Zufällig hatte sie das Ende mitangehört. Ihr Vater war sehr aufgebracht gewesen, aber Lyle schien der Sache nur eine geringe Bedeutung beizumessen. Daddy hatte verlangt, daß so etwas nie wieder vorkam, und Lyle war nur allzu bereit gewesen nachzugeben. Obwohl er nichts versprochen hatte.

Miss Parker fragte sich, was dieser Ort mit den Machenschaften ihres Bruders zu tun haben konnte, und die möglichen Antworten gefielen ihr gar nicht.

Sie parkte den Wagen und ging auf das große Gebäude zu, das die Klinik beherbergte. Von außen wirkte es überaus elegant und paßte irgendwie nicht zu dem Bild, das Miss Parker von einer Nervenheilanstalt hatte.

Eine breite, dreistufige Treppe führte zum Haupteingang, der von zwei mächtigen Säulen eingerahmt wurde. Die große Doppeltür, durch die man nach innen gelangen konnte, stand weit offen und gewährte bereits von draußen einen ersten Blick in die Klinik.

Nachdem Miss Parker das Haus betreten hatte, fand sie sich in einer riesigen Halle wieder, die elegant und geschmackvoll eingerichtet war. Alles in allem erinnerte diese Anstalt mehr an ein Hotel als an eine psychiatrische Einrichtung. Andererseits würde wahrscheinlich aber auch niemand ein korruptes Forschungszentrum hinter der stilvollen Fassade des Centres vermuten.

Nach ein paar Schritten blieb Miss Parker unschlüssig stehen. Eine Ahnung hatte sie hergeführt, und jetzt fragte sie sich, was sie als nächstes tun sollte.

"Kann ich Ihnen behilflich sein?" fragte plötzlich eine freundliche Stimme zu ihrer Linken. Als sie sich in diese Richtung drehte, entdeckte Miss Parker eine Art Rezeption, hinter der eine Frau mittleren Alters stand und sie fragend anlächelte. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie auf den Empfang zuging.

"Guten Tag", sagte sie, während sie noch immer nach einer plausiblen Erklärung für ihre Anwesenheit suchte. "Mein Name ist Miss Parker. Bin ich hier richtig in der Pendleton Heights Klinik?" Das war zwar keine sehr originelle Frage, aber zumindest verschaffte sie ihr etwas Zeit.

Die Frau hinter dem Schalter nickte freundlich.

"Ja, das sind Sie. Ich bin Schwester Giffens. Darf ich fragen, was Sie hierher geführt hat?"

"Nun, wissen Sie", Miss Parker senkte ein wenig ihre Stimme, "man hat mir diese Einrichtung sehr empfohlen. Mein Bruder hatte diesen schrecklichen Unfall, als er noch ein Kind war. Bisher war er zu Hause in den Staaten untergebracht, aber mein Vater und ich haben den Eindruck, daß er dort nicht glücklich ist."

Das Gesicht von Schwester Giffens hellte sich sichtbar auf.

"Oh, das tut mir leid", meinte sie teilnahmsvoll. "Und jetzt sind Sie extra aus den USA hierher gekommen?"

"Wie ich schon sagte, Sie wurden uns von Freunden empfohlen. Ich versichere Ihnen, für meinen Bruder ist meinem Vater und mir keine Anstrengung zu groß. Er ist wie ein großes Kind, der arme Kerl."

"Ich bin sicher, daß er sich hier sehr wohl fühlen würde", versicherte die Schwester, die jetzt offenbar einen lukrativen Auftrag witterte. Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Geld spielt natürlich keine Rolle", ließ sie die Schwester in einem vertraulichen Tonfall wissen.

"Natürlich nicht", erwiderte die Frau hastig.

"Wäre es wohl möglich, daß ich mich hier ein wenig umsehen könnte?"

"Aber natürlich, Miss Parker. Bitte warten Sie einen Augenblick, dann rufe ich jemanden, der Sie ein wenig herumführt. Mrs. Whitlock, die Leiterin unserer Einrichtung, ist heute leider nicht da, aber ich unser Personal ist qualifiziert genug, um Ihnen alles zu zeigen."

Die Schwester setzte ihr Vorhaben sofort in die Tat um, und keine fünf Minuten später kam eine junge Frau die geschwungene Doppeltreppe hinunter, die hinauf in den ersten Stock führte. In ihrer Miene zeigte sich leichter Unmut, und Miss Parker schloß daraus, daß sie über Giffens Auftrag nicht besonders glücklich war.

"Ah, Schwester Travis, da sind Sie ja. Das hier ist Miss Parker. Sie würde sich gerne ein wenig in der Klinik umsehen. Wenn Sie so freundlich wären, sie zu begleiten..."

Giffens Aufforderung war eher ein Befehl als eine Bitte. Travis Augen verengten sich kurz, dann wandte sie sich mit einem knappen Nicken an Miss Parker.

"Bitte folgen Sie mir."

Miss Parker nickte ebenfalls, bedankte sich bei Schwester Giffens für die Hilfe und ging dann hinter Travis her, die schon auf halbem Weg nach oben war.

"Zur Zeit sind über fünfzig Patienten bei uns untergebracht, und die meisten von ihnen müssen rund um die Uhr betreut werden."

Es fiel Miss Parker nicht weiter schwer, den Grund für Travis Ärger zu erraten. Die Schwester hatte im Moment offenbar Wichtigeres zu tun, als Kindermädchen für eine Besucherin zu spielen.

"Hören Sie, Schwester, ich möchte Sie keineswegs von Ihrer Arbeit abhalten", sagte Miss Parker sanft. Travis warf ihr einen kurzen Blick zu und erwiderte: "Ist schon gut. Das hier wird ja nicht allzu lange dauern. Wollen Sie einen Verwandten hier unterbringen?"

"Ja, vielleicht. Gibt es vielleicht Gründe, die dagegen sprechen?"

Diesmal lächelte Travis amüsiert.

"Nein, dieses Haus genießt einen erstklassigen Ruf. Das hat allerdings auch seinen Preis."

Miss Parker hatte das Gefühl, daß die Schwester nicht von Geld sprach.

"Ich verstehe", sagte sie deshalb nur.

Travis führte sie durch das erste Stockwerk. Hin und wieder fühlte sich Miss Parker leicht an das Centre erinnert, aber im Großen und Ganzen machte die Klinik einen hervorragenden Eindruck. Als letztes brachte Travis sie in einen großen, lichtdurchfluteten Raum, in dem sich mehrere der Patienten aufhielten.

"Das hier ist der Aufenthaltsraum. Viele unserer Patienten verbringen hier den größten Teil des Tages. Hier gibt es die meisten Beschäftigungsmöglichkeiten, außerdem besteht hier die Möglichkeit, Kontakte zu den anderen Patienten zu knüpfen."

Unwillkürlich mußte Miss Parker an Angelo denken. Bestimmt würde er sich hier wohl fühlen. Auf alle Fälle wohler als im Centre.

Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. In einer Ecke des großen Raumes saß eine junge Frau, die unbeteiligt vor sich hin starrte. Von dem Treiben um sich herum schien sie nichts zu bemerken. Miss Parker berührte Travis kurz am Arm.

"Wer ist das?" fragte sie und nickte in Richtung der Frau. Zum ersten Mal nahm das Gesicht der Schwester einen weicheren Ausdruck an.

"Das ist Luca." Sie stutzte, dann sah sie Miss Parker genauer an. "Wissen Sie, Sie sehen ihr irgendwie ähnlich."

Travis Worte trafen sie wie ein Schlag. Ihr ungutes Gefühl kehrte zurück, um ein Vielfaches stärker.

"Ja", war zunächst alles, was sie hervorbrachte. "Warum ist Luca hier?"

Traurig schüttelte Travis den Kopf.

"Um ganz ehrlich zu sein: wir wissen nur, daß sie vergewaltigt worden ist. Seit Luca vor drei Monaten hergebracht wurde, hat sie so gut wie überhaupt nicht gesprochen. Die Ärzte tun ihr Möglichstes, aber bisher leider erfolglos. Irgend etwas Furchtbares muß mit Luca passiert sein."

In Travis Gesicht konnte Miss Parker deutlich ihr Mitgefühl und ihre Frustration erkennen.

"Darf ich mit ihr sprechen?" fragte sie aus einem Gefühl heraus.

"Warum das? Glauben Sie etwa, daß sie mit Ihnen sprechen wird?"

Miss Parker sah Travis an und berührte sie am Arm.

"Bitte, lassen Sie es mich versuchen. Es kann ihr doch nicht schaden."

Travis erwiderte ihren offenen Blick, und nach einer Weile schüttelte sie fast unmerklich den Kopf.

"Ich weiß zwar nicht, warum, aber Sie sehen so aus, als wüßten Sie, was Sie tun. Also versuchen Sie es ruhig. Aber ich warne Sie - machen Sie es nicht noch schlimmer."

"Vielen Dank, Schwester. Könnte ich vielleicht an einem etwas ruhigeren Ort mit Luca sprechen?"

Schwester Travis seufzte.

"Na gut. Kommen Sie mit, Miss Nightingale."



Der kleine Raum, in den Schwester Travis sie brachte, war ebenso elegant wie der Rest der Klinik, aber aus irgend einem Grund wirkte er gemütlicher. Nach ein paar Minuten kehrte Travis in das Zimmer zurück. Sie brachte Luca mit, die noch immer keine Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen schien.

Miss Parker überlegte kurz.

"Bitte lassen Sie uns allein", bat sie dann. Travis streifte sie mit einem Blick. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Ohne ein Wort drehte sie sich um und verließ den Raum.

Unschlüssig beobachtete Miss Parker die junge Frau, die auf der weichen Couch saß. Ihre Ahnung sagte ihr, daß Lyle etwas mit Lucas Zustand zu tun hatte. Es gab zwei Möglichkeiten für sie, Aufschluß zu gewinnen. Miss Parker entschied sich zunächst für die einfachere.

"Hallo, Luca", sagte sie so sanft wie möglich. Luca zeigte keine sichtbare Reaktion.

"Mein Name ist Miss Parker", fuhr sie fort, dann schüttelte sie den Kopf. "Du kannst mich aber Marine nennen." Noch immer keine Regung.

"Ich glaube, daß wir einen gemeinsamen Bekannten haben." Sie zögerte einen Augenblick, weil sie keine Ahnung hatte, wie Luca reagieren würde. "Sein Name ist Lyle."

Für einen Moment zeigte sich pures Entsetzen in Lucas Augen. Die junge Frau stieß einen heiseren Schrei aus und schlug die Arme vors Gesicht.

"Ganz ruhig, Luca. Er ist nicht hier. Du bist sicher vor ihm. Es tut mir leid." Miss Parker tat ihr Möglichstes, um Luca wieder zu beruhigen. Auf alle Fälle stand jetzt fest, daß Lyle hinter der Sache steckte.

Lucas Reaktion machte deutlich, daß Miss Parker so nicht weiterkommen würde. Also blieb ihr nur noch der andere Weg. Sie schloß kurz die Augen, um sich zu konzentrieren, und um sich davon zu überzeugen, daß sie das Richtige tat. Bisher war sie immer davor zurückgeschreckt, ihre neuen Talente zu nutzen.

Aber das hier war ein Notfall. Vielleicht konnte sie Luca helfen, indem sie herausfand, was mit ihr passiert war. Außerdem fühlte sie sich teilweise für den Zustand der Frau verantwortlich, weil ihr Bruder in die Angelegenheit verwickelt war.

"Ist schon gut, Luca. Entspann dich", murmelte sie beruhigend und setzte sich neben sie auf die Couch. Mittlerweile wußte sie besser, worauf es ankam. Seit ihrer ersten Simulation hatte sie an ihrer Technik gearbeitet, hauptsächlich, um sich vor ihren eigenen Reaktionen zu schützen.

Langsam steigerte sie ihre Konzentration, ließ sich immer weiter auf Luca ein, versuchte, ein Gefühl für sie zu bekommen.

Das Aufblitzen der ersten fremden Erinnerung war - wie schon beim ersten Mal - ein Schock. Mit all ihrer Selbstbeherrschung zwang sich Miss Parker, ihr Selbst nicht davor zu verschließen.

Lyles Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, lächelnd, charmant. Sie spürte, daß er Luca gefallen hatte. Aber anders als Luca sah sie hinter die Fassade und entdeckte dort Lyles berechnende Gefährlichkeit.

Die nächste Szene entfaltete sich vor ihr. Überrascht stellte sie fest, daß Lyle nach allen Regeln der Kunst um sie geworben hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, warum.

Je mehr Zeit verging, desto schneller folgten die einzelnen Erinnerungen aufeinander. Häufig handelte es sich nur um Fragmente, einzelne Worte, Bilder oder Gerüche. Miss Parker spürte Lucas Zögern, sich noch weiter daran zu erinnern. Nur zu gerne hätte sie ihr diese Qualen erspart, aber es gab keinen anderen Weg.

Nach und nach filterte Miss Parker alle störenden Einflüsse aus dem Strom der Erinnerungen und Eindrücke heraus. Es gab etwas, das ihr immer stärker zu Bewußtsein kam, aber sie konnte es noch nicht fassen. Bewußt ließ sie es los, um später wieder darauf zurückzukommen.

Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als plötzlich eine wahre Flut von Erinnerungen auf sie einstürmte. Verzweifelt bemühte sie sich, sie zu ordnen und ihre Distanz zu wahren, aber es war zwecklos. Es war bereits zu spät, sie hatte sich zu sehr auf Luca eingelassen, aber nur so konnte sie zum Kern ihres Traumas vordringen.

Als es soweit war, verlor sie beinahe die Kontrolle. Mit einem Mal wurde ihr bewußt, was vorhin ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sie wußte zwar nicht, warum, aber Lucas Erinnerungen waren nicht die einzigen, die sie teilte. Irgendwie hatte sie einen Zugang zu Lyles Erinnerungen gewonnen.

Die Bilder überwältigten sie. Nur am Rande nahm sie war, daß Luca sich zurückzog und sie allein den Erinnerungen überließ.



Der Raum war dunkel. Dunkel und unheimlich. Sie hatte Angst. Das hier war nicht mehr der Mann, den sie letzten Monat kennengelernt hatte.

Er beherrschte sie, er quälte sie, und er besaß sie. Und so sehr sie es wollte, sie konnte sich nicht wehren. Das hier war nicht allein sein Werk. Sie hatte es auch gewollt.

Sein Körper lastete schwer auf ihr. Was er mit ihr machte, hatte nichts mehr mit Sex zu tun.

Zuerst hatte es ihr gefallen, doch dann, urplötzlich, hatte er die Kontrolle über sich verloren. Ein Teil von ihr begriff, daß das nicht stimmte, daß er sich noch immer unter Kontrolle hatte. Es machte ihr noch mehr Angst.

Sein Atem ging immer schneller. Es war nicht ihr Körper, der sie so sehr erregte, das war ihr klar. Sie hatten schon vorher miteinander geschlafen, aber so etwas hatte er nie mit ihr gemacht.

Immer schneller stieß er in sie hinein, bis er kurz vor dem Höhepunkt stand. Sie wollte, daß es vorbei war, aber noch mehr wünschte sie sich, keine Lust mehr zu empfinden.

Als er kam, schrie er wieder ihren Namen, den Namen der anderen Frau. Obwohl sie es nicht wollte, hatte auch sie einen Orgasmus.

Es dauerte lange, bis er schließlich von ihr herunter rollte. Langsam, fast beiläufig, zog er mit einem Finger die Linie ihres Kinns nach. Der Ausdruck in seinen Augen erfüllte sie mit tiefstem Entsetzen.

"Und jetzt... werden wir ein bißchen Spaß miteinander haben", kündigte er an, und die Kälte in seinen Augen strafte seinen sanften Tonfall Lügen.



Miss Parker versuchte, aus dem Strudel der Erinnerungen loszukommen, aber sie ahnte, daß noch eine weitere, sehr viel schlimmere Entdeckung auf sie wartete. Die kommenden Ereignisse betrachtete sie wieder aus Lucas Perspektive, verbannte sie aber sofort wieder aus ihrem Gedächtnis, so gut sie konnte. Zu ihrem Entsetzen kehrte sie dann noch einmal zu den Geschehnissen in Lyles Haus zurück, und diesmal teilte sie seine Perspektive.



Endlich. Es war nicht so gut wie in seiner Vorstellung, aber genug, um einen Teil der unerträglichen Spannung abzubauen. Dieses Mädchen sah ihr sogar ziemlich ähnlich, machte es noch ein bißchen besser als er gehofft hatte.

Sie gehörte ihm, war ihm hilflos ausgeliefert. Und so sehr sie es auch bestreiten mochte, es gefiel ihr.

Wie von selbst glitten seine Gedanken zu ihr zurück. Sofort steigerte sich seine Erregung, bis jeder andere Gedanke aus seinem Bewußtsein verschwunden war. In seiner Vorstellung war sie es, die sich unter ihm bewegte, ihn ganz in sich aufnahm, seinem Rhythmus folgte.

Er spürte, wie er dem Höhepunkt immer näher kam. Manchmal genügte schon der Gedanke an sie... Ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Fast, er war fast da. Er konnte beinahe ihre weiche Haut fühlen, ihre Hände, die ihn tiefer in sie hineinzuziehen versuchten, ihr dunkles Haar in seinem Gesicht... ihre vollen Lippen, die sich immer wieder auf seine preßten, ihre Zunge, die seinen Mund erforschte... er hörte ihr leises Stöhnen, das ihn immer weiter erregte...

Sein Höhepunkt war unglaublich. Wieder und wieder kam er, und wieder und wieder schrie er ihren Namen. Die ganze Zeit hatte er ihr Gesicht vor Augen. Er mußte sie haben, er mußte einfach, auch wenn er wußte, daß er das nicht konnte, daß er es nicht durfte. Aber Vorschriften und Verbote hatten ihn nie interessiert...



Miss Parker schrie, als sie sich von Luca losriß und vor der Couch auf den Boden sank. Die Wellen des Orgasmus, den sie mit Luca und Lyle geteilt hatte, brandeten mit unverminderter Stärke durch ihren Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie weinte aus Mitleid für Luca. Sie weinte, weil das Gesicht, daß sie in Lyles Erinnerung gesehen hatte, ihr eigenes gewesen war.

Es war fast unmöglich für sie, die Kontrolle wiederzuerlangen. Mehr als alles andere auf der Welt wünschte sie jetzt, sie hätte diese Bilder nie gesehen und nie einen Blick in das Bewußtsein ihres Zwillingsbruders geworfen.

Übelkeit erfaßte sie. Sie würgte mehrmals, schaffte es aber, sich zu beherrschen. Nach einer Ewigkeit erlangte sie einen Teil ihrer Selbstkontrolle wieder. Luca, sie mußte nach Luca sehen.

Mühsam rappelte sie sich auf und zog sich auf die Kante der Couch. Luca hatte sich in eine fötale Position zusammengerollt. Auch über ihr Gesicht liefen Tränen. Ungebetene Erinnerungen an die Mißhandlungen, die Lyle ihr nach der Vergewaltigung zugefügt hatte, drangen in Miss Parkers Bewußtsein. Sie schob sie gewaltsam fort. Damit mußte sie sich später befassen.

"Luca..."

Ihre Stimme klang rauh und erschien ihr irgendwie unwirklich.

Tröstend zog sie die junge Frau in ihre Arme und wartete geduldig darauf, daß die Schluchzer, die sie schüttelten, wieder abebbten. Nach einer Ewigkeit nahm Miss Parker plötzlich eine Stimme wahr. Müde drehte sie den Kopf. Schwester Travis stand in der Tür und starrte sie mit einem undeutbaren Ausdruck an.

"Und jetzt werden Sie mir erklären, was zum Teufel hier gerade los war, Miss Parker."


Langton Cottage
Scofield, GB
17:00



"Marine, was für eine Überraschung! So früh hatte ich gar nicht mit Ihnen gerechnet. Ich hoffe, das heißt nicht, daß Sie schon wieder in die USA zurückkehren. Bitte, kommen Sie herein."

Miss Parker leistete seiner Aufforderung nur zu gerne Folge und ging in das gemütliche Wohnzimmer. Dort setzte sie sich auf die Couch und wartete, bis Charles sich ebenfalls gesetzt hatte.

"Charley, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten", sagte sie dann.

"Natürlich. Worum geht es?"

"Ich dachte daran, die Vergangenheit ein wenig aufleben zu lassen."

Der Major richtete sich interessiert auf, und Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Inwiefern?"

"Sie kennen doch sicher Pendleton Heights, die Nervenheilanstalt, die ganz in der Nähe liegt?" Als er nickte, fuhr sie fort. "Mit Ihrer Hilfe möchte ich jemanden von dort wegbringen, und zwar so schnell wie möglich."


Pendleton Heights, GB
Am nächsten Tag
11:31



"Ist ziemlich lange her, daß ich so etwas gemacht habe", murmelte Charles, als er aus dem Wagen stieg und das große Klinikgebäude musterte. Miss Parker lächelte ihm aufmunternd zu.

"Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, daß Sie mir helfen, Charley."

Er sah sie an und grinste.

"Glauben Sie mir, es ist mir ein Vergnügen. Ich hoffe nur, daß ich nicht zu sehr aus der Übung bin."

Gemeinsam gingen sie die drei Stufen bis zum Eingang hinauf. Die große Eingangshalle war verlassen, nur Schwester Travis stand hinter der Rezeption und sah auf, als die beiden die Klinik betraten.

"Sie sind also wirklich wiedergekommen", stellte Travis fest. "Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet."

Miss Parker neigte leicht den Kopf zur Seite.

"Ich habe Ihnen versprochen, daß ich wiederkommen und Ihnen alles erklären würde, und ich halte meine Versprechen. Das hier ist Charles, ein alter Freund meiner Familie."

Charles streckte die Hand aus, und Travis ergriff sie.

"Sehr erfreut", sagte Charles.

"Charles, das ist Schwester Travis. Ich hoffe, daß sie uns behilflich sein wird, sobald ich ihr ein wenig über die Hintergründe erzählt habe", fügte Miss Parker hinzu. Travis Gesichtsausdruck war voller Zweifel, aber sie sagte nichts. Der Major hingegen lächelte, und Miss Parker fand, daß er plötzlich außerordentlich charmant wirkte.

"Gibt es hier vielleicht einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können?" fragte sie Schwester Travis. Die Schwester überlegte kurz, dann nickte sie.

"Zur Sicherheit der Patienten werden die meisten Räume hier überwacht, aber ich kenne einen geeigneten Raum. Folgen Sie mir."

Sie ging zunächst zu einem kleinen Raum, der sich unterhalb der breiten Treppe befand, die in den ersten Stock führte. Die Tür war nur angelehnt, und Travis steckte den Kopf in das Zimmer.

"Hey, Shirley, könntest du bitte für eine Weile auf den Empfang aufpassen? Ich muß mich um ein paar Kunden kümmern."

"Geht klar, Jess. Aber bleib nicht zu lange weg, okay?"

"Danke, Shirley."

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Travis wieder um und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Miss Parker und Charles folgten ihr schweigend, tauschten nur hin und wieder einen kurzen Blick. Am Ende der Treppe wandte sich Travis nach rechts und ging einen langen Gang hinunter, bis sie vor einer kleinen, massiv wirkenden Tür anhielt. Nach einer kurzen Suche in einer Tasche ihrer Uniform zog sie ein Schlüsselbund hervor. Sie schloß auf und bedeutete Miss Parker und Charles hindurch zu gehen. Dann folgte sie den beiden und schloß die Tür wieder ab.

"Ich möchte nicht, daß sich ein Patient hierher verirrt. In dem Fall hätte ich eine Menge zu erklären", meinte Travis. Die Schwester übernahm wieder die Führung.

Miss Parker sah sich neugierig um. Sie befanden sich jetzt in einem alten Treppenhaus, das offenbar nur noch selten benutzt wurde. Anders als in den restlichen Räumen der Klinik waren die Fenster hier nicht vergittert. Allerdings waren diese Fenster für die meisten Menschen zu klein, um durch sie entkommen zu können.

Schweigend folgte sie Travis noch drei weitere Treppen hinauf, sich immer der beruhigenden Präsenz von Charles bewußt, der hinter ihr ging. Am oberen Ende der letzten Treppe standen sie wieder vor einer verschlossen Tür, und wieder öffnete Travis sie für sie. Dahinter befand sich ein kleiner Raum, der Teil des Dachbodens sein mußte. Aber obwohl das Treppenhaus verlassen wirkte, sah dieser Raum so aus, als würde er zumindest hin und wieder benutzt.

Zwei abgenutzte Sessel und drei alte Stühle waren um einen wackelig wirkenden Tisch gruppiert. Durch ein großes, rundes Fenster, dessen Scheibe vor Schmutz und Staub schon fast blind war, fiel gerade genug Licht in den Raum, um ihn gemütlich wirken zu lassen. Trotzdem dachte Miss Parker, daß sie gerne darauf verzichten konnte, hier nachts herzukommen.

Travis setzte sich auf einen der Stühle und bot auch Miss Parker und Charles eine Sitzgelegenheit an. Miss Parker entschied sich für einen der Sessel, während Charles stehenblieb und einen Blick durch das Fenster zu werfen versuchte.

"Ist bestimmt eine schöne Aussicht von hier", meinte er. Schwester Travis lachte leise.

"Wir kommen nicht oft genug her, um mal sauber zu machen. Aber ab und zu ist es ganz nett, sich mal ein paar Minuten vor allem zu verstecken."

Sie wandte ihren Blick von Charles ab und sah statt dessen Miss Parker neugierig an.

"Ich bin ganz Ohr", meinte sie auffordernd. Miss Parker lächelte leicht.

"Wollen Sie die kurze oder die lange Version hören?"



Eine halbe Stunde später schürzte Schwester Travis die Lippen und starrte nachdenklich auf den kleinen Tisch. Als sie wieder aufsah, war ihr Gesichtsausdruck undeutbar.

"Diese Geschichte qualifiziert Sie eindeutig für einen Platz in unserer Klinik", sagte sie dann.

"Aber sie ist wahr", schaltete sich Charles zum ersten Mal ein. Travis warf ihm nur einen kurzen Blick zu.

"Jedenfalls klingt es verrückt genug, um wahr zu sein."

Travis schüttelte langsam den Kopf. Miss Parker sah ihr in die Augen und erkannte dort, daß die Schwester nicht nur bereit war, ihnen zu glauben, sondern es bereits tat. Sie brauchte nur noch etwas Zeit, um alle Informationen zu verarbeiten.

"Sie haben mir nicht alles erzählt."

"Nein, nur das Wichtigste. Die Details sind im Moment unwichtig, aber ich werde sie Ihnen später irgendwann erzählen, wenn Sie das möchten."

Ein kleines Lächeln spielte um Travis Lippen.

"Nein, ich glaube nicht." Während sie sich mit einer Hand durch ihr kurzes, braunes Haar fuhr, lehnte sie sich ein wenig zurück. In ihren grünen Augen stand Besorgnis. "Sie glauben also, daß Ihr Bruder für Lucas Zustand verantwortlich ist?"

Miss Parker seufzte unbehaglich und nickte dann, beinahe widerstrebend.

"Ich fürchte es, ja. Aber Lucas Reaktion hat daran kaum einen Zweifel gelassen."

"Was haben Sie jetzt vor?" wollte Travis nach einer kleinen Pause wissen.

Nach einem Blick zu Charles beugte sich Miss Parker in ihrem Sessel vor.

"Ich würde Luca gerne mit in die USA nehmen. Dort könnte sich ein Freund von mir, Sydney, um sie kümmern. Er ist ein Psychiater und kennt sich weit besser mit der kranken Psyche meines Bruders aus als jeder Arzt hier. Vielleicht kann er Luca helfen."

Wieder zeigten sich Zweifel in Travis Miene.

"Und dieser Sydney... arbeitet er auch für das Centre?"

"Ja, aber das spielt keine Rolle. Seine Loyalität gehört in erster Linie seinen Patienten, und ganz bestimmt nicht dem Centre."

"Glauben Sie nicht auch, daß es für Luca gefährlich sein könnte, sie wieder in die Nähe Ihres Bruders zu bringen? Und ich spreche hier nicht nur von den psychischen Auswirkungen auf Luca."

"Ihre Sorge ist durchaus berechtigt", gab Miss Parker zu. "Aber ich kann Luca beschützen. Lyle wird ihr nie wieder zu nahe kommen, soviel ist sicher."

Travis wiegte unentschlossen ihren Kopf.

"Ich weiß nicht. Nach Ihren Schilderungen zu schließen, ist dieser Kerl mehr als gefährlich. Sind Sie wirklich sicher, daß Sie für Lucas Sicherheit garantieren können?"

"Schwester Travis, hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Ich werde aber tun, was ich kann, um Luca zu helfen und um sie zu beschützen. Das bin ich ihr schuldig."

Charles verließ seinen Platz am Fenster und ging neben Miss Parkers Sessel in die Hocke. Er legte seine Hand auf ihren Arm.

"Sie sind nicht verantwortlich für die Taten Ihres Bruders", stellte er fest und sah sie lange an. Dann wandte er sich an Travis, ein warmes Lächeln in den Augen. "Sie können Miss Parker vertrauen."

Die Schwester überlegte eine ganze Weile, dann lächelte sie zögerlich und, wie es schien, fast gegen ihren Willen.

"Das tue ich, auch wenn es verrückt ist. Ich kann nur nicht so einfach Lucas Leben riskieren, verstehen Sie? Das Mädchen hat Schreckliches durchgemacht, und außer mir kümmert sich niemand mehr um sie."

"Wieso kommen Sie dann nicht mit?" schlug Miss Parker vor, dankbar für Charleys Nähe und seine Unterstützung.

Travis ließ sich die Idee durch den Kopf gehen.

"Das ist nicht so einfach... Aber wahrscheinlich haben Sie beide schon einen Plan ausgeheckt, nicht wahr?"

Miss Parker und Charles lächelten sich verschwörerisch an, und Travis schüttelte amüsiert den Kopf.

"Na, dann lassen Sie mal hören."

"Also, die Sache sieht folgendermaßen aus", begann Charles, "wir müssen zunächst..."



Pendleton Heights, GB
Am nächsten Tag
16:04



Miss Parker stieg die kurze Treppe zum Eingang der Klinik hoch, dicht gefolgt von Charles. Sie waren beide froh, daß Schwester Travis zugestimmt hatte, ihnen bei ihrem Plan zu helfen. Andernfalls hätten sie einen neuen Plan ausarbeiten müssen und so wertvolle Zeit verloren.

"Bereit?" fragte Miss Parker leise.

Charles warf ihr einen kurzen Blick zu und lächelte leicht.

"Sicher. Schließlich haben wir es hier ja nicht mit dem Centre zu tun." Er zwinkerte, und Miss Parker erwiderte sein Lächeln.

"Dann los."

Gemeinsam betraten sie die große Eingangshalle. Wie auch schon bei ihren vorigen Besuchen war außer einer Schwester hinter dem Empfangstresen niemand sonst anwesend. Von Schwester Travis hatten sie erfahren, daß das zum Konzept von Pendleton Heights gehörte: Die Patienten der Klinik sollten sich so wenig wie möglich überwacht fühlen. Daher befanden sich nur in den oberen beiden Stockwerken Pfleger, die auf das Wohl der Kranken achteten. Alle anderen Räume, einschließlich der Eingangshalle, wurden durch eine hochmoderne Videoanlage überwacht.

Deswegen hatten sie den ursprünglichen Plan ein wenig geändert. Da es weitaus schwieriger gewesen wäre, Luca heimlich herauszuschaffen, hatten sie sich dafür entschieden, sie in aller Öffentlichkeit mitzunehmen. Miss Parker hatte sich um die nötigen Formalitäten gekümmert, und jetzt hing alles nur noch von Charleys schauspielerischem Geschick ab.

"Guten Tag, kann ich Ihnen irgendwie helfen?" begrüßte sie die Schwester am Empfang.

"Guten Tag", erwiderte Miss Parker, "das können Sie bestimmt. Das hier ist Dr. Stephens, und ich bin Miss Parker. Wir würden gerne mit Mrs. Whitlock sprechen."

"Natürlich. Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit?"

"Es geht um eine Ihrer Patientinnen. Würden Sie Mrs. Whitlock bitte fragen, ob Sie etwas Zeit für uns erübrigen kann?"

"Bitte warten Sie einen Moment."

Die Schwester griff nach dem Telefon. Ein paar Minuten später kam eine ältere, elegante Frau die große Treppe in die Eingangshalle hinunter. Miss Parker musterte die Leiterin der Klinik unauffällig. Sie strahlte Autorität und Selbstsicherheit aus. Bevor Mrs. Whitlock in Hörweite kam, beugte sich Charles zu Miss Parker.

"Gar kein Problem", wisperte er. "Ich werde sie um den kleinen Finger wickeln."

"Guten Tag, ich bin Cornelia Whitlock, die Leiterin dieser Klinik. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"

Das Lächeln, das sie ihnen präsentierte, wirkte für Miss Parker ein wenig zu aufgesetzt, und sie beschloß, vorsichtig mit dieser Frau zu sein. Nachdem sie die Vorstellung hinter sich gebracht hatten, kam Miss Parker gleich zur Sache. Sie wollte die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Es war nicht das erste Mal, daß sie sich für jemand anderen ausgab, aber bisher hatte sie sich dabei nie allein auf ihre Fähigkeiten verlassen.

"Mrs. Whitlock, als ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal Ihre Einrichtung besucht habe, habe ich eine äußerst erstaunliche Entdeckung gemacht. Man könnte es beinahe als unglaublichen Glücksfall bezeichnen - wenn die Umstände nicht so traurig wären."

"Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen...", sagte Mrs. Whitlock, die Augenbrauen leicht in die Höhe gezogen.

"Wenn Sie nichts dagegen haben, hole ich ein bißchen weiter aus. Vor ein paar Monaten, zu Hause in den USA, kam es in einer befreundeten Familie zu einem schrecklichen Ereignis. Eine der Töchter verschwand spurlos, und trotz einer großangelegten Suche war sie nirgends zu finden. Die Eltern glaubten zunächst an eine Entführung, aber als nach Wochen noch immer keine Lösegeldforderung gestellt worden war, ließ die Polizei diese Möglichkeit fallen. Noch etwas später erklärten die offiziellen Stellen, daß das Mädchen fortgelaufen sein mußte - und stellten alle aktiven Bemühungen ein, sie wiederzufinden. Ihre Eltern gaben zwar nicht auf und engagierten mehrere Privatdetektive, aber das Mädchen konnte nicht gefunden werden." Miss Parker machte eine kleine Pause und richtete einen eindringlichen Blick auf die Klinikleiterin. "Als ich mich nun vor ein paar Tagen hier umsah, entdeckte ich eine Patientin, die diesem Mädchen wie aus dem Gesicht geschnitten war. Um alle Zweifel auszuräumen und den armen Eltern nicht unnötig Hoffnung zu machen, habe ich also ein paar Nachforschungen angestellt."

Whitlocks Augenbrauen waren noch weiter nach oben gewandert, und jetzt hob sie eine Hand, um Miss Parker zu unterbrechen.

"Nun, Miss Parker, das klingt alles etwas..."

Weit hergeholt? dachte Miss Parker.

"Ich weiß ja, wie das für Sie klingen muß, Mrs. Whitlock", sagte sie laut, "und ich verlange auch nicht, daß Sie sich allein auf mein Wort verlassen. Aus diesem Grund hat mich Dr. Stephens begleitet. Er ist der Anwalt der Familie und kann die Identität der betroffenen Patientin zweifelsfrei aufklären."

Charles räusperte sich.

"Das kann ich in der Tat. Die Papiere, die ich mitgebracht habe, werden alles untermauern. Wenn wir das Gespräch vielleicht an einem ruhigeren Ort fortsetzen könnten..."

Er griff nach dem Arm der etwas überrumpelt wirkenden Frau und überließ es ihr, ihn zu ihrem Büro zu führen. Miss Parker sah den beiden nach, dann drehte sie sich um, als sie leise Schritte hinter sich hörte. Jessica Travis kam aus dem Bereitschaftsraum der Schwestern auf sie zu.

"Und, wie ist es gelaufen?" fragte sie neugierig.

"Mrs. Whitlock hat nicht die geringste Chance", meinte Miss Parker mit einem feinen Lächeln. "Was ist mit Ihnen, hat alles geklappt?"

Travis nickte zufrieden.

"Ja. Der Boss war zwar nicht sehr begeistert darüber, daß ich so plötzlich Urlaub genommen habe, aber ihm blieb keine Wahl. Es ist das erste Mal in vier Jahren, daß ich mir frei nehme."

"Vier Jahre ohne Urlaub?" erkundigte sich Miss Parker überrascht. Schwester Travis lachte leise.

"Sehen Sie mich nicht so entsetzt an, Miss Parker. Die Schichten hier sind angenehm verteilt, da es genug Personal gibt. Uns stehen pro Monat mehrere Ruhetage zu. Die Arbeit hier kann ziemlich belastend sein, und die Klinikleitung ist dankbar für jeden Mitarbeiter, der es hier länger als ein Jahr aushält. Ich habe fast ein Dreivierteljahr Urlaub angesammelt."

Klingt irgendwie vertraut, dachte Miss Parker. Seit Jarods Flucht habe ich auch keinen Urlaub mehr gemacht.

"Dann wurde es aber höchste Zeit."

"Das können Sie laut sagen. Glauben Sie, daß es noch lange dauern wird?"

"Nein, ich schätze nicht. Die Papiere sprechen für sich selbst, und Charles hat versprochen, ganz besonders charmant zu sein."

Es dauerte tatsächlich nicht mehr lange, bis Charles und Mrs. Whitlock zurückkehrten. Charles triumphierende Miene sprach Bände, und Miss Parker fühlte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Jetzt konnten sie Luca in die USA bringen, und mit ein wenig Glück konnte Sydney ihr helfen.



Langton Cottage
Scofield, GB
19:07



"Hallo, Marine. Kommen Sie rein."

In Charles Stimme schwangen sowohl Freude als auch Kummer mit. Miss Parker kannte den Grund für beides; sie fühlte sich ganz ähnlich.

"Guten Abend, Charley", erwiderte sie, bevor sie eintrat. Wortlos folgte sie ihm ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch.

"Wann brechen Sie auf?"

"Unser Flug geht morgen früh, gegen drei Uhr. Schwester Travis ist mit Luca schon nach London aufgebrochen. Ich treffe die beiden nachher im Hotel."

"Dann ist das also der Abschied", seufzte Charles. "Ich bin froh, daß Sie noch einmal vorbeigekommen sind."

"Glauben Sie etwa, ich hätte mich wortlos fortgeschlichen?" fragte Miss Parker gespielt vorwurfsvoll. Dann wurde ihre Miene ernst. "Es gibt noch etwas, das ich Ihnen sagen muß, Charley."

Er sah sie aufmerksam an.

"Es ist Ihnen vermutlich schon selbst klargeworden, aber ich wollte sichergehen. Ich glaube, daß das Centre Ihnen dicht auf den Fersen ist, sehr dicht sogar. Die Tatsache, daß ich Sie gefunden habe, spricht ebenfalls dafür. Sie sollten... vorsichtig sein."

"Sie haben recht, das wußte ich tatsächlich bereits. Trotzdem danke ich Ihnen für die Warnung, Marine. Aber Sie sollten auch etwas wissen... Sie haben mich nur deshalb gefunden, weil ich es so wollte", meinte er mit einem Zwinkern.

Miss Parker sah ihn ein oder zwei Sekunden lang überrascht an, dann lachte sie leise.

"Jetzt glaube ich wirklich, daß Jarod ihr Sohn ist", brachte sie hervor. Charles grinste, stand auf und ging zu einer Truhe, die neben dem Kamin stand. Er holte etwas daraus hervor. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, erkannte Miss Parker, daß er eine Akte und einen Umschlag in der Hand hielt. Den Umschlag reichte er ihr.

"Was ist das?"

"Ein kleines Andenken für Sie. Öffnen Sie den Umschlag, wenn Sie wieder zu Hause sind. Es sind Fotos darin - damit Sie sich wieder ein Bild von der Vergangenheit machen können."

Miss Parker sah auf den Umschlag herab und nickte nachdenklich.

"Danke, Charley", sagte sie warm.

"Gern geschehen, Marine. Ich wünschte nur, ich hätte noch mehr für Sie tun können. Uhm, ich würde Sie außerdem noch gerne um einen Gefallen bitten."

"Natürlich, was immer es ist."

"Vorsichtig, solche Worte können einen leicht in Schwierigkeiten bringen", erwiderte Charles amüsiert, wurde aber sofort wieder ernst. "Das hier sind ein paar Informationen für Jarod. Ich möchte, daß Sie die Akte mitnehmen - damit ich sicher sein kann, daß er sie auch erhält."

Sie zögerte nur kurz.

"In Ordnung. Ich werde dafür sorgen, daß er sie bekommt. Das verspreche ich Ihnen."

"Vielen Dank, Marine. Es ist mir wirklich wichtig."

Er gab ihr auch die Akte und sah dabei zu, wie sie beides in ihre Tasche packte. Schließlich sah sie zu ihm auf.

"Was werden Sie jetzt tun, Charley?"

"Oh, ich werde weiterziehen, um den Abstand zum Centre wieder ein wenig zu vergrößern. Das dürfte nicht weiter schwer sein - die Burschen haben in den letzten Jahren glücklicherweise stark nachgelassen."

"Werden Sie irgendwann in die USA zurückkehren?"

Charles zuckte mit den Schultern.

"Das würde ich gerne tun, sobald es sicher ist. Bis dahin ziehe ich aber das Ausland vor."

Miss Parker nickte traurig und erhob sich.

"Ich verstehe. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Vielleicht können Sie früher zurückkommen, als Sie sich jetzt vorstellen können."

Er musterte sie aufmerksam, dann formten seine Lippen langsam ein Lächeln.

"Sie haben doch etwas vor, Marine", vermutete er.

"Durchaus möglich", gab sie zu. "Aber bis jetzt ist es nur eine Idee. Ich muß noch genauer darüber nachdenken."

"Hm, jetzt haben Sie mich neugierig gemacht."

"Nur Geduld, Charley. Sie werden früh genug alles erfahren, da bin ich mir ganz sicher."

Sie warf einen Blick auf die Uhr über dem Kamin. Charles folgte ihrem Blick.

"Es ist Zeit", sagte er dann. "Wenn Sie nicht bald aufbrechen, kommen Sie nicht rechtzeitig nach London zurück."

Er griff nach ihrer Hand, und Miss Parker erinnerte sich an den Augenblick, als sie ihn zum ersten Mal in Scofield getroffen hatte. Noch vor ein paar Tagen hatte sie sich nicht einmal mehr daran erinnert, daß sie ihn kannte. Trotzdem fiel ihr der Abschied jetzt schwer.

"Würden Sie mir noch einen Gefallen tun?" fragte Charles. Miss Parker nickte wortlos.

"Ich möchte, daß Sie Jarod noch etwas von mir geben. Lassen Sie sich Zeit damit, bis Sie beide soweit sind."

Bevor Miss Parker ihn fragen konnte, was er meinte, umarmte er sie und drückte sie an sich. Sie verstand.

"Passen Sie gut auf sich auf, Marine."

"Das werde ich, Charley", versprach sie ihm und blinzelte ihre Tränen zurück. "Sie werden mir fehlen."

"Sie werden mir auch fehlen, aber wir sehen uns bestimmt bald wieder."

Charles trat ein paar Schritte zurück und lächelte traurig.

"Auf Wiedersehen, Charley, und danke für alles."

"Es gibt nichts, wofür Sie mir danken müßten. Bis bald, Marine."

Er brachte sie zu ihrem Wagen und sah ihr noch lange nach.

"Ich werde dich immer im Auge behalten", meinte er leise zu sich selbst, bevor er wieder in sein Haus zurückkehrte und damit begann, seinen Umzug vorzubereiten.



Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
6:49



Ein Schauer lief über ihren Rücken, als Miss Parker die Umrisse des Centres im Scheinwerferlicht ihres Autos erkannte. Etwas mehr als vier Wochen waren vergangen, seit sie diesen Ort verlassen hatte. Es erstaunte sie, wie schwer ihr die Rückkehr fiel.

Die Arbeitsroutine steckte ihr aber noch immer in den Knochen, und so parkte sie ihren Wagen ganz automatisch. Bevor sie ausstieg, gestattete sie sich einen resignierten Seufzer, dann sammelte sie ihre Energie und machte sich auf den Weg in ihr Büro.

Miss Parker wußte, daß ihr einige Konfrontationen bevorstanden, aber auf die meisten freute sie sich. Andere dagegen bereiteten ihr einiges Kopfzerbrechen.

Die große Eingangshalle lag verlassen im Dämmerlicht des anbrechenden Morgens. So früh verirrten sich nur wenige der Angestellten ins Centre, es sei denn, ihre Anwesenheit war unerläßlich.

"Miss Parker?"

Ohne sich umzudrehen, wußte sie bereits, wem die sonore Stimme gehörte.

"Sam."

Erst jetzt drehte sie sich um und musterte ihren Sweeper mit einem desinteressierten Blick.

"Habt ihr Jarod inzwischen erwischt?"

Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf Sams sonst so unbewegtem Gesicht.

"Nein. Soweit ich weiß, hat seit vier Wochen niemand mehr etwas von ihm gehört."

"Was für eine Überraschung. Es wird wohl höchste Zeit, daß ich die Sache wieder in die Hand nehme."

Sams einzige Antwort bestand aus einem kaum merklichen Nicken.

Sie ging weiter, doch kurz vor dem Lift drehte sie sich noch einmal um.

"Ich suche meinen Bruder. Weißt du, wo er ist?"

"Sublevel 2."

Zufrieden schnippte Miss Parker mit den Fingern.

"Eine präzise Antwort. Genau wie ich es liebe. Halt dich bereit, Sam. Die Jagdsaison ist wieder eröffnet."

Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat sie einen der Lifte und drückte den Knopf mit der Aufschrift SL-2. Die Fahrt war nur kurz. Zu kurz, um ihre aufschäumende Wut unter Kontrolle zu halten, die sie beim Gedanken an Lyle befiel. Aber im Grunde war das gar nicht so schlecht. So lange sie wütend auf ihn war, hatte sie wenigstens kein Mitleid mit ihm.

Diese Empfindung für ihn verwirrte sie noch immer. Alles, was sie empfinden sollte, war Haß und vielleicht noch Abscheu. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, daß er ihr leid tat. Schließlich hatte Raines ihn zu dem Monster gemacht, das er war.

Als die Tür vor ihr zur Seite glitt, holte sie noch einmal tief Luft, erinnerte sich an ihre Wut und betrat den langen, einsamen Flur. Während sie langsam durch den Korridor schritt, versuchte sie sich zu erinnern, welche Art von Forschung auf SL 2 stattfand. Vor ein paar Jahren hatten hier unten noch Zwillingsexperimente stattgefunden, an denen auch Sydney beteiligt gewesen war, aber soweit Miss Parker wußte, waren diese Versuche nach Jarods Flucht eingestellt worden.

Vermutlich nutzte Raines jetzt dieses Sublevel. Miss Parker runzelte die Stirn. In den letzten Jahren hatte er immer mehr Raum im Centre beansprucht. Wieso war ihr das noch nicht früher aufgefallen? Wahrscheinlich, weil es mich nicht interessiert hat, dachte sie. Es war Zeit, daß jemand Raines Einhalt gebot. Aber zuerst mußte sie sich um Lyle kümmern.

Sie fand ihn schließlich in einem der Räume, die früher einmal als Labors gedient hatten. Offenbar hatte er sich hierher zurückgezogen, um in Ruhe... Miss Parker schüttelte heftig ihren Kopf. Sie wollte gar nicht wissen, was er hier unten tat. Sein Anblick genügte, um ihre Wut neu aufflammen zu lassen. Einige von Lucas Erinnerungen zeigten sich vor ihrem inneren Auge. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging sie genau auf ihn zu.

Er sah erstaunt auf, als er ihre Schritte hörte. Sein Miene verzog sich zu dem abstoßendsten Grinsen, das sie sich vorstellen konnte.

"Hallo, Schwesterchen. Du bist also wieder..." Weiter kam er nicht, bevor sie ihn erreichte und ihn mit all ihrer Kraft ins Gesicht schlug. Ihre Hand schmerzte von dem heftigen Schlag, aber im Moment bemerkte sie das nicht.

Sofort blitzte gefährliche Wut in Lyles Augen auf, aber sie gab ihm keine Gelegenheit, sich zu erholen.

"Hey, bist du verrückt geworden?" schrie er zornig.

"Halt den Mund, du perverser Bastard", zischte sie leise, packte ihn am Kragen seines Hemdes und stieß ihn mit dem Rücken an die Wand. Dann rammte sie ihren Ellbogen an seinen Hals, fest genug, um ihm für eine Weile die Luft zu rauben und um ihn in ihrer Gewalt halten zu können. "Du wirst mir jetzt genau zuhören. Ich weiß, was du getan hast. Von heute an bin ich dein allerschlimmster Alptraum. Wenn du einem meiner Freunde zu nahe trittst, werde ich dich töten. Dasselbe gilt, wenn ich dich jemals in der Nähe meines Hauses sehen sollte. Nur ein falscher Gedanke von dir, und ich werde es wissen. Und solltest du jemals versuchen, diese Sache mit Luca zu wiederholen, bist du auch tot. Allerdings wirst du dann sehr langsam sterben. Verstanden?"

Während ihrer Drohung beobachtete sie ihn ganz genau. Er gab sich zwar alle Mühe, unbeeindruckt zu wirken, aber ihr entging nicht das kurze Aufblitzen in seinen Augen, von dem sie hoffte, daß es Furcht war. Als er keine Anstalten machte, ihre Frage zu beantworten, verstärkte sie den Druck ihres Arms gegen seinen Hals, bis er schließlich nickte.

"Gut. Und solltest du Zweifel an der Ernsthaftigkeit meiner Absichten haben... Tommy Tanaka und seine Familie haben noch immer ein Hühnchen mit dir zu rupfen. Es wäre mir ein Vergnügen, dich persönlich bei ihnen abzuliefern und dafür zu sorgen, daß sie sich nicht nur mit einem Finger begnügen. Ich sähe dich lieber heute als morgen tot."

Noch einmal verstärkte sie den Druck gegen seinen Hals, dann ließ sie ihn abrupt los. Lyle sank keuchend in sich zusammen. Miss Parker drehte sich um und ging zur Tür.

"Und laß Daddy lieber da raus. Er hat im Moment nämlich ganz andere Sorgen, als sich um zwei streitende Geschwister zu kümmern", sagte sie auf dem Weg hinaus.

Erst als sie im Lift war, und die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, atmete sie tief durch. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, sich die Hände zu waschen.



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
7:59



Ein leises Klopfen ließ Sydney aus seiner Arbeit hochschrecken. Unwillkürlich fragte er sich, wer ihn um diese Zeit wohl schon sprechen wollte. Vielleicht hatte Broots ja etwas Neues von Miss Parker gehört...

"Herein", sagte er und sah erwartungsvoll zur Tür. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, wie Miss Parker sein Büro betrat. Nur ein Besuch von Jarod hätte ihn noch mehr überraschen können.

"Miss Parker!"

Hastig sprang er auf, um zu ihr zu gehen.

"Hallo, Sydney", sagte sie herzlich. Ohne weiter darüber nachzudenken, schloß er sie in seine Arme und drückte sie an sich. Zu seinem Erstaunen erwiderte sie die Umarmung. Sie schien sich über ihr Wiedersehen genauso sehr zu freuen wie er.

"Sie haben uns allen sehr gefehlt", murmelte er bewegt, während er den Moment noch etwas länger genoß. Dann ließ er sie wieder los und musterte sie eingehend.

"Sie haben mir auch gefehlt", erwiderte sie, und in ihren Augen konnte er erkennen, daß sie es ernst meinte. Verwirrt schüttelte er den Kopf.

"Sie sehen wundervoll aus, Miss Parker. Ihre Abwesenheit scheint Ihnen wirklich gut getan zu haben. Wo sind Sie bloß gewesen? Wir haben uns einige Sorgen um Sie gemacht."

Miss Parker legte ihm eine Hand auf die Schulter.

"Ich war in England. Es tut mir leid, aber ich konnte das Risiko nicht eingehen, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen." Sie seufzte leise. "Das Ganze ist eine lange Geschichte. Aber ich bin eigentlich hier, weil mein Vater mit uns beiden sprechen möchte. Genaugenommen hat er nur nach mir gefragt, aber ich wollte Sie bitten, mich zu begleiten."

Sydney konnte sich nicht helfen, aber plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr die erwachsene Miss Parker vor sich zu haben, sondern das liebenswerte kleine Mädchen, das er im Grunde genommen immer in ihr gesehen hatte. Er wußte, daß das unsinnig war, aber er war sich sicher, daß sie sich irgendwie verändert hatte. Und zwar nicht zu ihrem Nachteil.

Er berührte kurz ihre Hand.

"Lassen Sie uns gehen, Miss Parker."



Das Centre
Blue Cove, Delaware
8:23



Sydney versuchte noch immer, die jüngsten Ereignisse nachzuvollziehen, als er Miss Parker ins Büro ihres Vaters folgte. Nicht nur, daß sie nach über einem Monat Abwesenheit plötzlich wieder aufgetaucht war, sie wirkte auch völlig verändert. Er ahnte, daß das etwas mit der Simulation zu tun haben mußte, aber er wußte nicht genau, was.

Sie betrat das Büro, und er folgte ihr, gespannt, was als nächstes passieren würde. Mr. Parker sah auf, als sie hereinkamen, eine Mischung aus Ungeduld und Ärger auf dem Gesicht.

"Da bist du ja wieder", sagte er ohne jede Begrüßung und ohne Sydney auch nur eines Blickes zu würdigen. Miss Parkers einzig sichtbare Reaktion bestand aus einem amüsierten Lächeln, das aber nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen war, dann wurde ihr Gesicht wieder ausdruckslos.

"Es tut mir leid, daß ich dir vorher nicht Bescheid sagen konnte, Daddy. Aber ihr seid sicher sehr gut ohne mich zurechtgekommen. Wo ist denn Brigitte?"

Sie sah sich kurz um, eine Augenbraue fragend hochgezogen. Ein Ausdruck des Unmuts huschte über Mr. Parkers Gesicht.

"Sie ist beschäftigt. Mit Hochzeitsvorbereitungen."

Die Bemerkung sollte Miss Parker offensichtlich verletzen, aber sie nickte nur verständnisvoll. Sydney verspürte eine Mischung aus Verwunderung über Miss Parkers Reaktion und Wut über die Art, wie ihr Vater sie behandelte. Auch Mr. Parker gelang es nicht, seine Überraschung zu verbergen.

"Wenn ich irgendwie helfen kann...", bot Miss Parker an, aber ihr Ton brachte nur beiläufiges Interesse zum Ausdruck. Allmählich begann Sydney zu verstehen. Sie versuchte, ihren Vater mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, und sie stellte sich dabei gar nicht schlecht an. Mr. Parker runzelte die Stirn.

"Ich bin sicher, daß Brigitte sehr gut zurechtkommt", erklärte er.

"Na schön. Wieso wolltest du uns sehen, Daddy?"

"Wegen Jarod natürlich. Der Tower erwartet endlich Ergebnisse - und ich auch. Durch deine Abwesenheit ist dem Centre ein ganzer Monat verlorengegangen."

"Ich widerspreche Ihnen nur ungern", schaltete sich Sydney in das Gespräch ein, "aber wie Ihre Tochter schon angedeutet hat, sind wir auch ohne sie in der Lage gewesen, Jarods Spur zu verfolgen."

Sie warf ihm einen Blick zu und lächelte dabei. Sydney stockte für einen Moment der Atem. Ihr Lächeln beschränkte sich nicht wie sonst auf die Lippen, sondern erreichte auch ihre Augen. Er konnte sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal der Fall gewesen war. Für einen Augenblick sah sie dadurch genau aus wie ihre Mutter, strahlte dieselbe Wärme aus. Doch es gab noch etwas anderes, etwas, das einzigartig für Miss Parker war, und das er noch nie zuvor gesehen hatte. Etwas, dem er sich nicht verschließen konnte, und das ihn veranlaßte, das Lächeln mit tief empfundener Wärme zu erwidern.

Sie wandte sich wieder ihrem Vater zu, und ihr Lächeln verblaßte zu der selben kalten Version, mit der er sie immer bedachte. In Mr. Parkers Augen blitzte Erkennen auf. Plötzlich betrachtete er seine Tochter mit demselben besitzergreifenden Blick, unter dem Catherine so sehr gelitten hatte. Seine gesamte Haltung änderte sich. Er hatte die tiefen Emotionen wiedererkannt, die ihn an seiner Frau so sehr fasziniert hatten, die er aber nie hatte begreifen können.

"Wieso erzählst du mir nicht etwas über deine Reise, Liebes?" fragte er.

Miss Parker schüttelte bedauernd den Kopf.

"Ich habe jetzt einen wichtigen Termin im Tower, den ich nicht verschieben kann."

"Nun, vielleicht können wir dann heute abend reden."

"Sicher. Ich rufe dich an. War das alles?" erwiderte sie in geschäftsmäßigem Tonfall.

"Ja, ich denke schon."

"Gut. Kommen Sie, Syd, Jarod wartet nicht auf uns."

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging zur Tür. Sydney warf Mr. Parker noch einen langen Blick zu, dann folgte er ihr. Er mußte unbedingt so bald wie möglich mit ihr sprechen.

"Miss Parker", rief er, und sie blieb stehen. Dann drehte sie sich zu ihm um. Wieder lächelte sie voll aufrichtiger Wärme, und wieder berührte sie etwas tief in ihm. Selbst wenn er es gewollt hätte, diesem Lächeln konnte er nicht widerstehen.

"Wir reden später, Sydney, in Ordnung? Diese Verabredung im Tower ist wirklich wichtig. Wieso fahren Sie mich nachher nicht nach Hause? Nach dem langen Flug möchte ich nicht selbst fahren. Außerdem gibt es da etwas, bei dem ich Sie um Ihre Hilfe bitten möchte."

Er nickte, unfähig, ihr ihre Bitte abzuschlagen.

"Gut, Miss Parker. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie hier fertig sind."

Ihr Lächeln vertiefte sich noch um eine Nuance.

"Vielen Dank, Sydney."

Sie drehte sich um und ging zu den Aufzügen. Sydney sah ihr lange nachdenklich nach.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
14:34



Als Miss Parker den Technikraum betrat, unterdrückte sie ein amüsiertes Lächeln. Alles war wie immer, und doch fiel ihr vieles zum ersten Mal auf. Broots saß konzentriert an seinem Computer, aber an seiner entspannten Haltung konnte sie ablesen, daß er nicht mit Centre-Angelegenheiten beschäftigt war. Sydney las in einer Akte, aber seine Gedanken schienen meilenweit entfernt zu sein.

Er sah erst auf, als sie an ihm vorbei zu Broots ging.

"Hallo, Broots", sagte sie leise. "Haben Sie mich vermißt?"

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, zog sie aber sofort kopfschüttelnd wieder zurück, als der Techniker erschrocken zusammenzuckte. Nicht, daß sie ihm seine Reaktion verdenken konnte.

"Mi... Miss Parker", stammelte er. "Uh... Sie sind wieder da?"

Bewußt verzichtete sie auf eine sarkastische Antwort.

"Ja. Gibt es irgend etwas, das Sie mir erzählen wollen?"

"Ähm, nein, ich glaube nicht", brachte er hervor.

"Muß ein sehr ereignisloser Monat gewesen sein", murmelte sie. Dann, etwas lauter, fragte sie ihn: "Wie geht es Debbie?"

Broots, der diese Frage in den letzten vier Wochen einmal zu oft von Raines gehört hatte, reagierte ungewohnt heftig.

"Meine Tochter hat mit meiner Arbeit im Centre nicht das Geringste zu tun, verstehen Sie? Ich werde nicht zulassen..."

Miss Parker verstand sofort, worum es ging.

"Broots", unterbrach sie ihn sanft, "lesen Sie's von meinen Lippen. Wie. Geht. Es. Debbie?"

Verwirrt schaute er zu ihr auf, das erste Mal, seit sie den Raum betreten hatte.

"Oh", sagte er, als er langsam verstand, worauf sie hinaus wollte, "Sie wollen wirklich wissen, wie es ihr geht. Es geht ihr gut. Sie... hat nach Ihnen gefragt."

"Wirklich? Ich würde sie gerne bald mal wieder sehen. Richten Sie ihr schöne Grüße von mir aus."

"Das werde ich", versicherte Broots und starrte sie an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Diesmal gestattete sie sich ein kleines Lächeln und wandte sich zu Sydney um, der sie mit einem Grinsen betrachtete.

"Sind Sie soweit?" war alles, was er sagte.

Sie nickte.

"Von mir aus kann's losgehen. Bis morgen, Broots."

"Ähm, ja. Bis morgen."

Auf dem Weg nach draußen hörte sie noch, wie er Sydney etwas fragte, der daraufhin leise lachte und antwortete: "Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Broots."

Im Auto wartete Miss Parker gespannt darauf, wie lange es dauern würde, bis Sydney seiner Neugier nachgab. Sie mußte nicht sehr lange warten.

"Sie werden mir wahrscheinlich nicht verraten, was Sie in England gemacht haben", meinte er unverbindlich.

"Wären Sie sehr überrascht, wenn ich das doch tun würde?" fragte sie ihn amüsiert.

Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu, dann sah er wieder auf die Straße.

"Ja, allerdings."

"Nun, ich werde es trotzdem tun. Aber nicht jetzt."

Sydney lachte leise.

"Na gut, ich kann warten", erwiderte er. "Dann lassen Sie uns über etwas anderes reden. Mir ist aufgefallen, daß Sie, seit Sie zurück sind, noch mit keinem Wort Jarod erwähnt haben. Gibt es dafür einen Grund?"

"Ja, den gibt es. In den letzten Wochen hatte ich viel Zeit, meine Einstellung zu ihm zu überdenken. Er nimmt jetzt einen anderen Platz in meinen Leben ein. Aber bevor Sie mich nun fragen, welchen", sagte sie und hob abwehrend die Hände, "das habe ich selbst noch nicht herausgefunden."

Er schüttelte den Kopf.

"Miss Parker, Sie überraschen mich", gab er zu.

Diesmal war sie es, die leise lachte.

"Mir geht es da auch nicht anders. Wissen Sie, Sie hatten recht. Die Simulation hat wirklich einiges in meinem Leben verändert. Ich beginne erst langsam zu begreifen, was passiert, aber vielleicht können Sie mir ja ein wenig dabei helfen."

"Das werde ich sehr gerne, Miss Parker", versicherte er ihr mit Nachdruck, und in seiner Stimme konnte sie deutlich seine Rührung hören, obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Sie berührte ihn kurz am Arm, dann klingelte plötzlich ihr Handy. Nachdem sie es aus der Innentasche ihres Blazers geholt hatte, aktivierte sie die Verbindung.

"Hallo?" fragte sie ruhig.

"Was hast du mit meinem Vater gemacht?"

Jarods Stimme enthielt einen aggressiven Unterton, der sie früher zu einer heftigen Antwort gereizt hätte, aber jetzt blieb sie ruhig. Seine Sorge um seinen Vater war für sie mehr als verständlich.

"Hallo, Jarod", antwortete sie sanft. Die Gespräche mit ihm hatten ihr mehr gefehlt, als sie sich bis jetzt eingestanden hatte.

"Was hast du mit meinem Vater gemacht?" fragte er noch einmal, diesmal lauter und mit einer deutlichen Drohung in der Stimme. Miss Parker seufzte.

"Es geht ihm gut", erwiderte sie und fühlte sich plötzlich sehr müde. Die ständigen Machtproben mit Jarod erschienen ihr auf einmal nicht nur sinnlos, sondern auch sehr anstrengend. Sie hatte genug davon, aber sie wußte, daß es ihre eigene Schuld war. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, das zu ändern.

"Ich glaube dir nicht", sagte er aufgeregt. "Wenn du ihn..."

"Jarod, hör mir doch zu. Deinem Vater geht es hervorragend." Ihr fiel etwas ein, mit dem sie ihn sicher überzeugen konnte. "Ich schwöre es dir beim Grab meiner Mutter."

Neben ihr atmete Sydney hörbar ein, sagte aber nichts. Miss Parker war ihm für seine Zurückhaltung dankbar.

"Meinst du das ernst?" fragte Jarod schließlich nach einer langen Pause. Er schien sich etwas beruhigt zu haben.

"Natürlich tue ich das. Du weißt, wieviel mir meine Mutter bedeutet."

"Dann warst du nicht wegen ihm in England?"

"Ich war dort, um etwas über meine Mutter zu erfahren. Ihren Mörder habe ich zwar nicht gefunden, dafür aber einen guten Freund. Ist deine Frage damit beantwortet?"

"Ja, aber..."

"Gut", unterbrach sie ihn. "Bis bald, Jarod."

Sie wartete seine Antwort nicht ab und legte auf. Was sie ihm zu sagen hatte, wollte sie ihm persönlich sagen, nicht am Telefon.

Sydney sah auf die Straße.

"Wieso hat er sie nach seinem Vater gefragt?"

"Ich nehme an, er hat geahnt, warum ich so lange fort war."

"Sie haben seinen Vater also getroffen?"

Seine Stimme verriet nichts anderes als Interesse, aber ihr war klar, daß ihn diese Sache sehr aufwühlte.

"Mhm", murmelte sie und bemühte sich vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken.

"Wir können später darüber reden", bot Sydney ihr an.

"Das wäre mir wirklich lieber", gestand sie erleichtert. "Vielen Dank für Ihre Geduld."

"Das ist mein Beruf", erinnerte er sie mit einem leichten Lächeln.

"Wo Sie gerade darauf zu sprechen kommen... Erinnern Sie sich noch, daß ich Sie vorhin um Ihre Hilfe gebeten habe?"

"Natürlich. Worum geht es?"

Miss Parker seufzte schwer. Dieses Thema bereitete ihr erheblichen Kummer.

"Das zeige ich Ihnen, sobald wir bei mir zu Hause sind."

Für den kurzen Rest der Strecke schwieg sie, bis sie in die Einfahrt zu Miss Parkers Haus einbogen.

"Trautes Heim, Glück allein", sagte sie mit einem schwachen Lächeln. Nachdem sie beide ausgestiegen waren, wandte sie sich an Sydney. "Wir müssen leise sein, damit wir meinen Gast nicht erschrecken."

Sydney hob fragend eine Braue, nickte aber. Er folgte ihr ins Haus.

Im Wohnzimmer wartete Schwester Travis und sah mit einem Lächeln zu ihnen auf.

"Hallo, Miss Parker."

"Hallo, Schwester Travis. Ist alles gutgegangen?"

"Aber ja. Machen Sie sich keine Sorgen."

Miss Parker nickte erleichtert.

"Sydney, das ist Schwester Travis. Sie war so freundlich, mir behilflich zu sein. Und das ist mein Freund Sydney, der Psychiater, von dem ich Ihnen erzählt habe."

Die beiden schüttelten sich die Hände, dann streckte sich Travis.

"Da Sie jetzt hier sind, kann ich ja etwas Schlaf nachholen. Versprechen Sie mir, daß Sie mich anrufen, wenn Sie meine Hilfe brauchen, ja?"

"In Ordnung. Vielen Dank für alles", sagte Miss Parker herzlich.

"War mir ein Vergnügen", versicherte Travis mit einem Zwinkern. "Auf Wiedersehen, Doktor."

"Auf Wiedersehen, Miss Travis", erwiderte Sydney, der sich offenbar damit abgefunden hatte, heute von einer Überraschung in die andere zu stolpern.

"Setzen Sie sich doch, Syd", bot Miss Parker an. "Etwas zu trinken?"

"Ein paar Antworten wären mir lieber", meinte er offen.

"Seien Sie sich da nicht zu sicher. Das hier ist keine angenehme Sache. Ich brauche Ihre Hilfe als Psychiater, das heißt eine Freundin von mir."

Sie seufzte und schloß kurz die Augen.

"Es ist eine lange, häßliche Geschichte, aber das meiste sollte Luca Ihnen lieber selbst erzählen."

"Wer ist Luca?"

"Eine junge Frau, die ich mehr oder weniger zufällig in England gefunden habe. Machen wir dafür einfach meine neu entdeckten Fähigkeiten verantwortlich. Wie auch immer, Luca ist das Opfer von Lyles abnormem Verhalten geworden. Zusammen mit meinem Vater hat er sie in England versteckt, um alles zu vertuschen."

Sydney sah sie mitfühlend an.

"Warum haben Sie sie hergebracht?"

"Dort konnte man nichts für sie tun. Ich hatte gehofft, daß Sie Luca vielleicht helfen können. Mir ist zwar nicht wohl dabei, daß sie nun wieder so nah bei Lyle ist, aber es ging nicht anders. Werden Sie mit ihr sprechen?"

Er nickte.

"Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?" fragte er sanft.

Miss Parker atmete hörbar aus.

"Lyle hat sie vergewaltigt. Viel mehr weiß ich auch nicht", antwortete sie nach einem Moment. Über ihre Rolle in der Sache konnte sie mit ihm nicht sprechen, noch nicht. Sie mußte erst selbst beginnen, damit fertig zu werden. Vermutlich würde er es ohnehin bald erahnen, und dann würde sie auch mit ihm darüber reden.

"In Ordnung." Er gab sich mit ihrer Antwort zunächst zufrieden, auch wenn er ahnte, daß noch mehr dahintersteckte.

"Danke", sagte sie einfach, dann ging sie ins Gästezimmer, wo Luca untergebracht war. Vorsichtig näherte sie sich der schlafenden jungen Frau und berührte sie ganz sanft an der Schulter, um sie nicht zu erschrecken.

"Luca", flüsterte sie.

Sie öffnete sofort ihre Augen und sah sich gehetzt um, beruhigte sich aber, als sie Miss Parker erkannte. Miss Parker zwang sich zu einem sanften Lächeln, obwohl sie innerlich vor Wut auf Lyle kochte. Trotz der Tatsache, daß sie Lucas Erinnerungen geteilt hatte, kannte sie nur einen Teil der Schmerzen, die Lyle der jungen Frau zugefügt hatte und die sie jetzt mit namenlosem Schrecken erfüllten.

"Hier ist ein Freund, der mit dir sprechen möchte. Erinnerst du dich noch? Ich habe dir von Sydney erzählt."

Luca nickte zögernd und griff dann nach Miss Parkers ausgestreckter Hand. Langsam folgte sie ihr ins Wohnzimmer.

Miss Parker machte die beiden miteinander bekannt und überzeugte sich dann davon, daß es Luca nicht zuviel wurde. Erst als sie sicher war, daß alles soweit in Ordnung war, verließ sie das Zimmer. Sie ging ins Badezimmer, zog danach ihren Pyjama an und machte noch einen kurzen Abstecher in die Küche. Dort schaltete sie ihr Handy aus und legte es auf den Küchentisch. Nach einem kurzen Blick ins Wohnzimmer, bei dem sie Sydney bedeutete sie zu rufen, wenn es irgend welche Probleme geben sollte, ging sie in ihr Schlafzimmer und ließ sich auf ihr Bett fallen.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.



Jarod hatte Miss Parkers Haus durch die Hintertür betreten. Ihr Gespräch war äußerst unbefriedigend verlaufen, und er wollte noch einige Antworten. Obwohl er sich fragte, warum Sydney und eine fremde Frau in Miss Parkers Wohnzimmer saßen, ignorierte er diese Entdeckung und suchte weiter nach Miss Parker.

Er fand sie schließlich in ihrem Schlafzimmer. All seine Pläne zerstoben, als er sie dort schlafend in ihrem Bett sah. Sie war eindeutig erschöpft, aber auf ihrem Gesicht lag ein so friedlicher Ausdruck, wie er ihn zuletzt in ihrer Kindheit gesehen hatte. Zutiefst fasziniert betrachtete er sie und beschloß, seine Suche nach Antworten noch ein wenig zu verschieben.

Ohne weiter darüber nachzudenken, näherte er sich ihrem Bett, bis ihn nur noch ein knapper Meter von ihr trennte. Jarod empfand eine seltsame Mischung aus Bedauern und Sehnsucht. Beide Empfindungen schienen charakteristisch für seine Beziehung zu Miss Parker zu sein, aber er erinnerte sich noch gut an die Zeit, in der das anders gewesen war. Sie waren Freunde gewesen, und Jarod wünschte sich, daß sie das irgendwann wieder sein konnten. Und vielleicht war da noch mehr zwischen ihnen, etwas, von dem er das Gefühl hatte, das sie es auch manchmal spürte, auch wenn sie es nie zugeben würde.

Mit einem lautlosen Seufzer wandte Jarod sich von der schlafenden Miss Parker ab. Diese Wunschträume hatten keinen Zweck - sie bereiteten ihm nur Probleme. Und trotzdem war er nicht bereit, sie aufzugeben.

So leise wie er das Haus betreten hatte, verließ er es wieder. Er würde seine Antworten finden, aber nicht heute. Diese Nacht gehörte seinen Träumen und Hoffnungen.



Das erste, was Sydney an Luca aufgefallen war, war ihre äußerliche Ähnlichkeit zu Miss Parker. Sofort hatte ihn ein ungutes Gefühl beschlichen, aber er hatte es zunächst verdrängt, um seine ganze Aufmerksamkeit seiner Patientin zu widmen.

Jetzt, wo er zumindest einen Teil der Geschichte kannte, kehrte das Gefühl zurück, stärker als am Anfang, und ließ sich nicht mehr so einfach ignorieren.

Sydney unterdrückte ein Gähnen und warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Es war schon fast vier Uhr morgens. Luca saß ihm gegenüber auf der Couch. Sie wirkte ebenfalls müde, aber auch um einiges ruhiger als zu Anfang ihres Gesprächs, wie Sydney zufrieden feststellte.

Betont langsam, um Luca nicht zu erschrecken, stand er auf und ging zur Couch.

"Sie sind bestimmt müde, Luca. Kommen Sie, ich bringe Sie zurück ins Gästezimmer", sagte er sanft. Luca sah ihn ein paar Sekunden lang aus ihren großen, dunklen Augen an, dann nickte sie fast unmerklich. Unwillkürlich fragte sich Sydney, ob die junge Frau je wieder lächeln würde. Sie war zwar stark, aber Lyle hatte sie fast zerstört. Bewußt schob er den Gedanken fort, um sich später damit zu befassen, wenn er das Gespräch analysierte.

Sorgfältig achtete er darauf, Luca nicht zu nahe zu kommen, damit sie sich nicht von ihm bedroht fühlte. Lyle hatte ihr die Kontrolle genommen, und deshalb brauchte sie jetzt das Gefühl, die Situation jederzeit kontrollieren zu können.

Sydney begleitete sie bis zum Gästezimmer und bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln.

"Miss Parker und ich sind in der Nähe. Wenn irgend etwas ist, rufen Sie einfach. Wir sehen morgen früh wieder nach Ihnen. Und jetzt versuchen Sie, ein wenig zu schlafen, Luca. Gute Nacht."

Wieder bestand die Antwort der jungen Frau aus einem Nicken, bevor sie das Zimmer betrat und die Tür hinter sich anlehnte. Nach einem kurzen Zögern ging Sydney weiter, bis er Miss Parkers Schlafzimmer erreichte. Er wollte nach ihr sehen, um sicherzugehen, daß mit ihr alles in Ordnung war. Offenbar spielte sie in der Angelegenheit auch eine Rolle, aber er wußte noch nicht, welche. Allerdings hatte er eine Ahnung...

Die Schlafzimmertür war nur angelehnt, und Sydney warf einen Blick in den Raum. Miss Parker schlief tief und ruhig, aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, träumte sie. Eine ganze Weile stand Sydney einfach nur da und beobachtete sie, dann ging er schließlich zurück ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich auf die Couch sinken. Er war zwar müde, schlief aber trotzdem noch nicht ein.

Zu viele Dinge gingen ihm im Kopf herum. Seine Gedanken kehrten zur Fahrt vom Centre zu Miss Parkers Haus zurück, zu Jarods Anruf. Endlich machte Jarods Verhalten in den letzten Tagen vor Miss Parkers Rückkehr einen Sinn. Sydney zögerte noch immer, seine Gefühle bezüglich Jarods Vater zu analysieren.

Für ihn war es nie eine Frage gewesen, daß er Jarod dabei helfen würde, seine Familie zu finden, trotzdem beunruhigte ihn der Gedanke an Jarods Vater ein wenig. Er weigerte sich, Eifersucht dafür verantwortlich zu machen - eine solche Empfindung wäre mehr als lächerlich. Sydney seufzte. Ihm blieb immer noch die Möglichkeit, mit Jarod darüber zu sprechen. Aber so, wie die Dinge im Augenblick lagen, vermutete Sydney, daß Miss Parker die bessere Gesprächspartnerin für ihn war. Immerhin hatte sie Jarods Vater kennengelernt. Es ist wahrscheinlich wirklich am besten, wenn ich zuerst mit ihr spreche, überlegte er. Dann kann ich auch gleich noch ein paar andere Dinge klären.

Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und versuchte, es sich auf der Couch so bequem wie möglich zu machen. Langsam fielen alle bewußten Gedanken von ihm ab, als die Müdigkeit endgültig die Oberhand gewann. Nur die nagende Unruhe blieb und bescherte ihm einen unruhigen Schlaf.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
8:13



"Miss Parker?"

Die Stimme war leise und klang außerdem ein wenig besorgt. Miss Parker öffnete langsam ihre Augen. Sydney stand neben ihrem Bett und sah sie mit einem leichten Lächeln an.

"Guten Morgen, Syd", murmelte sie und sein Lächeln verbreiterte sich sofort.

"Guten Morgen, Miss Parker", erwiderte er sanft. "Es tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, aber wenn wir uns nicht bald auf den Weg ins Centre machen, könnte das ungewollte Aufmerksamkeit erregen."

Sie setzte sich auf und musterte ihn warm.

"Sie haben recht, Sydney." Plötzlich erinnerte sie sich an etwas. "Wie geht es Luca?" fragte sie ihn besorgt.

Er berührte sie beruhigend an der Schulter.

"Es geht ihr den Umständen entsprechend. Wir haben die halbe Nacht geredet. Sie ist jetzt im Gästezimmer und schläft." Offenbar wollte er noch mehr sagen, überlegte es sich aber anders.

"Was ist los?" erkundigte sie sich sanft.

"Ich kenne noch nicht alle Details", begann er zögernd, "aber wir sollten uns bald über diese Sache unterhalten."

Sie sah die Sorge und die Wärme in seinen Augen und nickte.

"Das werden wir. Ich verspreche es Ihnen. Und jetzt... wie wäre es mit einem Frühstück, bevor wir aufbrechen?"

Sydney lachte leise, und sie runzelte fragend die Stirn.

"Ich muß mich erst noch an Ihre Fürsorglichkeit gewöhnen", beeilte er sich zu erklären. Miss Parker erwiderte sein Lächeln.

"Beeilen Sie sich lieber damit", meinte sie, während sie aufstand und ihren Morgenmantel anzog.

"Oh, ich habe schon damit angefangen, Miss Parker."

"Gut. Bevor ich es vergesse... Das Bad steht zu Ihrer Verfügung. Ich brauche erst einmal einen Kaffee."

Sydney wirkte erleichtert, und Miss Parker unterdrückte ein Lächeln. Anscheinend hatte er sie nicht danach fragen wollen. Sie sah ihm nach, bis er im Badezimmer verschwunden war, dann warf sie einen kurzen Blick ins Gästezimmer. Luca lag ruhig im Bett und schlief, einen erholten Ausdruck auf dem Gesicht.

Als nächstes ging Miss Parker in die Küche. Sie kümmerte sich um den Kaffee, dann griff sie nach ihrem Handy und schaltete es wieder ein. Ein hektisches Blinken im Display zeigte an, daß sie mehrere Nachrichten erhalten hatte. Bevor sie Gelegenheit erhielt, sich darum zu kümmern, betrat Sydney die Küche. Miss Parker hob überrascht die Brauen.

"Das ging aber schnell."

Er lächelte.

"In den letzten Jahren mußte ich lernen, nach einem plötzlichen Anruf in der Nacht so schnell wie möglich einsatzbereit zu sein", erklärte er grinsend.

Sie schüttelte den Kopf.

"Sydney, Sie sind in all der Zeit nicht ein einziges Mal so schnell fertig gewesen", erwiderte sie mit einem amüsierten Unterton in der Stimme. "Aber wenigstens haben Sie Jarod auf diese Weise immer einen fairen Vorsprung verschafft."

"Das können Sie nicht beweisen."

Sydney grinste noch immer. Wortlos reichte sie ihm einen Becher mit Kaffee.

"Vielen Dank."

Miss Parker nickte, während sie einen Schluck aus ihrem Becher trank.

"Ah, das tut gut. So, dann wollen wir mal sehen, ob ich Ihre Zeit unterbieten kann."

Sie ging ins Badezimmer und gönnte sich eine schöne, heiße Dusche. Danach ging sie in ihr Schlafzimmer und zog sich an. In persönlicher Rekordzeit war sie wieder zurück in der Küche. Als Sydney sie sah, hob er in gespielter Resignation die Arme.

"Sie haben gewonnen. Möchten Sie auch einen Toast?"

"Gerne. Ich wußte gar nicht, daß ich noch etwas zu essen im Haus hatte."

"Vielleicht hat Schwester Travis ein wenig eingekauft."

"Mhm", meinte sie nachdenklich, während sie nach ihrem Handy griff. Zwei der Nachrichten stammten von ihrem Vater, eine von Broots und drei von Raines. Sie verzog das Gesicht.

"Alles in Ordnung?"

"Ja, aber offenbar ist Raines ziemlich ungeduldig. Außerdem habe ich ganz vergessen, Daddy gestern Abend noch anzurufen."

"Haben Sie es wirklich *vergessen*?" wollte Sydney wissen.

Miss Parker sah auf und begegnete seinem forschenden Blick.

"Muß in der Familie liegen", meinte sie leise.

Sydney neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Das glaube ich nicht."

Sie lächelte.

"Gut das zu wissen."

Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf.

"Wir sollten langsam gehen. Schwester Travis müßte gleich hier sein, dann können wir aufbrechen."



"Sydney, bevor wir losfahren, möchte ich Sie noch um einen Gefallen bitten."

Er sah sie überrascht an. Sie saß hinter dem Steuer und griff in ihre Aktentasche, aus der sie eine einzelne Akte zog. Wortlos reichte sie sie ihm.

"Was ist das?"

Sie lächelte geheimnisvoll.

"Ein Stück von Jarods Vergangenheit, das ich in England gefunden habe. Ich möchte Sie bitten, es ihm zu geben, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen."

Für einen Moment wußte er nicht, was er sagen sollte.

"Wieso geben Sie ihm das nicht selbst?" fragte er schließlich.

Miss Parker seufzte.

"Weil die Gefahr besteht, daß er es von mir nicht annimmt. Ich habe versprochen, daß er es erhält. Bitte, Sydney."

Obwohl er ihre Argumentation nicht für ganz schlüssig hielt, nickte er.

"In Ordnung, Miss Parker. Aber Sie sollten etwas wissen... Mein Kontakt zu Jarod war in den letzten Wochen nicht besonders... gut."

Als sie ihn ansah, erkannte er Mitgefühl in ihren Augen.

"Das tut mir ehrlich leid, Syd. Ich bin sicher, daß sich das bald wieder ändert. Trotzdem sind Sie der Richtige, um ihm das zu geben."

Sydney nickte. Er war gern bereit, Miss Parker zu helfen. Das war er immer gewesen.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
9:09



Als Miss Parker den kleinen Raum betrat, stellte sie erleichtert fest, daß nur Broots dort war. Gut, sie mußte allein mit ihm sprechen.

"Guten Morgen, Broots", sagte sie, während sie betont langsam zu ihm ging.

Er drehte sich zu ihr um.

"Guten Morgen, Miss Parker", erwiderte er und sah sie unsicher an. Offenbar fragte er sich, was sie diesmal vorhatte und welche undankbare Rolle er dabei spielen sollte.

"Haben Sie in der Mittagspause schon etwas vor?" wollte sie von ihm wissen.

"Uhm, nein."

"Oh, gut. Hätten Sie Lust, mich bei einem Spaziergang zu begleiten?"

Broots Brauen wanderten nach oben, während er sie sprachlos anstarrte.

"Draußen", fügte sie hinzu und wartete geduldig, bis er sich wieder gesammelt hatte.

"Äh. Sicher. Gerne", brachte er schließlich hervor.

"Sehr schön. Bis später dann."

Sie lächelte ihm aufmunternd zu und ging zurück zu ihrem Büro. Vielleicht gelang es ihr irgendwann, ein normales Verhältnis zu ihm aufzubauen.



Das Centre
Blue Cove, Delaware
13:07



Das Gelände, von dem das Centre umgeben war, lud zwar nicht unbedingt zu einem Spaziergang ein, aber nur dort war eine relativ sichere Unterhaltung möglich. Broots Nervosität war offensichtlich, und er sah sich immer wieder gehetzt um. Miss Parker sah sich das eine Weile mit an, dann griff sie ihn am Arm und zog ihn mit sich zu einer einsamen Bank.

"Wieso setzen Sie sich nicht ein bißchen hier in die Sonne? Und beruhigen Sie sich, Ihnen wird nichts passieren."

Der Techniker sah sie zwar zweifelnd an, ließ sich aber auf die Bank sinken. Soweit Miss Parker das feststellen konnte, war es die einzige Bank auf dem gesamten Gelände. Offenbar kamen nur äußerst selten Angestellte des Centres auf die Idee, hierher zu kommen. Andererseits war das durchaus verständlich, wenn man einen Vorgesetzten wie Raines hatte.

"Was... was machen wir hier, Miss Parker?" erkundigte sich Broots, nicht mehr ganz so nervös wie noch vor ein paar Minuten.

"Das hier ist ein netter Ort, um sich ein wenig zu unterhalten. Keine Kameras, keine Mikrofone, keine Sweeper. Nur... Privatsphäre."

"Oh nein, ich soll schon wieder jemanden für Sie ausspionieren, habe ich recht? Bitte, Miss Parker, ich kann das nicht mehr tun."

Seine Stimme enthielt einen fast flehenden Unterton. Miss Parker seufzte und setzte sich neben Broots.

"Ich sehe schon, Ihnen wird nicht gefallen, worum ich Sie bitten möchte."

Sie machte eine Pause und starrte für eine Weile auf das ruhige Wasser. Ihr war klar, daß Broots seine Arbeit für das Centre, und insbesondere die Arbeit für sie, in letzter Zeit immer mehr als Belastung empfunden hatte. Trotzdem brauchte sie seine Hilfe.

"Hat es etwas mit Raines oder Mr. Lyle zu tun?" wollte Broots plötzlich wissen.

"Was ich vorhabe, Broots, ist mindestens zwei Nummern größer als ein Einbruch in Lyles Büro oder Raines persönliche Dateien."

"Heißt das, daß Sie sich mit dem Triumvirat anlegen wollen?" wisperte Broots entsetzt.

Vielleicht sollte ich meine Taktik ändern, überlegte Miss Parker.

"Arbeiten Sie eigentlich gern für das Centre?"

Broots starrte sie an, als habe sie gerade den Verstand verloren, dann schüttelte er den Kopf.

"Mr. Raines hat keinen Zweifel daran gelassen, daß ich zuviel über das Centre weiß, um kündigen zu können. Dann sind da noch die mehr als ungewöhnlichen Arbeitszeiten, die gefährlichen Situationen, in die ich ständig gerate... Nein, ich schätze, ich arbeite nicht gerne für das Centre. Aber ich bin lieber hier beschäftigt und lebendig, als arbeitslos und tot."

"Und dann ist da noch Debbie", meinte Miss Parker nachdenklich, nur ein wenig überrascht von Broots Ausbruch. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten nicht nur an ihren Nerven gezehrt.

"Ja, Debbie. Als ich hier anfing, dachte ich, das wäre der perfekte Job, um Debbies Zukunft zu sichern. Mittlerweile wünsche ich mir, ich hätte nie etwas vom Centre gehört."

"Da sind Sie nicht allein", murmelte Miss Parker beinahe unhörbar.

"Wieso fragen Sie mich, ob ich hier gerne arbeite? Stimmt etwas nicht? Hat Mr. Raines etwas vor? Oh mein Gott..."

Miss Parker legte ihre Hand auf seinen Arm.

"Es ist alles in Ordnung, Broots. Ich würde nie zulassen, daß Raines Ihnen etwas antut. Sie arbeiten schließlich für mich, nicht für ihn. Außerdem braucht Debbie ihren Vater."

Ihre Worte schienen ihn tatsächlich ein wenig zu beruhigen. Er senkte den Kopf und starrte den Boden zwischen seinen Füßen an.

"Ich brauche Ihre Hilfe, Broots", sagte Miss Parker ruhig. Broots seufzte, dann sah er sie an, und die Furcht in seinen Augen wurde bereits verdrängt von dem Wunsch ihr zu helfen.

"Wobei soll ich Ihnen helfen?" erkundigte er sich schließlich leise.

"Wie würde es Ihnen gefallen, das Centre zu schließen und die Verantwortlichen hinter Gitter zu bringen?" fragte Miss Parker mit einem leichten Lächeln.

Der Techniker starrte sie volle fünf Sekunden lang an, bevor er anfing zu lachen. Miss Parker hatte mit so einer Reaktion gerechnet - der Gedanke, das Centre zu schließen, war im ersten Moment unfaßbar. Broots Gelächter hörte so plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Ihm war klar geworden, daß sie es ernst meinte.

"Wie?" krächzte er, nachdem er ein paar Sekunden lang vergeblich um Worte gerungen hatte.

"Ganz einfach. Wir werden die Behörden auf das Centre aufmerksam machen - und zwar die richtigen."

"Das wird niemals funktionieren, Miss Parker." Er schüttelte heftig den Kopf, um seine Worte zu unterstreichen. "Das Centre ist hervorragend geschützt und hat gute Kontakte zu vielen Stellen. Es gibt keine Beweise gegen das Centre."

Miss Parker beugte sich nach vorn und sah Broots eindringlich an.

"Und hier kommen Sie ins Spiel, Broots. Alles, wirklich alles, ist im Centre elektronisch gespeichert. Jarod hat oft genug darauf hingewiesen. Das Problem bei der Sache ist, wie Sie schon richtig gesagt haben, das Sicherheitssystem. Sobald wir das umgangen haben, werden wir mehr als genug Beweise haben."

"Es ist nicht möglich, das Sicherheitssystem zu umgehen."

"Kommen Sie schon, Broots. Jarod hat es mehr als einmal geschafft, und ich glaube, daß Sie das auch können."

Broots schüttelte abwehrend den Kopf.

"Ich kann Ihnen nicht helfen, Miss Parker. Es tut mir leid. Nicht nur, daß es viel zu gefährlich ist, es ist einfach unmöglich. Außerdem kann ich Debbie nicht in Gefahr bringen."

"Sehen Sie mich an, Broots", forderte sie ihn auf. "Ich kann Debbie beschützen, und ich habe bereits dafür gesorgt, daß das Sicherheitssystem des Centres kein Problem mehr darstellt. Vermutlich wäre das Ganze auch ohne Ihre Hilfe zu bewerkstelligen, aber ich möchte nur ungern auf Ihre Mitarbeit verzichten. Ich weiß, daß auf Sie Verlaß ist. Alles, worum ich Sie im Moment bitte, ist, darüber nachzudenken. In ein paar Tagen unterhalten wir uns dann noch einmal."

Sie stand auf und warf einen Blick zum Hauptgebäude, bevor sie sich wieder zu Broots umwandte. Er wirkte erstaunlich gefaßt.

"Es versteht sich natürlich von selbst, daß Sie mit niemandem über die ganze Angelegenheit reden sollten. Denken Sie darüber nach", fügte Miss Parker hinzu, dann drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg in ihr Büro. Nach ein paar Metern hörte sie Broots Stimme.

"Miss Parker?"

Noch einmal drehte sie sich zu ihm um.

"Ja?"

"Ich... ich werde darüber nachdenken", erklärte Broots ernst. Miss Parker lächelte.

"Gut", sagte sie, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Das Gespräch war viel besser gelaufen, als sie erwartet hatte. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, daß Broots die richtige Entscheidung treffen würde.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
19:27



Als sie in die Auffahrt zu ihrem Haus einbog, lächelte Miss Parker. Bisher war ihr nie aufgefallen, wie schön es war, hierher zurückzukehren. Die Anspannung, die sie im Centre noch immer - oder vielleicht sogar noch mehr als früher - befiel, fiel von ihr ab.

Zu ihrer Beruhigung war das Haus noch im selben Zustand wie am Morgen. Lyle schien ihre Warnung also ernst genommen zu haben. Auch wenn für Luca kaum Gefahr bestand, solange Schwester Travis in der Nähe war, wollte Miss Parker trotzdem, daß Lyle sich von hier fernhielt.

Schwester Travis öffnete ihr die Tür, gerade, als sie den Schlüssel ins Schloß stecken wollte. Miss Parker sah überrascht auf, und Travis lächelte schief.

"Ich habe Sie die Auffahrt raufkommen sehen. Luca schläft im Gästezimmer. Sie war den ganzen Tag über ruhig. Ihr Freund Sydney scheint ihr wirklich helfen zu können."

"Gott sei Dank", kommentierte Miss Parker erleichtert. Travis griff nach ihrer Jacke.

"Wenn Sie nichts dagegen haben, verabschiede ich mich für heute. War ein langer Tag."

"Natürlich. Tut mir leid, daß Sie so wenig von Ihrem Urlaub haben", sagte Miss Parker mitfühlend. Die Schwester zuckte mit den Schultern.

"Machen Sie Witze? Ich wette, das hier ist um Längen besser als alles, was ich auf Hawaii machen könnte. Nein, im Ernst, ich bin froh, daß ich mich um Luca kümmern kann. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen."

Miss Parker verzog zwar skeptisch das Gesicht, gab sich aber nach einem Blick in Travis Augen zufrieden.

"Na schön. Schlafen Sie gut, Schwester Travis. Bis morgen."

"Gute Nacht, Miss Parker. Und Sie wissen ja, falls es Probleme gibt..."

"... komme ich sicher damit zurecht. Gute Nacht", ergänzte Miss Parker mit einem warmen Lächeln, das Travis erwiderte, bevor sie zu ihrem Mietwagen ging. Miss Parker schloß die Tür und ging in den Flur.

Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen und ihre Tasche zur Seite gelegt hatte, ging Miss Parker zielstrebig zu ihrem Schreibtisch. Es gab noch ein paar Dinge, die sie unbedingt heute erledigen mußte.

Zuerst zog sie einen großen Umschlag aus einer der Schubladen, dann holte sie die Kopien der Akte, die sie gemacht hatte. Ihr Blick streifte den Bericht nur kurz, aber das genügte völlig. Für einen kurzen Moment schloß sie die Augen, versuchte das Bild vor ihren Augen zu verscheuchen. Entschlossen steckte sie die Blätter in den Umschlag und klebte ihn zu. Dann schrieb sie die Adresse auf die Vorderseite, klebte eine Briefmarke in eine der Ecken und sah nachdenklich darauf hinab. Wahrscheinlich war es völlig sinnlos, aber sie mußte es wenigstens versuchen.

Als sie fertig war, stand sie auf, legte den Umschlag auf den kleinen Tisch neben der Haustür und ging mit ihrem Handy in der Hand ins Wohnzimmer. Sie machte es sich auf dem Sofa bequem und blätterte in dem kleinen, grünen Notizbuch, von dessen Existenz nicht einmal das Centre etwas ahnte.

Es dauerte nicht lange, bis sie die erste Nummer fand, und kurz darauf wählte sie bereits. Gespannt wartete Miss Parker. Nach dem vierten Klingeln meldete sich eine verschlafene, männliche Stimme am anderen Ende.

'Tanaka hier. Was ist los?'

'Hallo, Tommy. Hier ist Parker. Habe ich dich geweckt?', erwiderte Miss Parker in perfektem Japanisch, während sie leicht lächelte. Sie hatte den Zeitunterschied ganz vergessen.

'Parker!' Tommy klang ehrlich erfreut, aber dann fragte er gespielt verärgert: 'Hast du eigentlich eine Ahnung, wie spät es hier gerade ist?'

'Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht. Tommy, kann ich dich um einen Gefallen bitten?'

Es entstand eine kurze Pause, bevor Tommy antwortete.

'Sicher, was kann ich für dich tun?'



Eine Viertelstunde später legte Miss Parker zufrieden auf. Das Gespräch mit Tommy war äußerst vielversprechend verlaufen. Sie blätterte noch einmal in ihrem Notizbuch.

"Zeit, meine Russischkenntnisse mal wieder aufzufrischen", murmelte sie zu sich selbst, während sie die Nummer tippte. Diesmal dauerte es länger, bis die Verbindung hergestellt war, doch nach einer Weile hob endlich jemand ab. Miss Parker hörte eine angenehm tiefe Stimme, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte.

'Hallo?' Für einen Moment gab sie sich ihren angenehmen Erinnerungen hin, dann schüttelte sie amüsiert den Kopf.

'Hallo, Sergej. Erinnerst du dich noch an mich?', erkundigte sich Miss Parker sanft.

'Ah, Parker! Wie könnte ich dich vergessen? Aber es ist schon viel zu lange her.'

'Ja, das stimmt. Hör mal, Sergej, ich würde dich gerne um etwas bitten.'

Vom anderen Ende der Leitung war ein leises Lachen zu hören.

'Schade, und ich hatte für einen Moment gehofft, du hättest mich vermißt. Also, wie kann ich dir behilflich sein?'



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
20:17



Eine einzelne Kerze stand auf dem Wohnzimmertisch und tauchte die unmittelbare Umgebung in flackerndes Licht. Miss Parker saß auf der Couch, die Beine eng an den Körper gezogen. Vor einer halben Stunde hatte sie einen kurzen Blick in Lucas Zimmer geworfen. Es schien ihr tatsächlich etwas besser zu gehen.

Geistesabwesend strich Miss Parker mit einer Hand über die Lehne der Couch, während sie über die Zukunft nachdachte. Dabei ging es ihr vor allem darum, was aus Luca werden sollte. Sie konnte die junge Frau nicht ewig bei sich behalten. Miss Parker seufzte und schloß kurz die Augen. Auch wenn Lucas Schicksal alles andere als angenehm war, fiel es ihr doch weitaus leichter, darüber nachzudenken als über ihre eigene Zukunft. Oder über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit.

Die Türklingel riß Miss Parker aus ihren unangenehmen Grübeleien. Dankbar stand sie auf, um ihren Besucher hereinzulassen. Es überraschte sie nicht allzu sehr, Sydney zu sehen, als sie die Tür öffnete. Eigentlich war sie sogar sehr froh, daß er hier war.

"Hallo, Syd. Kommen Sie doch rein", begrüßte sie ihn warm.

"Guten Abend, Miss Parker. Ich hoffe, ich störe Sie nicht", erwiderte er ebenso herzlich und lächelte.

"Überhaupt nicht. Bitte, setzen Sie sich."

Er ließ sich auf der Couch nieder. Miss Parker schaltete das Licht an, dann blies sie die Kerze auf dem Tisch aus. Sie musterte Sydney aufmerksam.

"Sind Sie nur hier, weil Sie Sehnsucht nach mir hatten, oder gibt es einen anderen Grund?" erkundigte sie sich erwartungsvoll.

Für einen kurzen Moment verzog Sydney amüsiert die Lippen, wurde aber fast sofort wieder ernst.

"Ich dachte mir, Sie würden vielleicht gerne mit jemandem reden", antwortete er sanft.

Miss Parker setzte sich in einen der Sessel. Sydney kannte sie wirklich gut. Vielleicht gelang es ihm wirklich, etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Im Moment war sie ihm schon für den Versuch dankbar. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Noch vor ein paar Wochen hätte sie ein Gespräch mit Sydney über ihre Gefühle als Einmischung abgelehnt.

"Mhm, Sie haben recht", gab sie zu.

Aus den Augenwinkeln nahm sie war, wie sich Sydneys Haltung auf subtile Weise veränderte. Ganz der Psychiater, dachte sie amüsiert. Früher hätte sie das zweifellos gestört, aber jetzt betrachtete sie ihn einfach als einen Freund, der ihr zuhören würde.

"Bedauerlicherweise hatten wir nie Gelegenheit, unser Gespräch nach Ihrer... Simulation fortzusetzen", begann er. "Wie sind Sie in der Zwischenzeit damit zurechtgekommen?"

"Sprechen Sie von meinen neuen Talenten?"

"Die ganze Situation muß belastend für Sie sein."

Miss Parker lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

"In England hatte ich viel Zeit, darüber nachzudenken. Am liebsten hätte ich es einfach ignoriert, aber das ging nicht. Ich glaube, ich kann Jarod jetzt viel besser verstehen", sagte sie leise.

Sydney runzelte die Stirn.

"Inwiefern?"

"Durch all die Simulationen weiß er nicht, wer er ist. Er hatte nie die Gelegenheit, sich selbst zu finden. Und ich hätte mich beinahe verloren." Sie machte eine lange Pause, bevor sie weitersprach. "Ich bin nicht wie Jarod. Und ich bin auch nicht wie Angelo. Die beiden versetzen sich in andere Personen, werden zu jemand anderem. Aber ich..." Als sie aufsah, begegnete sie Sydneys geduldigem, verständnisvollen Blick. "Wenn ich mir Mühe gebe, dann kann ich die Erinnerungen anderer Menschen sehen. Es ist so, als ob ich das erlebe, was sie erlebt haben. Kein sehr nützliches Talent, fürchte ich", meinte sie mit einem Schulterzucken.

"Ganz im Gegenteil, Miss Parker", widersprach Sydney ernst. "Immerhin ist es Ihnen dadurch gelungen herauszufinden, was mit Luca geschehen ist. Oder irre ich mich da?" fügte er in einem sanft fragenden Tonfall hinzu.

"Schon", gab sie widerstrebend zu. Die Erinnerungen, die sie mit Luca geteilt hatte, belasteten sie noch immer. Allerdings nicht halb so sehr wie das, was sie von Lyle erfahren hatte.

"Miss Parker?"

Sydney hatte sich besorgt zu ihr vorgebeugt.

"Wollen Sie mir nicht erzählen, was in England passiert ist?"

Vielleicht fühle ich mich dann besser, überlegte sie. Oder ich kann ihm nie wieder in die Augen sehen.

Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Was Lyle getan hatte, und was er tun wollte, war nicht ihre Schuld. Trotzdem fiel es ihr nicht leicht, darüber zu reden.

"Ich glaube nicht, daß ich Ihnen alles erzählen kann", antwortete sie schließlich zögernd.

"Sie müssen mir nichts sagen, über das Sie nicht sprechen wollen", erinnerte Sydney sie leise. Miss Parker nickte.

"Ja, ich weiß. Seit der Geschichte mit Ruth habe ich mein Talent nur noch einmal eingesetzt, und zwar um Luca zu helfen." Plötzlich fiel ihr etwas ein, an das sie bis jetzt keinen bewußten Gedanken verschwendet hatte. Ihre Miene hellte sich ein wenig auf. "Nein, das stimmt nicht. Als ich mit Charles - Jarods Vater - gesprochen habe, hat er mir von meiner Mutter erzählt. Ich konnte alles genau vor mir sehen, fast, als wäre ich dabei gewesen. Ich glaube, ich habe auch seine Erinnerung geteilt."

Sie seufzte frustriert.

"Wenn das Ganze bloß nicht so verwirrend wäre! Bei manchen Erinnerungen fällt es mir schwer zu sagen, ob es meine oder die einer anderen Person sind. Tut mir leid, das alles ergibt für Sie wahrscheinlich gar keinen Sinn."

Sydney stand auf und kam zu ihr. Er griff nach ihrer Hand. Der Kontakt beruhigte sie wieder etwas.

"In erster Linie muß es für Sie einen Sinn ergeben, Miss Parker. Sie können nicht erwarten, daß alles so weitergeht wie bisher. Sie haben sich verändert und nehmen die Welt jetzt auch noch auf eine andere Weise wahr. Geben Sie sich etwas Zeit. Nach und nach werden Sie sich daran gewöhnen."

"Ich weiß gar nicht, ob ich das will", murmelte sie fast trotzig. Dann kehrte der Kampfgeist in ihren Blick zurück. "Aber ich werde es versuchen."

"Das klingt schon viel besser", erklärte Sydney mit einem zufriedenen Lächeln, dann kehrte er zu seinem Platz zurück. "Wollen Sie über Lyle sprechen?" fragte er so unvermittelt, daß Miss Parker ihn erschrocken ansah. Er konnte doch unmöglich wissen, was sie gesehen hatte.

"Immerhin ist er schuld an Lucas Zustand", fügte er dann zu Miss Parkers Erleichterung hinzu. "Und er ist Ihr Bruder."

Miss Parker zögerte. Sie mußte mit jemandem über das sprechen, was sie gesehen hatte. Wenn nicht mit Sydney, mit wem dann?

"Ich habe einige der Dinge miterlebt, die er ihr angetan hat", sagte sie sehr leise. "Aber das war nicht das Schlimmste. Sydney, ich habe auch seine Erinnerungen gesehen - nein, geteilt ist das bessere Wort. Ich weiß nicht, wie das möglich war. Es hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Ich konnte sehen, was er sah, was er sehen wollte..."

Sie brach ab. Mehr konnte sie Sydney nicht sagen. Vielleicht später, aber nicht jetzt. Unvergossene Tränen brannten in ihren Augen, und etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht einmal sagen, was. Wut, Scham, Mitleid - jedes dieser Gefühle kam in Frage. Miss Parker schloß die Augen. Sekunden später spürte sie Sydneys Nähe. Er hockte vor ihr und sah sie fragend an. Als sie nickte, schloß er sie tröstend in seine Arme.

"Ist schon gut", wisperte er beruhigend.

Nur zu gerne hätte sie ihm geglaubt, aber im Moment schien nichts gut zu sein. Sydney kannte nicht die ganze Wahrheit. Mit einiger Anstrengung gelang es Miss Parker, zumindest einen Teil ihrer Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Ihr war klar, daß es noch lange dauern würde, bis sie mit allem fertig wurde, aber wenigstens konnte sie auf Sydneys Unterstützung zählen. Dieser Gedanke war ihr für den Moment Trost genug.

Sanft, aber bestimmt löste sie sich von Sydney. Sein wortloses Verständnis beeindruckte sie sehr. Allmählich bedauerte sie, daß sie seine Hilfe früher immer abgelehnt hatte.

Er musterte sie eingehend und schien zu dem Schluß zu gelangen, daß sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Langsam ließ er sich auf der Lehne des Sessels nieder.

"Wie wird Luca mit allem fertig?" erkundigte sich Miss Parker nach einer Weile.

"Hm, sie hat eine Menge verdrängt. Aber mit der Zeit wird es ihr besser gehen - jeden Tag ein kleines bißchen."

"Kennen Sie vielleicht ein Institut, in dem sie bleiben kann? Es ist nicht, daß ich sie nicht bei mir behalten möchte, aber Luca braucht professionelle Hilfe. Wenn Schwester Travis nach Großbritannien zurückkehrt, muß sich jemand um sie kümmern. Ich habe an irgend etwas in der Nähe gedacht, damit Sie sie weiter behandeln können. Sie scheint Sie zu mögen."

"Sie scheinen wirklich an alles zu denken, Miss Parker."

"Ich versuche es, aber ein wenig Hilfe kann nie schaden", meinte sie mit einem leichten Lächeln, das Sydney warm erwiderte.

"Ich werde mich mal umhören", versprach er.

"Danke, Sydney. Wie wäre es, wenn wir uns morgen nachmittag wieder hier treffen? Wir sollten alles mit Schwester Travis besprechen. Und natürlich zählt auch Lucas Meinung."

Sydney nickte.

"Wissen Sie, ob Luca irgendwelche Angehörigen hat?"

"Nein, das weiß ich nicht, aber ich werde es herausfinden. Morgen ist Samstag, also kann ich mich von hier aus darum kümmern. Haben Sie inzwischen schon mit Jarod gesprochen?"

"Nein", antwortete er mit einem Kopfschütteln. "Ist es denn so dringend?"

"Nicht für mich. Aber für ihn ganz bestimmt."

Ihre Antwort verwunderte ihn offenbar, aber er zuckte nur mit den Schultern.

"Ich werde sehen, was ich tun kann."

"Mehr verlange ich nicht."

Sydney sah auf seine Uhr und erhob sich langsam.

"So, ich sollte jetzt aufbrechen. Ein alter Mann braucht seinen Schlaf."

"Sie sind doch nicht alt!" protestierte Miss Parker. "Ein Mann in seinen besten Jahren", fügte sie hinzu, während sie ihn zur Tür begleitete. Er lächelte und verneigte sich leicht.

"Vielen Dank."

"Nein, ich danke Ihnen", erwiderte sie mit Nachdruck. "Ich weiß es sehr zu schätzen, daß Sie für mich da sind."

"Das tue ich gern, glauben Sie mir." Er drückte kurz ihre Hand. "Gute Nacht, Miss Parker. Schlafen Sie gut."

"Gute Nacht, Syd."



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
15:27



"Zeit für eine Pause!"

Die energische Stimme von Schwester Travis ließ Miss Parker vom Bildschirm aufsehen. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte verblüfft fest, daß seit ihrer letzten Pause schon fast drei Stunden vergangen waren.

"Ich habe überhaupt nicht gemerkt, daß es schon so spät ist", erwiderte sie.

"Aber ich. Wie wär's mit etwas Tee?"

"Klingt toll."

Travis verließ das Wohnzimmer und kehrte kurz darauf mit zwei Tassen zurück. Eine davon stellte sie vor Miss Parker ab.

"Vielen Dank."

"Gern geschehen."

Miss Parker trank einen kleinen Schluck, dann lehnte sie sich zurück und schloß die Augen. Irgendwann in den letzten Stunden hatte es angefangen zu regnen - sie hörte deutlich das leise Plätschern.

"Was haben Sie herausgefunden?" erkundigte sich Travis leise. Sie hatte sich auf einen Sessel in der Nähe von Luca gesetzt, die am Erkerfenster saß und in den Regen starrte.

"Keine guten Neuigkeiten, fürchte ich", antwortete Miss Parker und öffnete ihre Augen wieder. "So wie es aussieht, hat Luca niemanden mehr. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich erst ins Detail, wenn Sydney auch hier ist, sonst muß ich alles zweimal erzählen."

Die Schwester nickte gedankenverloren, den Blick unverwandt auf Luca gerichtet.

"Dann gibt es wenigstens niemanden, der sich all die Zeit Sorgen um sie gemacht hat", meinte sie leise.

"Aber auch niemanden, der sich jetzt um sie kümmern könnte, oder der froh wäre, sie wiederzusehen", wandte Miss Parker ein. "Außer uns."

"Und ich werde nicht ewig in ihrer Nähe bleiben können", fügte Travis hinzu. Es klang beinahe ärgerlich. Bevor Miss Parker etwas erwidern konnte, hörten sie die Türklingel.

"Ich lasse ihn rein", bot sich Travis an, und Miss Parker nickte dankbar. Wenig später betrat Sydney das Wohnzimmer.

"Hi, Syd. Schön, Sie zu sehen", begrüßte ihn Miss Parker.

"Hallo, Miss Parker. Tut mir leid, daß ich so spät dran bin, aber ich habe noch mit Jarod telefoniert. Wir treffen uns übermorgen."

"Freut mich sehr, das zu hören."

Sydney trat zu Luca und wechselte ein paar leise Worte mit ihr, dann setzte er sich auf den Sessel, der genau gegenüber von Miss Parker stand.

"Wie fühlen Sie sich?"

In seinem Blick stand echte Sorge. Miss Parker fühlte eine Verbundenheit mit ihm wie früher in ihrer Kindheit.

"Viel besser. Unser Gespräch hat mir geholfen." Aber es liegt noch ein weiter Weg vor mir, dachte sie. Sie mußte diesen Gedanken nicht aussprechen, denn Sydney wußte das ebenso gut wie sie. Sein aufmunterndes Lächeln bestätigte ihre wortlose Verständigung.

Plötzlich fiel Miss Parker etwas auf.

"Wo ist denn Schwester Travis?"

"Hier", sagte sie, als aus der Küche zurückkam und auch Sydney eine Tasse mit heißem Tee reichte. Er bedankte sich lächelnd.

"Schon gut", erwiderte Travis. "Bei dem Wetter gibt es nichts Besseres, um sich aufzuwärmen."

Mit einem Blick auf den Bildschirm ihres Laptops beugte sich Miss Parker wieder vor.

"Dann können wir ja jetzt anfangen."

Sie warf einen unbehaglichen Blick zu Luca. Es kam ihr nicht richtig vor, über die junge Frau so zu sprechen, als sei sie nicht anwesend, obwohl sie keine fünf Meter entfernt von ihr saß. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, daß Luca dabei war. Schließlich hatte sie ein Recht zu erfahren, wie es mit ihr weitergehen sollte. Außerdem hätte die Alternative darin bestanden, sie im Gästezimmer allein zu lassen. Schwester Travis schien ihr Unbehagen zu teilen, nur Sydney wirkte ebenso ausgeglichen wie immer. Miss Parker konzentrierte sich wieder auf die Fakten und fuhr fort.

"Wie ich Schwester Travis schon gesagt habe, hat Luca keine Angehörigen mehr. Ihr Vater starb kurz vor ihrer Geburt bei einem Autounfall, und ihre Mutter starb, als Luca drei Jahre alt war. Da sie zu diesem Zeitpunkt keine anderen Verwandten mehr hatte, kam sie in ein Heim. Mit fünf Jahren wurde sie adoptiert, und von da an verlief ihr Leben eigentlich völlig normal. Mittlerweile sind ihre Adoptiveltern aber leider ebenfalls verstorben, so daß es niemanden mehr gibt, der sie vermissen könnte."

"Sind Sie auch ganz sicher?" wollte Sydney wissen. Miss Parker war klar, worauf er hinaus wollte.

"Ja, Sydney. Niemand kann Personen so gut verschwinden lassen wie das Centre, aber Lucas Spuren sind nicht besonders gut verwischt worden. Soweit ich das sagen kann, hat niemand an ihrem Lebenslauf herum manipuliert. Ihr voller Name lautet übrigens Luca Francesca Capristi. Ich könnte natürlich versuchen, Verwandte in Italien zu finden. Durchaus möglich, daß es dort jemanden gibt."

"Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht, wenn Luca die Staaten verläßt", warf Schwester Travis nachdenklich ein.

"Vorerst sollten wir uns aber um eine andere Unterbringungsmöglichkeit für sie kümmern", schlug Sydney vor. "Ich habe heute morgen ein paar Erkundigungen eingezogen und tatsächlich zwei Anstalten gefunden, die in Frage kommen könnten."

"Wir sollten uns dort erst umsehen, bevor wir eine Entscheidung treffen", sagte Travis fest. Miss Parker stimmte ihr zu.

"Das können Sie und Sydney übernehmen. Sie beide kennen sich viel besser mit solchen Einrichtungen aus als ich. Oder haben Sie irgendwelche Einwände dagegen?"

Als beide den Kopf schüttelten, lächelte Miss Parker zufrieden.

"Ich schlage vor, daß Sie sofort aufbrechen. In der Zwischenzeit werde ich versuchen, Verwandte von Luca in Italien zu finden."



Es war fast vier Stunden später, als Sydney und Schwester Travis wieder in Miss Parkers Haus eintrafen.

"Und, hatten sie Erfolg?" lautete Sydneys erste Frage, nachdem er müde in einen Sessel gesunken war.

"Allerdings", verkündete Miss Parker strahlend. "Ich habe einen Onkel und mehrere Cousins gefunden. Wir können uns jederzeit mit ihnen in Verbindung setzen."

"Aber?" fragte Schwester Travis, da ihr der zögernde Unterton in Miss Parkers Stimme nicht entgangen war.

"Aber wir sollten damit noch ein wenig warten. Bis es Luca besser geht und bis gewisse Dinge, die das Centre betreffen, erledigt sind."

"Dinge, die das Centre betreffen?"

"Ich werde es Ihnen später erklären, Sydney. Im Moment spielt das ohnehin keine Rolle."

An seinem Gesichtsausdruck konnte sie deutlich ablesen, daß er anderer Meinung war. Er sah sie lange an, dann gab er nach.

"Na schön, Miss Parker. Ich vertraue Ihnen."

Schwester Travis hatte zwar die Stirn gerunzelt, sagte aber nichts.

"Wie ist es denn bei Ihnen gelaufen?" wollte Miss Parker wissen.

"Oh, wir haben etwas Geeignetes gefunden. Eine sehr schöne Anstalt, nur ein paar Meilen von Blue Cove entfernt. Und das Beste daran ist, daß sie bereit sind, Luca so bald wie möglich aufzunehmen. Sogar schon morgen, wenn wir das wollen."

"Was, an einem Sonntag?"

Sydney verzog das Gesicht.

"Nun ja, das Ganze wird nicht billig werden..."

"Oh, keine Sorge. Geld spielt überhaupt keine Rolle", meinte Miss Parker mit einem Grinsen. "Das Centre wird für alles bezahlen. Ist nur fair."

"Sie klingen schon fast wie Jarod", sagte Sydney leise. Sein Lächeln beschränkte sich auf die Augen.

"Das sollten Sie ihn lieber nicht hören lassen", erwiderte sie ebenso leise, bevor sie sich direkt an Travis wandte.

"Sind Sie mit unseren Plänen einverstanden?"

Die Schwester ließ sich Zeit, bevor sie antwortete.

"Ja, wenn wir alles mit Luca besprochen haben und sie auch keine Einwände hat... Dann habe ich nichts einzuwenden. Luca kann wirklich froh sein, daß Sie sie gefunden haben."

Miss Parker erwiderte nichts darauf. Ich wünschte nur, Lyle hätte sie nie gefunden, dachte sie.

Ein Blick zu Sydney verriet ihr, daß er ihren Gedanken erraten hatte. Sie gab ihm mit einem Lächeln zu verstehen, daß er sich keine Sorgen um sie machen mußte, dann stand sie auf, um mit Luca zu sprechen.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
17:55



Das Haus war merkwürdig still und wirkte auf einmal viel zu leer. Seit Luca am späten Morgen ausgezogen war, fühlte sich Miss Parker zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus England allein.

Natürlich wußte sie, daß es Luca in der Anstalt besser ging, und sie konnte die junge Frau jederzeit besuchen. Trotzdem war ihr der Abschied schwergefallen. Die Tatsache, daß es Luca nicht anders zu gehen schien, hatte es auch nicht leichter gemacht.

Gegen Mittag hatte es dann den nächsten Abschied gegeben, als sie Jessica Travis zum Flughafen gebracht hatte. Mittlerweile mußte sie schon auf halbem Weg nach Hause sein. Die Abschiedsworte der Schwester gingen Miss Parker noch immer im Kopf herum. Als ich sie damals in England zum ersten Mal getroffen habe und Sie mir all diesen Unsinn erzählt haben, da habe ich sie für verrückt gehalten. Ich weiß bis jetzt noch nicht, was mich eigentlich überzeugt hat bei ihrem Plan mitzumachen, aber ich bin froh, daß ich es getan habe. Froh für Luca. Über den Rest Ihrer Familie weiß ich nicht viel - aber Sie sind ein guter Mensch. Machen Sie sich nicht für die Taten Ihres Bruders verantwortlich. Wenn Sie mich je brauchen, lassen Sie es mich wissen. Und jetzt, Miss Parker, leben Sie wohl.

Die resolute Krankenschwester würde ihr wirklich fehlen, stellte Miss Parker fest. Nicht viele Menschen wären so wie sie dazu bereit gewesen, so viel für eine Patientin zu tun.

Das Klingeln ihres Telefons riß Miss Parker aus ihren Gedanken.

"Ja?" fragte sie ruhig.

"Hallo, Miss Parker. Hier ist Sydney."

"Hallo, Syd. Wie geht's Luca?"

"Sie hat sich gut eingelebt. Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause von der Klinik." Sie hörte, wie er kurz zögerte. "Eigentlich wollte ich nur wissen, wie es Ihnen geht."

Miss Parker lächelte.

"Na ja, ein bißchen einsam, aber sonst ganz gut."

"Möchten Sie vielleicht, daß ich vorbeikomme?"

Sie überlegte kurz. Sydneys Gesellschaft war ihr durchaus willkommen, aber sie brauchte im Moment etwas Zeit, um allein zu sein.

"Das ist nicht nötig. Trotzdem danke. Es ist wirklich nett, daß Sie sich so sehr um Luca kümmern."

Er lachte leise.

"Sie sind nicht die einzige, die sich für Luca verantwortlich fühlt."

"Syd, ich habe in letzter Zeit sehr viel über meine Mutter nachgedacht", sagte Miss Parker. Sie mußte einfach Gewißheit haben, und Sydney war vielleicht der einzige, der ihre Fragen beantworten konnte. "Warum hat sie meinen Vater geheiratet? Ich erinnere mich nicht mehr an viel aus dieser Zeit, aber ich weiß noch, wie unglücklich sie kurz vor ihrer Ermordung war."

Am anderen Ende der Leitung seufzte Sydney.

"Miss Parker, ich kann darüber nur Vermutungen anstellen", begann er.

"Ich weiß, daß sie Ihre Patientin war und Sie mir deshalb vieles nicht erzählen können. Das verlange ich auch gar nicht. Sie haben sie gut gekannt, und Sie kennen auch meinen Vater. Sagen Sie mir einfach, was Sie denken. Bitte, Sydney."

"Ihre Mutter hätte aus keinem anderen Grund als Liebe geheiratet, da bin ich mir absolut sicher."

"Und mein Vater? Hat er sie geliebt?"

"Miss Parker, wieso fragen Sie mich das?"

"Weil Sie so gut wie ich wissen, daß ich von ihm keine ehrliche Antwort zu erwarten habe. Er erzählt mir immer nur das, was ich hören will - was ich hören soll. Ich kann ihm nicht mehr glauben. Das hätte ich nie tun sollen. Aber was soll ich machen? Er ist nun einmal mein Vater."

"Ich glaube, Catherine hätte nicht gewollt, daß Sie so aufwachsen", sagte Sydney nach einer ganzen Weile. Die Worte schienen ihm schwer zu fallen. "Sie wollte Sie immer vom Centre fortbringen. Es ging ihr nie um sich selbst." Noch einmal zögerte er. "Wirklich, Miss Parker, ich bin nicht derjenige, mit dem Sie über die Beziehung Ihrer Eltern sprechen sollten."

"Es gibt sonst niemanden, Sydney", erwiderte Miss Parker leise. Er war ihr immer näher gewesen als ihr eigener Vater, ganz besonders in letzter Zeit.

"Ihr Vater... hat sie geliebt, auf seine Weise. Mehr kann ich auch nicht sagen."

"Danke, Sydney. Dafür, daß Sie ehrlich zu mir waren. Und dafür, daß Sie da sind."

"Ich bin immer für Sie da, das wissen Sie doch, Miss Parker."

"Ja, ich weiß. Bis morgen."

"Bis morgen, Miss Parker."

Sie legte auf, dann ging sie langsam zu ihrem Lieblingsplatz, dem großen Erkerfenster. Die Aussicht von dort war wunderschön und half ihr meistens dabei, auf andere Gedanken zu kommen. Allerdings würde das heute auch nichts nützen. Dafür gab es zu viele Fragen. Und so wenige Antworten. Es stimmte wirklich; langsam verstand sie Jarod immer besser. Zum Glück mußte sie ihn jetzt nicht mehr jagen. Denn jetzt, das wußte sie, hätte sie ihn fangen können.



Miss Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
10:46



Miss Parker hob verärgert den Kopf, als sie hörte, wie jemand - ohne zu klopfen - ihr Büro betrat. Es gab nicht viele Leute im Centre, die sich das trauten. Ihr Blick fiel auf ihren Vater. Der Ärger verschwand und wich einer anderen Empfindung, allerdings fiel es ihr schwer zu sagen, welcher.

"Hallo, Daddy", sagte sie so ruhig wie möglich.

"Guten Morgen, Prinzessin", erwiderte er freundlich und brachte ein Lächeln zustande, das genauso falsch war wie all seine Versprechungen. Er wollte etwas von ihr. Hatte Lyle mit ihm gesprochen, trotz ihrer Warnung?

"Kann ich etwas für dich tun?" erkundigte sie sich höflich.

"Kann ein Vater denn nicht einfach seine Tochter besuchen?", fragte er in gespielter Empörung. Du hast mich in all den Jahren nicht ein einziges Mal besucht, dachte Miss Parker, und ein Teil ihres Ärgers kehrte zurück. Wirklich, Daddy, du hättest Schauspieler werden sollen.

"Doch, natürlich, Daddy", erwiderte sie gleichmütig. Innerlich verspürte sie allerdings einen gewissen Zorn auf sich selbst, weil sie noch immer nicht den Mut aufbrachte, ihre Gedanken laut auszusprechen. 'Komm schon, Daddy, was willst du?'

"Wir haben in letzter Zeit nicht sehr viel Zeit miteinander verbracht. Wieso gehen wir heute abend nicht zusammen essen? Dann kannst du mir in aller Ruhe von deiner Reise nach England erzählen, mein Engel."

'Aha, darum geht es also.'

"Tut mir wirklich leid, Daddy, aber ich kann nicht. Ich habe heute abend schon etwas Wichtiges vor."

Es war eine Lüge, und er wußte es. Für eine Sekunde spiegelte sich sein Mißfallen in seinem Gesichtsausdruck wider, dann kehrte der verständnisvolle Vater zurück.

"Wichtiger als dein Vater?"

'Oh, ein guter Schachzug, das muß ich dir lassen. Aber das funktioniert nicht mehr.'

"Natürlich nicht", antwortete Miss Parker laut. Ihr entging nicht das kurze Aufleuchten in seinen Augen, als er glaubte, gewonnen zu haben. "Aber leider kann ich trotzdem nicht absagen. Wir werden uns an einem anderen Tag treffen müssen."

Einer seiner Wangenmuskeln zuckte kurz, und Miss Parker glaubte schon, er werde seiner Wut freien Lauf lassen. Aber ihr Vater überraschte sie.

"Na schön. Laß mich wissen, wann es dir paßt."

Da ist noch etwas, fuhr es ihr durch den Sinn. Sonst würde er nie so ruhig bleiben.

Mr. Parker räusperte sich und sah plötzlich so aus, als würde er sich nicht ganz wohl fühlen. "Ich habe den Eindruck, daß du in den letzten Tagen ziemlich viel Zeit mit Sydney verbracht hast", begann er. Miss Parker bemühte sich, ihre Überraschung zu verbergen. Worauf wollte er jetzt hinaus?

"Wir arbeiten zusammen, Daddy. Er soll mir dabei helfen, Jarod zu schnappen", erklärte sie das Offensichtliche.

"Natürlich, natürlich, aber..." Ihr Vater verzog gequält das Gesicht. "Weißt du, es wäre vielleicht besser, wenn du dich ein wenig von ihm... distanzierst. Einige Leute im Centre betrachten seine jüngsten Aktivitäten mit großem Mißtrauen, und ich will nicht, daß du damit in Verbindung gebracht wirst."

Ihre Verwirrung wuchs. Was wollte er eigentlich sagen? Natürlich wußte sie, daß er Sydney kein allzu großes Vertrauen entgegenbrachte, aber das hier war einfach lächerlich. Sydney gehörte zu ihrem Team, sie vertraute ihm... Mit einem Mal ergab es einen Sinn. Er konnte es nicht ertragen, daß sie Sydney und seiner Meinung mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm. 'Du hast Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren. Nun, dafür ist es längst zu spät.'

"Hast du schon mit Sydney darüber gesprochen?" erkundigte sie sich. Im Gesicht ihres Vaters zuckte es verräterisch. Fasziniert beobachtete Miss Parker, wie sich dort ein Sturm zusammenbraute. Doch irgend etwas hielt ihn davon ab, seinen Zorn gegen sie zu richten. Verärgert kniff er die Augen zusammen.

"Das hätte wohl kaum einen Sinn", sagte ihr Vater gepreßt. "Außerdem geht es mir nicht um Sydney - ich möchte, daß du auf dich aufpaßt."

Miss Parker war sich nicht sicher, ob die Manipulationsversuche ihres Vaters sie ärgerten oder einfach nur amüsierten. Wie auch immer - die Zeiten, in denen er damit durchkam, waren ein für allemal vorbei.

"Es ist wirklich nett, daß du dir um mich Sorgen machst, aber das ist nicht nötig. Ich komme hervorragend allein zurecht - und ich weiß, wem ich vertrauen kann."

Sein Blick schien durch sie hindurch zu gehen, was ihr den Eindruck vermittelte, daß er ihre letzten Worte überhaupt nicht gehört hatte. Diese Angewohnheit hatte sie früher wahnsinnig gemacht, doch jetzt beachtete Miss Parker sie nicht mehr. Einen Augenblick später galt die Aufmerksamkeit ihres Vater wieder ihr.

"Wie? Oh, ja. Du hast recht, Engel. Entschuldige mich jetzt, ich habe noch einiges zu erledigen."

Wie so häufig fand auch dieses Gespräch mit ihrem Vater ein abruptes Ende.

"Sicher, Daddy."

Sie bedachte ihn mit einem falschen Lächeln - nicht, daß er den Unterschied je bemerkt hätte - und sah ihm nach, bis er ihr Büro wieder verlassen hatte. Der Tag begann ja nicht gerade sehr vielversprechend.



Ein Motel irgendwo in Delaware
17:21



Jarod starrte unschlüssig auf die Akte in seiner Hand. Sydney hatte ihm nicht gesagt, was sie enthielt oder woher sie stammte. Nun, es gab zumindest einen Weg, um über die erste Frage Aufschluß zu gewinnen.

Als er nach einer Stunde die verstreuten Papiere auf dem Bett betrachtete, konnte er es immer noch nicht fassen. Mittlerweile hatte er auch keinen Zweifel über die Herkunft dieser Informationen mehr. Das einzige, was er nicht wußte, war, warum Miss Parker ihm die Akte nicht selbst gegeben hatte. Aber er würde es herausfinden. Bald.

Noch einmal las er den Brief seines Vaters.


Jarod,

ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Die Vergangenheit hat mich endlich eingeholt. Diesen Tag habe ich gleichermaßen gefürchtet und herbeigesehnt. Jetzt habe ich endlich die Gelegenheit, Dir viele Dinge zu sagen.

Ich weiß, daß Du nicht mehr an die Zeit erinnern kannst, die wir gemeinsam im Centre verbracht haben. Niemals werde ich mir vergeben können, daß ich Dich damals in den Fängen von Raines und Mr. Parker zurückgelassen habe. Ich hätte bei Catherine bleiben und gemeinsam mit ihr versuchen sollen, Dich zu retten. Vielleicht wäre sie dann noch am Leben, und wir wären jetzt zusammen. Aber es hat keinen Sinn, die Vergangenheit ändern zu wollen. Du sollst nur wissen, daß ich mir meiner Fehler bewußt bin.

Du hast eine Familie, Jarod, eine Familie die Dich sehr liebt. Als Margeret und ich Dich damals bekamen, waren wir die glücklichsten Menschen auf der Welt. Unglückliche und grausame Umstände haben unsere Familie auseinandergerissen. Wir haben alles getan, um Dich und Kyle wieder zurückzubekommen. Gemeinsam mit Catherine ist es mir wenigstens gelungen, Euch für eine Weile zu beschützen.

Ich bin unsagbar stolz auf Dich. Du hast Dich zu einem wundervollen jungen Mann entwickelt, trotz all der Jahre im Centre. Auch wenn ich nie Kontakt zu Dir aufnehmen konnte, so habe ich Dich doch immer beobachtet. Vielleicht kommt bald der Tag, an dem ich Dich wieder in meine Arme schließen kann, Dich und den Rest unserer Familie...

Eines mußt Du verstehen: Ich liebe Deine Mutter sehr, und ich vermisse sie jeden Tag. Ich sage Dir das, damit Du meine Beziehung zu Catherine Parker nicht falsch verstehst. Catherine war meine beste Freundin. Sie war immer für mich da, und ich stehe unendlich tief in ihrer Schuld. Ihr Tod hat mich damals sehr getroffen, und oft habe ich gedacht, daß ich an ihrer Stelle hätte sein sollen. Was ihre Tochter angeht...

Marines Besuch hat viele alte Gefühle bei mir geweckt. Sie ist eine ganz besondere junge Frau, in der ich viel von ihrer Mutter erkennen konnte. Aber über die Qualitäten ihrer Mutter hinaus besitzt sie noch etwas, das ich nicht in Worte fassen kann. Etwas, das weder ihr Vater noch das Centre ihr je nehmen konnten. Sie ist für mich wie eine Tochter. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passieren würde. Bitte paß gut auf sie auf, Jarod. Marine könnte für Dich sein, was Catherine für mich war, und noch mehr.

Wenn Du sie wieder triffst, wirst Du feststellen, daß sie langsam zu ihrem wirklichen Selbst zurückfindet. Sie wird Dir etwas von mir geben, und ich möchte, daß Du es als eine zweite Chance betrachtest, eine Chance, von vorne anzufangen. Gib ihr ein wenig Zeit und dränge sie nicht. Warte einfach, bis sie bereit ist, es Dir zu geben.

Es gibt noch so vieles mehr, das ich Dir sagen möchte, aber ich hoffe, daß ich das irgendwann persönlich tun kann. Paß gut auf Dich auf.


Ich liebe Dich,

Charles



Tränen standen in Jarods Augen. Dieser Brief seines Vaters bedeutete ihm so unendlich viel. Endlich, nach all den Jahren, hielt er den Beweis dafür in den Händen, daß er eine Familie hatte. Eine Familie, die ihn liebte, die ihn vermißte und die um ihn gekämpft hatte.

Jarod griff nach seinem Telefon. Er mußte Miss Parker anrufen. Ungeduldig wartete er darauf, daß sie heranging.

"Ja?" hörte er schließlich. Überrascht registrierte er, daß ihre Stimme nicht wie sonst unfreundlich klang. Im Gegenteil, sie klang ruhig und sanft.

"Hallo, Miss Parker."

"Oh, Jarod." Nur eine Spur von Überraschung färbte ihre Stimme. Sie schien mit seinem Anruf gerechnet zu haben.

"Miss Parker, ich möchte, daß wir uns treffen."

Es entstand eine kurze Pause.

"Das scheint mir keine gute Idee zu sein", meinte sie dann. Jarod glaubte, einen vorsichtigen Unterton in ihrer Stimme zu hören.

"Mir schon", antwortete er. "Bitte, das ist mir sehr wichtig."

Plötzlich fiel ihm der Brief seines Vaters wieder ein, in dem er ihn gebeten hatte, sie nicht zu drängen. Bevor er noch etwas sagen konnte, lenkte sie ein.

"In Ordnung, Jarod. Heute abend in meinem Haus. Nur du und ich - keine Sweeper."

"Klingt nach einem fairen Angebot", stimmte er zu. "Bis heute abend, Miss Parker."



Miss Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
17:46



Seit Jarods Anruf waren etwa zwanzig Minuten vergangen, und je länger Miss Parker darüber nachdachte, desto mehr hielt sie es für einen Fehler, sich mit ihm zu treffen. Sie war einfach noch nicht soweit.

Bei Charles war es ihr leicht gefallen, über ihre Gefühle zu sprechen. Irgendwie hatte sie von Anfang an das Gefühl gehabt, daß er zu ihrer Familie gehörte. Aber was Jarod anging...

Wie schon ein paarmal zuvor griff sie wieder nach dem kleinen Umschlag, der verschlossen auf ihrem Schreibtisch lag. Sie wußte, was sich darin befand, dennoch hatte sie bisher gezögert, ihn aufzumachen. Jetzt seufzte sie leise und griff nach ihrem Brieföffner. Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und ließ den Inhalt auf den Tisch fallen.

Zwei Fotos lagen nun vor ihr. Das erste kannte sie bereits. Es war ein Abzug von jenem Foto, das Charles ihr bei ihrem ersten Treffen gezeigt hatte. Ein weiterer Abzug befand sich in der Akte, die Sydney Jarod gegeben hatte - sie hatte Charles gesagt, wie sehr sich Jarod über ein Foto seines Vaters freuen würde. Das zweite Foto hatte sie dagegen noch nicht gesehen. Neugierig nahm sie es in die Hand, um es näher zu betrachten.

Unwillkürlich mußte sie lächeln. Das Foto zeigte sie und Jarod, etwa zu der Zeit, von der ihr Charley erzählt hatte. Zwei glücklich lachende Kinder, für einen Moment völlig unberührt von der Umgebung, in der sie später beide gefangen sein würden. Miss Parker schüttelte ungläubig den Kopf. Wie hatte sie diese Zeit bloß vergessen können? Sicher, sie war damals noch sehr klein gewesen, aber auch sehr glücklich. Wahrscheinlich gibt es einfach zu viele schlechte Erinnerungen, die diese verdrängt haben, dachte sie. Wir erinnern uns häufig besser an schlimme Ereignisse als an gute. Wie ungerecht.

Ihre Gedanken kehrten zu dem bevorstehenden Treffen mit Jarod zurück. Bis jetzt hatte sie es vermieden, allzu genau über ihn und ihr Verhältnis zu ihm nachzudenken. Charles hatte recht gehabt, sie hatten sich wirklich sehr nahe gestanden. Auch wenn Miss Parkers Erinnerungen an diese Zeit nur sehr undeutlich waren, so spürte sie doch, daß es etwas gab, das sie mit Jarod verband. Im Laufe der Jahre hatten sie sich voneinander entfernt, und eine Zeitlang war es ihr sogar gelungen, sich einzureden, daß es ihr nichts ausmachte, Jarod für das Centre zu jagen.

Aber es stimmte nicht. Es machte ihr etwas aus. Die Erkenntnis war bitter. Was, wenn es nun kein Zurück mehr gab, wenn sie zu weit gegangen war? Dann hatte sie einen Freund verloren - und vielleicht sogar noch mehr.

Miss Parker legte das Foto zurück auf den Schreibtisch. Welches Recht hatte sie denn, von Jarod zu verlangen, ihr zu verzeihen? Nichts konnte je wiedergutmachen, was sie ihm angetan hatte. Doch sie konnte ihm wenigstens dabei helfen, seine Familie zu finden.

Sie starrte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Das Treffen mit Jarod beunruhigte sie zwar, aber gleichzeitig freute sie sich darauf. Mit etwas Glück würde es ihr gelingen, ihn dazu zu überreden, ihre Hilfe anzunehmen. Ihre eigenen Gefühle mußten zurückstehen, denn sie war sich sicher, daß die Zeiten, in denen er sie vielleicht erwidert hätte, ein für allemal vorbei waren.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
21:49



Jarod saß auf der Couch in Miss Parkers Wohnzimmer und wartete mit geschlossenen Augen. Im ganzen Haus war es dunkel, denn er hatte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen wollen. Entspannt lauschte er dem Geräusch des Regens, der schon seit über einer Stunde aufs Dach und gegen die Fenster prasselte. Langsam begann er, sich Sorgen zu machen. Selbst wenn sie heute länger gearbeitet hatte, was er angesichts seines Anrufs für eher unwahrscheinlich hielt, hätte sie schon vor gut einer halben Stunde zu Hause eintreffen müssen.

Vielleicht hatte sie ihm doch eine Falle gestellt... Er schüttelte den Kopf. Sein Gefühl sagte ihm, daß es nicht so war. Gerade als er mit dem Gedanken spielte, sie noch einmal anzurufen, klingelte ihr Telefon. Einfach abheben konnte er nicht, ohne sich selbst oder sie in Schwierigkeiten zu bringen, also wartete er, bis der Anrufbeantworter ansprang.

"Jarod, bist du da? Bitte geh ran", hörte er ihre Stimme.

Sofort griff er nach dem Hörer.

"Wo bist du? Ist alles in Ordnung?"

Jarod hörte, wie sie leise lachte.

"Ich bin ungefähr eine Viertelstunde Fußweg von meinem Haus entfernt, und mit mir ist alles in bester Ordnung - na ja, jedenfalls fast. Ich wollte dich eigentlich nur um einen kleinen Gefallen bitten."

"Sicher, was ist es?" Er fragte sich zwar, was passiert sein mochte, beschloß aber, seine Neugier noch etwas zu bezähmen.

"Im Moment könnte ich für ein schönes, heißes Bad töten. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn meine Badewanne voller heißem Wasser auf mich wartet, wenn ich gleich nach Hause komme."

Der sehnsüchtige Klang ihrer Stimme machte es ihm schwer, ein Lachen zu unterdrücken. Die Geschichte begann langsam, einen Sinn zu ergeben.

"Geht in Ordnung", versicherte er ihr schnell.

"Ah, vielen Dank, Jarod. Bis gleich."

"Okay."

Ein wenig verwirrt legte er den Hörer auf und erhob sich vom Sofa. Es gelang ihm nicht, Miss Parker zu fassen. Vielleicht konnte er im Laufe des Abends Aufschluß über ihr ungewöhnliches Verhalten gewinnen. Mit einem Kopfschütteln machte er sich auf den Weg in ihr Badezimmer.

Dort angekommen, schaltete er als erstes das Licht an. Das Bad war nicht nur elegant eingerichtet, es wirkte außerdem sehr gemütlich.

Jarod setzte sich auf den Rand der Badewanne und sah sich um. Die vielen kleinen Alltagsgegenstände, die überall verstreut waren, faszinierten ihn. Geistesabwesend drehte er den Heißwasserhahn auf, nachdem er den Abfluß mit dem Stöpsel verschlossen hatte.

Zuerst fiel sein Blick auf den dicken Teppich, der vor der Wanne auf dem Boden lag. Er paßte farblich zum Rest des Zimmers, in dem Beige- und Weißtöne vorherrschten. Außerdem gab es viel Holz, wodurch das Zimmer noch heller wirkte. Durch ein großes, hohes Fenster fiel tagsüber viel Licht in das Bad, und nachts konnte man den Sternenhimmel betrachten.

Neben der Wanne, an der Wand, war ein hölzernes Regal befestigt, auf dem mehrere Badeutensilien lagen. Neugierig griff Jarod nach einem großen Schwamm und befühlte ihn vorsichtig, bevor er ihn wieder zurücklegte. Als nächstes wandte er seine Aufmerksamkeit einer kleinen Ablage zu, die sich über dem Fußende der Badewanne befand. Dort standen viele Fläschchen, die meisten nur noch zur Hälfte gefüllt.

Jarod überlegte einen Moment, dann nahm er einen der Flakons in die Hand und öffnete ihn. Als er daran roch, weckte der Duft sofort Erinnerungen in ihm. Der Inhalt des Glasgefäßes duftete nach Vanille und ganz schwach nach Honig. Er lächelte und ließ ein paar Tropfen ins Badewasser fallen. Das hier war Miss Parkers Lieblingsduft, da war er sich ganz sicher.

Sorgfältig verschloß er das Fläschchen wieder und stellte es zurück an seinen Platz. Danach überprüfte er die Wassertemperatur und ließ noch ein wenig kaltes Wasser in die Wanne laufen, bevor er beide Hähne zudrehte. Nur zu gerne hätte er seine Entdeckungsreise durch Miss Parkers Badezimmer fortgeführt, aber ein Geräusch an der Haustür hielt ihn davon ab.

Widerstrebend verließ er das Bad und ging zur Haustür. Gerade als er in Sichtweite kam, öffnete sich die Tür. Jarod unterdrückte ein Lachen, als eine klatschnasse Miss Parker hereinkam. Seine Belustigung verflog jedoch sofort, als er sah, daß sie zitterte. Sie warf ihren Schlüssel auf den Wohnzimmertisch und zog ihre durchnäßte Jacke aus. Als ihr Blick auf Jarod fiel, lächelte sie leicht.

"Hallo, Jarod."

"Was ist passiert?" fragte er an Stelle einer Begrüßung, obwohl er schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte.

"Mein Wagen ist etwa vier Meilen von hier liegengeblieben. Ich hatte keine Lust, auf den Abschleppwagen zu warten, also bin ich das letzte Stück zu Fuß gegangen."

Jarod ging ein Stück auf sie zu.

"Geht es dir gut?" wollte er wissen. Ihr Lächeln vertiefte sich noch ein wenig, dann nickte sie.

"Ja. Und nach einem schönen, heißen Bad wird es mir noch viel besser gehen."

Mit einer weit ausholenden Geste deutete Jarod in Richtung Badezimmer.

"Es steht alles bereit."

"Oh, herrlich."

Miss Parker seufzte zufrieden und beeilte sich, zu ihrer mit heißem Wasser gefüllten Badewanne zu kommen. Ein wenig verunsichert folgte ihr Jarod bis vor die Tür.

"Das Wasser ist vielleicht ein bißchen heiß", warnte er sie durch die geschlossene Tür.

"Es kann gar nicht heiß genug sein", hörte er ihre gedämpfte Antwort. Es folgte eine kurze Stille, die erst wieder von einem leisen Plätschern unterbrochen wurde. Jarod hörte ein leises Stöhnen.

"Oh Gott, tut das gut."

Er schluckte und versuchte, sich nicht vorzustellen, was gerade in Miss Parkers Badezimmer vor sich ging.

"Jarod? Bist du noch da?" erkundigte sich Miss Parker plötzlich.

"Ähm, ja."

"Wieso machst du es dir nicht im Wohnzimmer gemütlich? Das hier könnte eine Weile dauern."

"Okay. Laß dir ruhig Zeit."

"Oh, und Jarod?"

"Ja?"

"Vielen Dank."

Ungläubig schüttelte er den Kopf.

"Gern geschehen, Miss Parker", sagte er, bevor er zurück ins Wohnzimmer ging. Dort ließ er sich wieder auf die Couch sinken. Als er die Augen schloß, sah er unwillkürlich ihr Badezimmer. Seine Gedanken schweiften zu dem Schwamm, den er eben noch in seinen Händen gehalten hatte, und der jetzt sicher über ihre weiche Haut glitt...

Jarod riß die Augen auf und stand wieder auf. Er mußte sich irgendwie ablenken. Aus irgend einem Grund verlief dieser Abend völlig anders, als er es sich vorgestellt hatte - und das passierte ihm nicht sehr häufig.

Mit zielstrebigen Schritten ging er nach draußen auf die Terrasse, von der man einen herrlichen Blick auf das Meer hatte. Mittlerweile hatte der Regen aufgehört, und ein leichter, kühlender Wind wehte über die Wasseroberfläche. Das Wasser kräuselte sich zu kleinen Wellen, und die Schaumkronen erinnerten ihn an eine Badewanne voller... Oh, großartig. Genau die Assoziationen, die er jetzt brauchte. Wieso gelang es ihm nicht, seine Gedanken von Miss Parker zu lösen?

Mit einem Seufzen gab er es auf und ging zurück ins Haus. Wie selbstverständlich fand er sich vor der geschlossenen Badezimmertür wieder. Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund, nicht an Miss Parker zu denken.

Bevor er dazu kam, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, öffnete sich die Tür, und Miss Parker trat in den Flur. Sie hatte sich in ein großes, weiches Handtuch gewickelt und lächelte, als sie ihn dort stehen sah.

"Einsam?" fragte sie sanft und leicht amüsiert, ohne den üblichen Sarkasmus in ihrer Stimme.

"Ja", erwiderte er, ohne darüber nachzudenken. Für einen Sekundenbruchteil glaubte er etwas in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Schuld? Schmerz? Der Moment war zu kurz, als daß er es hätte sagen können. Vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet.

"Ich auch."

Ihre Antwort verblüffte ihn so sehr, daß er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Als er sich wieder gefaßt hatte, war sie schon an ihm vorbei in ihr Schlafzimmer gegangen. Jarod überlegte, ob er ihr folgen sollte, entschied sich aber dagegen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nach ein paar Minuten kam sie ihm nach. Ihre Haare waren noch immer feucht, aber sie hatte sich etwas anderes angezogen.

Sie neigte den Kopf ganz leicht zur Seite und sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick und versuchte dabei herauszufinden, was mit ihr los war.

"Du wolltest mit mir sprechen", erinnerte sie ihn.

"Mhm, ja."

Es fiel ihm schwer, sich von ihren Augen loszureißen. Schließlich gelang es ihm, sich auf eine seiner Fragen zu konzentrieren.

"Ich wollte dir für die Akte von meinem Vater danken. Wieso hast du sie mir nicht selbst gegeben?"

Miss Parker holte tief Luft und ließ sie dann langsam wieder entweichen.

"Wegen Sydney. Er hat mir erzählt, daß eure Beziehung in letzter Zeit..."

Jarod unterbrach sie.

"Keine Ausreden mehr, Miss Parker", sagte er sanft.

"Ich dachte, auf diese Weise wäre es einfacher."

"Für mich?" fragte Jarod und schüttelte den Kopf. "Nein. Das war nicht der Grund."

Sie seufzte.

"Leichter für mich, Jarod", erklärte sie dann. Verständnislos sah er sie an. Bevor er sie fragen konnte, was sie meinte, kam sie ein paar Schritte auf ihn zu. Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen, und in ihren Augen zeigte sich... Unsicherheit?

"Dein Vater hat mich gebeten, dir etwas zu geben."

Er schluckte.

"Ja, ich weiß."

Miss Parker lachte leise.

"Ich sollte dich warnen. Du solltest nicht zu viel erwarten, sonst wirst du gleich sehr enttäuscht sein."

"Was ist es?"

Seine Neugier vertrieb jegliche Vorsicht. Außerdem war er sicher, daß er ihr vertrauen konnte. Diese Erkenntnis überraschte ihn ein wenig, aber andererseits hatte er ihr im Grunde immer vertraut. Als er wieder in ihre Augen sah, entdeckte er dort eine Wärme, die ihm den Atem raubte.

"Also schön, Jarod."

Sie überbrückte die letzten beiden Schritte zwischen ihnen, dann schloß sie ihn in ihre Arme und drückte ihn sanft.

Jarod war vollends verwirrt. Miss Parkers Verhalten stellte ihn vor ein Rätsel. Seine Verwirrung hinderte ihn allerdings nicht daran, ihre unerwartete Nähe zu genießen. Er erwiderte die Umarmung und zog sie noch ein wenig näher an sich. Ihre Haare dufteten nach dem Badezusatz, den er vorhin ins Wasser geschüttet hatte. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter.

Für einen langen Augenblick standen sie einfach nur da, dann zog sie sich ein wenig von ihm zurück. Nicht gewillt, sie schon gehenzulassen, hielt er sie an den Armen fest. Eine Hand legte er unter ihr Kinn, während er in ihre Augen sah. Plötzlich empfand er seine eigenen Gefühle mit einer Klarheit wie nie zuvor.

Seine Hand glitt zu ihrem Nacken, um sie wieder näher an sich zu ziehen. Ihre Lippen waren nur noch Millimeter voneinander entfernt.

"Ich bin nicht enttäuscht", wisperte er gegen ihre Lippen.

"Bitte nicht."

Ihre Worte waren so leise, daß er sie mehr spürte als hörte. Diesmal zog sie sich ganz von ihm zurück. Für eine Sekunde schloß sie die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und sah ihn auf eine Weise an, die ihn bis ins Innerste erschütterte.

"Es tut mir leid", sagte er und schwor sich, sie nie wieder zu verletzen. "Ich wollte nicht..."

Sie schüttelte den Kopf.

"Du mußt dich nicht entschuldigen. Gott, es ist nicht, daß ich es nicht wollte... Ich kann einfach nicht. Alles ist so furchtbar schnell gegangen. Ich brauche noch Zeit, um alles zu begreifen, um es in den Griff zu bekommen. Bitte, versteh mich nicht falsch. Es liegt nicht an dir. Das hat es nie."

Während er noch versuchte, sie zu begreifen, lehnte sie sich plötzlich nach vorne und stützte sich dabei mit ihren Händen an seinen Schultern ab. Wieder trennten nur noch Millimeter ihre Lippen voneinander. Sie neigte ihren Kopf nach vorne, bis sich ihre Lippen berührten. Der Kontakt war kaum zu spüren, und doch war Jarod wie elektrisiert. Er preßte seine Lippen stärker gegen ihre, verwandelte ihre federleichte Berührung in einen Kuß.

Seine Hände glitten von ihren Schultern zu ihrem Nacken, dann noch höher, bis sie zu beiden Seiten ihres Gesichtes lagen. Zärtlich massierten seine Daumen ihre Wangen, während er mit seiner Zunge leicht über ihre Lippen strich. Ihre Lippen teilten sich unter dem sanften Druck seiner Zunge, und alles andere verlor plötzlich an Bedeutung. Der Kuß dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Miss Parker sich von Jarod löste.

Ebenso wie er war sie völlig atemlos, und Jarod dachte, daß sie noch nie so schön gewesen war wie in diesem Moment. Ihr Gesicht war leicht gerötet, ihre feuchten Haare zerzaust, und ihre Augen leuchteten. Er konnte sehen, daß sie darum kämpfte, die Kontrolle über sich und auch über die Situation wiederzuerlangen.

"Jarod..."

"Ja?"

Während er sie musterte, fragte er sich, was sie wollte. Es schien ihm, daß sie es selbst nicht wußte. Miss Parker holte tief Luft.

"Ich glaube, es wäre besser, wenn du jetzt gehst."

Jarod runzelte die Stirn, aber er verstand, warum sie die Distanz suchte.

"Wenn du das wirklich möchtest..."

Sie nickte, wirkte beinahe erleichtert.

"In Ordnung", sagte Jarod. "Aber ich habe noch immer einige Fragen. Eigentlich sogar noch mehr als vorher. Wirst du dich noch einmal mit mir treffen?"

Das Lächeln kehrte in ihre Augen zurück.

"Das werde ich. Vielleicht wird es ein wenig dauern, aber", sie zuckte mit den Schultern, "wenn du ein bißchen Geduld mit mir hast, sollte das kein Problem sein."

Er erwiderte ihr Lächeln und nickte ganz leicht.

"Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst. Ich möchte dich nicht drängen."

"Danke, Jarod."

Sie begleitete ihn bis zur Haustür, und Jarod wünschte sich, sie würde ihn noch einmal küssen. Statt dessen berührte sie ihn nur kurz an der Schulter.

"Gute Nacht, Jarod."

"Gute Nacht, Parker. Schlaf gut."

Die Tür schloß sich hinter ihm, und Jarod stand für einen Moment ratlos in der Nacht. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, als er an die Möglichkeiten dachte, die die Zukunft für ihn bereithalten mochte.


ENDE Teil 1



An alle, die bis hierher durchgehalten haben: Ich hoffe, es hat Euch gefallen. Falls ja, laßt es mich doch bitte wissen, und falls nein, habe ich auch für Beschwerden ein offenes Ohr:

An dieser Stelle möchte ich mich noch bei Swik bedanken, die mir erlaubt hat, den Vornamen auszuleihen, den sie sich für Miss Parker ausgedacht hat und der meiner Meinung nach am besten zu ihr paßt.

Außerdem gilt mein Dank natürlich Jan Olbrecht, der so freundlich war, meine Story auf seiner Pretender-Page aufzunehmen. Und ein dickes Dankeschön an Nicolette, ganz besonders für ihre Ermunterung!
Part 2 by Miss Bit
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie "The Pretender" gehören nicht mir, sondern MTM und NBC Television. Ich habe sie mir nur ausgeliehen. Alle anderen Charaktere sind mein 'Eigentum'. Diese Story wurde nur zu meinem Vergnügen und dem anderer Fans geschrieben und veröffentlicht. Ich verfolge damit keinerlei finanzielle Interessen irgendeiner Art.

Spoiler: Auch der zweite Teil meiner Geschichte ist nur locker an die Ereignisse der dritten Staffel angelehnt. Trotzdem gibt es den ein oder anderen Spoiler...

Zur Story: Eine kleine "Was wäre wenn"-Geschichte. Miss Parker greift zu verzweifelten Maßnahmen, und dadurch nimmt nicht nur ihr Leben eine unerwartete Wendung... Als kleine Warnung: Dieser Teil ist ein *kleines bißchen* kitschiger geraten als Teil 1, außerdem gibt es eine Sterbeszene...

Und jetzt: Viel Spaß beim zweiten Teil!




Einsichten
Teil II
von Miss Bit





Miss Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
9:23



Die Post lag ungeöffnet auf dem Schreibtisch, neben einem Stapel Akten, den Miss Parker genauso wenig beachtet hatte. Seit sie vor einer Stunde ihr Büro betreten hatte, waren ihre Gedanken meilenweit weg.

Miss Parker dachte über den letzten Abend nach. Ihr Gefühl hatte sie davor gewarnt, Jarod jetzt schon zu treffen. Dann noch die Sache mit ihrem Auto, das ohne Vorwarnung liegengeblieben war - ein abergläubischer Mensch hätte das für ein Zeichen halten können. Aber Miss Parker war nicht abergläubisch. Sie war froh, daß sie dem Treffen zugestimmt hatte, auch wenn es ihre Gefühlswelt durcheinander gebracht hatte. Vielleicht war das genau das, was sie brauchte.

Ihr Blick schweifte zum Fenster, durch das schon den ganzen Morgen die Sonne ins Zimmer schien. Alles sah danach aus, als ob heute ein schöner Tag werden würde. Mit ein wenig Glück konnte sie es sogar schaffen, aus dem Centre zu entwischen, bevor ihn jemand verdarb.

Ein Klopfen unterbrach ihre optimistische Zukunftsvision. Ihr Sekretär öffnete die Tür und betrat ihr Büro.

"Was gibt's?" erkundigte sich Miss Parker.

"Die Werkstatt hat angerufen, Miss Parker. Ihr Wagen wird morgen früh fertig sein. Offenbar hatte er einen leichten Motorschaden."

Miss Parker nickte zufrieden. Die Aussicht, ihr eigenes Auto wiederzubekommen, verbesserte ihre Laune noch weiter.

"Sonst noch etwas?"

"Ähm, ja. Draußen ist jemand, der Sie sprechen möchte."

Sie hob fragend die Brauen.

"Wer ist es?"

Wortlos reichte ihr Sekretär ihr eine Visitenkarte. Miss Parker warf einen kurzen Blick auf die japanischen Schriftzeichen, dann lächelte sie.

"Er soll reinkommen."

"Sofort, Miss Parker."

Er verließ den Raum, und Miss Parker stand auf, um ihren Besucher zu begrüßen. Tommy Tanaka kam herein, selbstbewußt wie immer und mit dem selben charmanten Lächeln, das sie damals im College so sehr beeindruckt hatte.

"Hallo, Tommy."

"Parker! Schön, dich wiederzusehen."

Tanaka zog sie kurz in seine Arme und küßte sie auf die Wange, dann grinste er breit.

"Jedesmal, wenn wir uns sehen, siehst du besser aus, Parker", sagte er dann, nachdem er sie eingehend betrachtet hatte. Sie lächelte wissend.

"Was willst du, Tommy?"

Er lachte und hob in einer abwehrenden Geste die Arme.

"Ich habe das völlig ernst gemeint. Außerdem bin ich hier, weil du etwas von mir wolltest, erinnerst du dich?"

"Deswegen bist du extra hergekommen?"

"Ja", bestätigte er. "Außerdem glaube ich, daß wir auch noch ein paar andere Dinge besprechen sollten."

Miss Parker nickte.

"Gerne, aber nicht hier. Hast du schon gefrühstückt?"

"Nein, ich bin direkt vom Flughafen hergefahren. Und du weißt ja, daß ich in Flugzeugen grundsätzlich nicht esse."

Tommy schnitt eine Grimasse, und Miss Parker lachte leise. Sie freute sich darüber, ihn wiederzusehen.

"Dann komm. Ich kenne ein gutes Café in der Nähe."

"Großartig. Laß uns gehen", sagte er, legte ihr einen Arm um die Schultern und verließ mit ihr das Büro. "Wie geht's eigentlich deinem Bruder?"

"Viel zu gut, wenn du mich fragst. Wir sollten ihm später einen kleinen Besuch abstatten. Ich bin sicher, er wird sich freuen, dich wiederzusehen", meinte Miss Parker mit einem Grinsen, das nichts Gutes für Lyle verhieß. Tanakas Lachen hallte durch den Flur.

"Gott, du hast mir wirklich gefehlt, Parker."



Suzanne's Café
Blue Cove, Delaware
10:08



Das Café war etwa zur Hälfte besetzt, und das gute Wetter würde sicher bald noch mehr Gäste anlocken. Miss Parker und Tanaka hatten einen der begehrten Plätze an einem der großen Fenster ergattert. Während Tommy mit großem Appetit frühstückte, genoß Miss Parker die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und erzählte Tommy einiges von dem, was seit seinem letzten Besuch in Blue Cove passiert war. Er hörte ihr interessiert zu, und nachdem er mit dem Essen fertig war, griff er in eine Tasche seiner Jacke und zog einen großen, wattierten Umschlag hervor. Vorsichtig legte er ihn auf den Tisch.

"Ist es das, was ich vermute?" erkundigte sich Miss Parker, machte aber keine Anstalten, nach dem Umschlag zu greifen. Tommy nickte.

"Ja, unter anderem."

Als sie ihn fragend ansah, lehnte er sich ein wenig zurück und lächelte leicht.

"Weißt du, seit dem Desaster letztes Jahr ist mein Vater nicht mehr besonders gut auf das Centre zu sprechen. Eigentlich hat er Raines und seinen Kumpanen nie getraut. Er hält sie alle für ehrlos. Aber - er mag dich."

Miss Parker sah ihn überrascht an.

"Wie bitte?"

Tommys Lächeln verbreiterte sich etwas.

"Ich habe ihm viel von dir erzählt. Außerdem hält er viel von Eigeninitiative. Womit wir bei dem kleinen Gefallen hier wären." Er schob den Umschlag in ihre Richtung. "Sergej hat mich angerufen, Parker."

"Mhm, damit habe ich fast gerechnet", erwiderte sie ruhig. "Ihr wißt also Bescheid." Sie beugte sich zu ihm vor. "Ich werde mich nicht aufhalten lassen", stellte sie klar.

Tanaka schüttelte den Kopf.

"Niemand will dich aufhalten. Wie ich schon sagte, mein Vater mag dich. Er unterstützt dein... Vorhaben. In den letzten Jahren hat sich das Centre auf dem internationalen Parkett viele Feinde gemacht. Von außen war es nie möglich, wirklich Schaden anzurichten, aber von innen sieht die Sache ganz anders aus."

"Es gibt einige Parteien, die durchaus daran interessiert sind, daß das Centre weiterbesteht. Wenn die falschen Leute zu früh davon erfahren..."

"Sergej arbeitet hauptsächlich auf eigene Rechnung, deshalb hast du von dieser Seite keinen Widerstand zu erwarten. Sonst weiß nur noch meine Familie Bescheid. Nach Sergejs Anruf war mir klar, wofür du das hier brauchst. Ich mußte meinen Vater informieren. Du verstehst das hoffentlich. Ohne seine Zustimmung konnte ich dir nicht helfen."

"Das Risiko mußte ich eingehen. Aber ich war mir fast sicher, daß dein Vater so reagieren würde - niemand versucht ungestraft, die Tanaka-Familie reinzulegen."

"Mein Vater läßt dir ausrichten, daß er dir viel Glück wünscht. Wenn alles beendet ist, würde er dich gerne persönlich kennenlernen."

"Das sollte sich einrichten lassen", erwiderte Miss Parker lächelnd. "Eins sollte aber klar sein: Durch die Schließung des Centres gibt es für euch keine Vorteile. Alle Daten über die Projekte des Centres werden vernichtet. Allerdings werde ich dafür sorgen, daß ihr euer Geld zurückerhaltet."

Tommy seufzte.

"Das ist zwar schade, aber akzeptabel. Hier drin", er deutete auf den Umschlag, "ist alles, was du brauchst, auch das, worum du Sergej gebeten hast. Damit dürfte das Geschäftliche geklärt sein."

"Vielen Dank für deine Hilfe, Tommy. Das gilt natürlich auch für deinen Vater. Ich werde das kaum wiedergutmachen können."

Die Miene ihres Gegenübers erhellte sich.

"Oh, sag das nicht. Du könntest zum Beispiel heute abend mit mir ausgehen", schlug er vor.

"Abgemacht."


Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
8:43



Miss Parker wanderte zielstrebig durch die langen Korridore des Centres. Sie war auf dem Weg zum Technikraum, um mit Broots zu sprechen. Seine Bedenkzeit war lang genug gewesen.

In Gedanken war sie noch beim letzten Abend, den sie sehr genossen hatte. Es hatte ihr gut getan, Tommy wiederzusehen und über die alten Zeiten zu reden. Allerdings war der Abend wohl nicht ganz so verlaufen, wie Tommy sich das gewünscht hatte. Auf dem College hatte sie nicht nur eine Freundschaft verbunden, sondern auch eine starke, gegenseitige Anziehungskraft. Sie wußte, daß sie immer auf Tommys Freundschaft zählen konnte, aber anders als er legte sie keinen Wert darauf, auch andere Aspekte ihrer Beziehung wiederaufleben zu lassen.

Tommy hatte das respektiert, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, sie zu fragen, ob es einen besonderen Grund dafür gab. Sie hatte seine Vermutungen weder bestätigt noch abgestritten, und schließlich hatte er es aufgegeben. Später am Abend, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, hatte er ihr viel Glück gewünscht und ihr gesagt, sie solle gut auf sich aufpassen. Diesen Rat würde sie nur zu gern beherzigen.

"Miss Parker."

Die Stimme unterbrach ihre Überlegungen abrupt. Miss Parker blieb stehen, schloß für einen kurzen Moment die Augen und drehte sich dann um.

"Brigitte."

Früher oder später hatte es zu dieser Begegnung kommen müssen. Brigitte hielt eine Akte in den Händen, und Miss Parker wußte sofort, was die ehemalige Cleanerin von ihr wollte. Brigitte kam mit langen Schritten auf sie zu, ein wütendes Funkeln in den Augen.

"Was zum Teufel soll das?" zischte sie, als sie dicht vor Miss Parker stehenblieb.

"Muß ich das wirklich erklären?"

"Für so geschmacklose Scherze habe ich nichts übrig, und Ihr Vater mit Sicherheit auch nicht!"

Miss Parker sah der anderen Frau in die Augen.

"Das ist kein Scherz", erklärte sie verärgert. "Und für meine Mutter war es das ganz bestimmt auch nicht. Daddy kennt diese Akte bereits, Sie brauchen sich also gar nicht erst die Mühe zu machen, sie ihm zu zeigen. Ich rate Ihnen sogar davon ab. Es würde ihn nur wütend machen."

"Was soll das, Miss Parker?" fragte Brigitte noch einmal.

"Betrachten Sie es als... eine Warnung. Sie haben ja keine Ahnung, worauf Sie sich einlassen. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber Sie sollten wissen, daß mein Vater ausgesprochen jähzornig sein kann."

Brigittes Lippen verzogen sich zu einem spöttischen, herablassenden Lächeln.

"Ich fürchte, Sie haben es immer noch nicht verstanden, meine liebe Miss Parker. Ihr Vater und ich, wir lieben uns. Was auch immer Ihre Mutter getan - und wer auch immer ihr das angetan hat - ich bin sicher, daß sie es verdient hatte."

Ihre letzten Worte lösten heißen Zorn in Miss Parker aus. Alles in ihr schrie danach, ihre Widersacherin zu packen und ihre aufgeblasene Selbstgefälligkeit aus ihr heraus zu prügeln. Ein kleiner, rationaler Funken hielt sie zurück.

"Niemand, nicht einmal Sie, hat so etwas verdient", brachte sie hervor. "Das hier ist das Centre. Wenn Sie am Boden liegen, wird Ihnen niemand helfen, ganz im Gegenteil. Reden Sie nie wieder so über meine Mutter, oder ich werde Ihnen zeigen, wie tief man hier fallen kann."

Ihr Blick bohrte sich in Brigittes, und für einen kurzen Moment flackerte so etwas wie Furcht in Brigittes Augen auf. Dann nahm der Spott wieder seinen Platz ein.

"Sie sollten besser aufpassen, wem Sie hier drohen, Schätzchen. An Ihrer Stelle würde ich Daddy lieber nicht vor die Wahl stellen", meinte Brigitte, zwinkerte einmal und ließ die Akte vor Miss Parker auf den Boden fallen. Dann drehte sie sich um und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Miss Parker wartete, bis sie außer Sicht war, die Hände zu Fäusten geballt. Schließlich zwang sie sich, sich zu entspannen und hob die Akte auf. Wenigstens hatte sie es versucht. Wenn Brigitte unbedingt in ihr Verderben rennen wollte - sie würde ihr dabei nicht im Weg stehen. Aber wenn alles nach Plan lief, spielte das alles ohnehin bald keine Rolle mehr.

Noch immer wütend setzte Miss Parker ihren Weg fort. Als sie den Technikraum erreichte, war der größte Teil ihrer Wut verflogen, aber die Erinnerung an den Schmerz ihrer Mutter verletzte sie noch immer. Brigitte hatte sie an ihrem wunden Punkt getroffen.

Nur mühsam gelang es ihr, ihre Aufmerksamkeit von ihrer Unterhaltung mit Brigitte abzuwenden und sich stattdessen auf Broots zu konzentrieren.

"Hallo, Miss Parker", sagte der Techniker, als er sie hereinkommen hörte. Erfreut stellte Miss Parker fest, daß er nicht ganz so eingeschüchtert wie sonst wirkte. Er musterte sie, und in seinem Blick lag fast so etwas wie... Besorgnis? "Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

"Ja, Broots, mir geht's gut. Ich hatte nur gerade eine kleine Unterhaltung mit Brigitte, auf die ich gerne verzichtet hätte." Broots nickte verständnisvoll. "Haben Sie über das nachgedacht, was ich bei unserem letzten Treffen gesagt habe?" fuhr Miss Parker fort.

In Broots Miene zeigte sich eine Mischung aus Unbehagen und Entschlossenheit.

"Ja, das habe ich." Er zögerte kurz. "Sie haben gesagt, daß Sie Debbie schützen können?"

Miss Parker ging zu einem Stuhl in seiner Nähe und setzte sich.

"Ja", bestätigte sie dann. "Ich will jetzt nicht näher darauf eingehen", meinte sie mit einem schnellen Blick zu einer der Überwachungskameras, "aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun."

"Dann bin ich dabei", sagte Broots fest, und Miss Parker lächelte sanft. Sie beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf den Arm.

"Ich kann nicht versprechen, daß ich auch Sie beschützen kann. Es wird sehr gefährlich werden, und vielleicht kann ich nicht verhindern, daß etwas schiefgeht."

Broots schluckte, wich aber nicht von seinem Entschluß ab.

"Ich weiß. Was... Was soll ich tun?"

Miss Parker zog einen Zettel aus ihrer Tasche und gab ihn Broots, während sie aufstand.

"In einer halben Stunde", war alles, was sie sagte, bevor sie den Raum verließ.


Hydroponischer Garten
Das Centre
Blue Cove, Delaware
9:20



Als Miss Parker den Garten erreichte, wartete Broots schon ungeduldig auf sie. Erleichtert sprang er auf.

"Gott sei Dank, da sind Sie ja."

Sie lächelte.

"Natürlich. Schließlich waren wir ja hier verabredet."

"Miss Parker, ich habe über das nachgedacht, was Sie letztes Mal gesagt haben. Ich glaube nicht, daß wir das Centre einfach so schließen können. Wenn das möglich wäre, hätte Jarod es bestimmt schon versucht."

Er schien mit einer wütenden Reaktion zu rechnen, als er Jarod erwähnte, aber Miss Parker neigte nur den Kopf zur Seite.

"Vielleicht hatte Jarod nur nicht die richtigen Werkzeuge. Aber ich glaube, daß er bisher einfach nicht wollte, daß das Centre aufhört zu existieren. Er braucht das Centre - zumindest glaubt er das. Mir ist natürlich klar, daß wir das Centre nicht von heute auf morgen schließen können. Aber wir können ihm mit Sicherheit eine tödliche Wunde zufügen."

Broots sah sie skeptisch an.

"Hier habe ich etwas Unterstützung für Sie, Broots. In England habe ich viel über das Centre nachgedacht, und ich denke, ich habe einen Weg gefunden, es zumindest lahmzulegen", fuhr Miss Parker fort und reichte Broots den Umschlag, den sie von Tommy bekommen hatte. "Da drin sind zwei Computerprogramme, die mir von Freunden zur Verfügung gestellt worden sind. Eines von ihnen wird Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen, bei dem anderen handelt es sich um ein Virus, das unsere Aktivitäten verschleiern wird."

Mit einem weiteren skeptischen Blick öffnete Broots den Umschlag und zog eine silbrig glänzende CD-ROM hervor. Langsam wurde seine Skepsis von Interesse verdrängt. Eine Weile starrte er nachdenklich ins Leere, vergaß alles um sich herum. Miss Parker wartete geduldig. Schließlich hob Broots den Kopf und sah sie an.

"Es könnte vielleicht klappen. Das ist ein großes Vielleicht, aber es könnte klappen. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, was genau ich tun soll, Miss Parker", erinnerte er sie.

"Daran soll's bestimmt nicht scheitern", meinte sie mit einem erleichterten Lachen. "Das Wichtigste ist, daß Sie Beweise sammeln. Zerren Sie alles ans Licht, und sorgen Sie dafür, daß wir den Behörden schlagende Beweise liefern können. Je schneller Sie das schaffen, desto besser. Das Virus wird hier einige Aufregung verursachen, so daß Sie genug Zeit haben sollten. Es wurde speziell für solche Zwecke entwickelt. Die Experten werden eine Weile brauchen, bis sie es unter Kontrolle haben - besonders, da Sie zu den Experten gehören."

"Und wenn Sie von genug Zeit sprechen, meinen Sie..."

"Schwer zu sagen. Wir dürfen nicht zu schnell vorgehen, uns aber auch nicht zuviel Zeit lassen. Das Virus können wir erst in der letzten Phase einsetzen... Zwei Monate, schätze ich."

"Miss Parker, das schaffe ich nie allein! Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Informationen in den Archiven des Centres gespeichert sind?"

"Ganz ruhig, Broots. Niemand hat gesagt, daß Sie allein arbeiten sollen. Syd und ich werden Ihre Aktionen decken, und was den Rest betrifft... Angelo kann Ihnen helfen. Er kennt sich hervorragend mit den Systemen des Centres aus."

Broots ließ sich auf einen großen Stein sinken.

"Und was passiert, wenn wir es nicht schaffen?" fragte er leise.

"Das muß ich Ihnen doch nicht wirklich erklären, oder?" In Miss Parkers Tonfall schwang eine unausgesprochene Entschuldigung mit.

"Nein. Nur ein Versuch, alles oder nichts."

"Sie können es sich jetzt noch anders überlegen", bot sie an, aber Broots schüttelte den Kopf.

"Ich bin dabei. Ohne mich würden Sie das doch gar nicht schaffen."

Sie versetzte ihm einen leichten Schlag auf die Schulter.

"Das ist der richtige Geist. Wir sollten noch heute anfangen. Vorher müssen wir nur noch ein paar Kleinigkeiten klären. Sie haben doch dieses Suchprogramm entwickelt, richtig?" Als er überrascht nickte, fuhr sie fort. "Gut, benutzen Sie es, um uns aus allem rauszuhalten. Löschen Sie Syds, Angelos, Ihren und meinen Namen aus allen Akten. Nichts darf uns mehr mit dem Centre in Verbindung bringen. Können Sie das schaffen?"

"Ja. Ja, ich denke schon. Wenn ich eine automatische Routine programmiere, die..."

"Schon gut, keine Einzelheiten. Fangen Sie einfach an. Wir werden Kontakt halten, aber unauffällig. Wenn irgend etwas ist, können Sie mich anrufen. Jederzeit."

Broots Gedanken waren bereits mit der Lösung des komplizierten Problems beschäftigt, deshalb nickte er nur geistesabwesend. Miss Parker musterte ihn aufmerksam, bis er sie ansah, dann lächelte sie leicht.

"Ich verlasse mich auf Sie, Broots", betonte sie freundlich. "Während Sie mit unserem Projekt beschäftigt sind, werde ich mich noch um ein paar Kleinigkeiten kümmern. Das Centre hat einige Schulden zu begleichen. Wir sehen uns heute abend im Technikraum, wenn ich mit Angelo gesprochen habe."



Angelos Raum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
15:21



"Angelo? Bist du da?"

Miss Parker betrat Angelos Raum und sah sich suchend um. Seit Jarod ihr gesagt hatte, daß sie einen Zwillingsbruder hatte, hatte sie viel Zeit mit Angelo verbracht. Die Ergebnisse des DNA-Tests ließen zwar keinen Zweifel daran, daß Lyle ihr Bruder war, aber ihr Herz sagte etwas anderes.

Angelo hob den Kopf, als sie hereinkam.

"Miss Parker!"

"Hallo, Angelo", sagte sie sanft und ging zu ihm. Sie überließ ihm die Entscheidung, ob er sie berühren wollte oder nicht, denn damit war er ihren Gefühlen ausgesetzt. Er hockte auf dem Boden, in einem Durcheinander aus Büchern, Akten und losen Papieren. Miss Parker kniete sich vorsichtig neben ihn.

"Miss Parker war lange fort", sagte Angelo und sah sie an.

"Ich war in England", erklärte sie. Angelo berührte kurz ihre Hand.

"Antworten", sagte er dann. "Wahrheit."

Einem Impuls folgend schloß sie ihn in ihre Arme, um ihn kurz darauf wieder loszulassen. "Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen."

Er lächelte sein scheu wirkendes Lächeln, doch dann runzelte er plötzlich die Stirn.

"Angelo kann helfen", verkündete er ernst. Sie sah ihn überrascht an, dann lachte sie leise.

"Deshalb mag ich dich so sehr", vertraute sie ihm an. "Bei dir muß ich mich nie mit langen Erklärungen aufhalten. Du verstehst mich." Nach einem kurzen Zögern fuhr sie fort. "Willst du uns denn helfen?"

"Angelo hilft."

"Das ist wirklich nett von dir", erwiderte Miss Parker in ihrem sanftesten Tonfall. Liebevoll strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann erhob sie sich langsam. Auch Angelo stand auf. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen. "Weißt du was? Ich bleibe noch ein bißchen bei dir, in Ordnung?", schlug Miss Parker vor. In Angelos Nähe fühlte sie sich wohl, und es gelang ihr fast zu vergessen, daß sie im Centre war. Genauso, wie es früher mit Jarod war, fuhr es ihr durch den Kopf.

"Jarod ist gut für Miss Parker."

Angelos Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Verblüfft sah sie ihn an. In seinem Blick lag etwas Schuldbewußtes, und er zog seine Hand von ihr zurück.

"Nein, ist schon gut", beruhigte sie ihn sofort, während sie über seine Äußerung nachdachte. Wahrscheinlich hatte er sogar recht. Wenn sie Jarod an sich heranließ, konnte das nur gut für sie sein. "Aber bin ich auch gut für ihn?" überlegte sie laut.

"Liebe ist gut", erklärte Angelo mit Nachdruck, und sah sie mit schiefgelegtem Kopf an. Miss Parker lehnte sich an einen nahen Tisch. Liebe. War es das, was sie für Jarod empfand? Bisher hatte sie darüber nur zögernd nachgedacht. Aber wenn Angelo es sagte, mußte etwas dran sein. Er hatte ihre Gefühle für Jarod beschrieben. Sie seufzte.

"Er fehlt dir bestimmt, hm?"

"Jarod ist nicht mehr hier", antwortete Angelo betrübt. "Aber Angelo denkt an ihn."

Nachdenklich nickte Miss Parker. "Mir fehlt er auch", gab sie zu. Aus reiner Gewohnheit warf sie einen Blick zu der kleinen Kamera, die unauffällig unter der Decke hing. Sie wußte, daß Angelo sich nicht gerne überwachen ließ und deshalb die Kameras in seinem Reich ausgeschaltet hatte. Raines ließ ihm diesen kleinen Bereich, da er bestimmt nicht erwartete, ausgerechnet von Angelo hintergangen zu werden. Vielleicht sollte sie trotzdem vorsichtig sein mit dem, was sie hier unten sagte. Vorsicht machte sich im Centre immer bezahlt.

Miss Parker warf einen Blick auf ihre Uhr. Langsam sollte sie in ihr Büro zurückkehren, sonst kam noch jemand auf die Idee, sie zu suchen.

"Tut mir leid, Angelo, ich muß jetzt gehen. Aber heute abend komme ich noch mal vorbei."

"Angelo wartet."

Sie fuhr ihm noch einmal durchs Haar, dann kehrte sie zurück in die rauhe Wirklichkeit des Centres.


Ein Motel irgendwo in Delaware
15:47



Unschlüssig starrte Jarod an die Decke. Seit fast einer Stunde lag er schon auf dem Bett und dachte nach. Seine Gedanken kreisten um Miss Parker und um den Brief, den er von seinem Vater erhalten hatte. In dem Brief hatte ihn sein Vater gebeten, Miss Parker nicht zu drängen, aber das fiel ihm zunehmend schwerer. Er wollte sie wiedersehen, und er wollte die Situation zwischen ihnen endlich klären.

Über seine eigenen Gefühle war er sich mittlerweile klar geworden, aber er hatte keine Ahnung, ob Miss Parker sie erwiderte. Die Ungewißheit nagte an ihm, und schließlich rang er sich zu einem Entschluß durch. Jarod griff nach dem Handy, das auf dem Nachttisch lag und wählte ihre Nummer.

"Ja?" ertönte ihre Stimme schon nach dem zweiten Klingeln. Sie klang ein wenig atemlos.

"Hallo, Miss Parker. Ich hoffe, ich habe dich nicht bei irgend etwas unterbrochen."

"Jarod! Wir haben gerade über dich gesprochen."

"Wir?"

Er hörte, wie sie leise lachte.

"Angelo und ich. Ich war eben bei ihm. Du fehlst ihm."

"Er fehlt mir auch", antwortete Jarod leise. Das galt nicht nur für Angelo. "Können wir uns heute abend sehen?" fragte er unvermittelt und wartete gespannt auf ihre Antwort.

"Möchtest du über deinen Vater sprechen?" erkundigte sie sich ruhig. Jetzt oder nie, dachte Jarod.

"Ich möchte mit dir über uns reden. Und ich würde dich gerne sehen." Am anderen Ende der Leitung holte Miss Parker überrascht Luft.

"Heute abend wird es spät werden", erwiderte sie dann ausweichend. "Aber ich würde dich wirklich gerne sehen. Wir haben einiges zu bereden. Wieso kommst du nicht gegen zehn heute abend bei mir vorbei?"

Jarod schloß für einen Moment erleichtert die Augen. Sie wollte ihn also auch sehen.

"In Ordnung", stimmte er zu.

"Großartig. Dann bis heute abend, Jarod."

"Ja, bis heute abend."

Sie legten beide auf. Als Jarod das Telefon zurück auf den Nachttisch legte, fiel sein Blick auf die Akte, die Sydney ihm gegeben hatte. Er griff danach und zog eins der beiden Fotos hervor, die darin lagen. Es zeigte zwei Kinder, glückliche Kinder - Miss Parker und ihn selbst. Lange starrte er auf die Fotografie und versuchte, sich an diese Zeit zu erinnern. Nur zu gerne hätte er sich an diese Treffen mit seinem Vater erinnert, von denen er jetzt erst wieder wußte, daß sie überhaupt stattgefunden hatten, aber es gelang ihm nicht. Doch er erinnerte sich an das kleine Mädchen auf dem Foto. Die Gefühle, die er für sie hatte, waren mehr als eine bloße Erinnerung, und sie galten nicht der Vergangenheit. Sie galten der Frau, die er heute abend treffen würde - um ihr zu sagen, was er für sie empfand.


Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
20:04



Die Korridore des Centres leerten sich langsam, so daß Angelo und Miss Parker niemandem begegneten, als sie gemeinsam zum Technikraum gingen. Abends hielt sich Miss Parker noch weniger gern im Centre auf als gewöhnlich. Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß einige Angestellte des Centres die Nachtstunden nutzten, um noch abwegigere Experimente durchzuführen als das tagsüber der Fall war. Aber Angelos Nähe beruhigte sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit in eine angenehmere Richtung.

Sie erreichten den Technikraum, ohne irgendwem zu begegnen. Miss Parker war durchaus dankbar dafür, denn andernfalls hätte sie vielleicht erklären müssen, warum sie mit Angelo unterwegs war. Im Technikraum hielt sich niemand außer Broots auf. Der Techniker arbeitete konzentriert am Computer und fuhr erschrocken herum, als Angelo ihn an der Schulter berührte. Als Reaktion darauf schrak auch Angelo zusammen.

"Oh, Angelo, du bist es", rief Broots erleichtert und war sichtlich bemüht, Angelo wieder zu beruhigen. Glücklicherweise galt Angelos Aufmerksamkeit schon bald dem Computer.

"Angelo hilft", erklärte er und setzte sich auf einen Stuhl neben Broots.

"Ähm, haben Sie ihm erklärt, worum es geht, Miss Parker?" erkundigte sich Broots. Sie kam auf ihn zu und stellte sich hinter ihn und Angelo.

"Er weiß Bescheid. Wenn Sie Hilfe brauchen, fragen Sie ihn einfach", erwiderte sie. "Sie können völlig frei sprechen. Angelo hat sich um die Überwachungssysteme in diesem Raum gekümmert."

"Oh, gut." Unschlüssig sah er erst auf den Bildschirm und dann wieder zu Miss Parker. Sie hob fragend die Brauen. "Wegen Debbie...", begann er.

"Machen Sie sich keine Sorgen. Sie steht unter dem Schutz des FBI."

Broots riß die Augen auf. "FBI?"

Miss Parker lächelte. "Ein paar Freunde von mir schulden mir noch den einen oder anderen Gefallen. Wenn Sie glauben, daß es für Debbie hier zu gefährlich wird, kann ich sie jederzeit an einen sicheren Ort bringen lassen. Ihr wird nichts passieren. Das würde ich nie zulassen."

"Okay. Aber ich werde mir trotzdem Sorgen machen", erklärte Broots mit einem Schulterzucken. Miss Parkers Lächeln vertiefte sich.

"Und das ist auch der Grund, warum Sie ein so guter Vater sind", sagte sie warm. "Ich fahre jetzt nach Hause. Falls nichts dazwischenkommt, sehen wir uns morgen früh. Gute Nacht, Broots. Gute Nacht, Angelo."

"Ähm, gute Nacht, Miss Parker", wünschte ihr Broots, mit derselben Mischung aus Verwirrung und Verlegenheit, die ihn immer dann erfüllte, wenn sie ihn mit einer freundlichen Bemerkung überraschte. Angelo warf ihr nur einen kurzen Blick zu, widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Bildschirm. Sie berührte in kurz an der Schulter und machte sich dann auf den Weg nach Hause.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
21:52



Das Licht des Halbmondes spiegelte sich im ruhigen Wasser des Meeres. Miss Parker saß auf ihrer Veranda und genoß die Ruhe, die sie zum ersten Mal seit Tagen umgab. Nach ihrem Gespräch mit Sydney fühlte sie sich etwas besser, auch wenn sie ihm noch immer nicht alles erzählt hatte.

Sie war froh darüber, daß die Dinge im Centre endlich ins Rollen geraten waren. Broots hatte sein anfängliches Zögern überwunden und verbrachte jetzt seine gesamte Zeit mit den beiden Programmen, die er von ihr erhalten hatte. Wenn alles gut ging, und bisher sah alles danach aus, dann würde in knapp zwei Monaten alles vorbei sein.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie aufstand, um ins Haus zurückzugehen. Es war beinahe Zeit.

Gerade als sie die Verandatür hinter sich verschloß, klingelte es an der Haustür. Ihr Herz schlug schneller, und sie schüttelte den Kopf. Sie benahm sich wie ein verliebter Teenager. Allerdings war es ein schönes Gefühl, und warum sollte sie es nicht einfach genießen?

Mit ein paar Schritten war sie an der Tür und öffnete sie.

"Hallo, Jarod", begrüßte sie ihren Besucher.

"Guten Abend, Miss Parker", erwiderte er leise und lächelte warm. "Darf ich hereinkommen?"

"Nur zu."

Er ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, und sie schloß die Haustür, bevor sie ihm folgte. Während sie an seinen letzten Besuch bei ihr dachte, schlich sich völlig unbemerkt ein Lächeln auf ihre Lippen.

"Das gefällt mir", sagte Jarod mit dunkler Stimme. Als sie ihn fragend ansah, fuhr er erklärend fort. "Dein Lächeln."

Sein Kompliment erfüllte sie mit Wärme und mit einem anderen Gefühl, das sie in den letzten Jahren immer unterdrückt hatte. Doch jetzt begrüßte sie es.

"Ich bin froh, daß du hier bist, Jarod."

"Das bin ich auch."

Jarods intensiver Blick schien sie zu durchbohren, aber sie empfand dieses Gefühl nicht als unangenehm.

"Ich hatte gehofft, daß wir unsere Unterhaltung vom letzten Mal fortführen könnten", erklärte er dann. Miss Parker erwiderte den Blick seiner dunklen Augen und fragte sich, wie ernst er es wohl meinte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihn wissen lassen sollte, wie ernst es ihr war.

Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu.

"Ich...", begann sie, aber Jarod legte ihr einen Finger auf die Lippen. Unwillkürlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln, dann küßte sie ganz leicht seine Fingerspitze. Er hatte ihr gerade eine Chance gegeben, die Ereignisse der letzten Woche herunterzuspielen, aber das wollte sie gar nicht. Jarod sollte wissen, woran er war.

Entschlossen nahm sie seine Hand in ihre.

"Bitte hör mir zu, Jarod. Ich habe dich letzte Woche geküßt, weil ich mir über meine Gefühle klar werden wollte."

"Und... ist dir das gelungen?" fragte er sanft.

"Ja. Nach den Gesprächen mit deinem Vater habe ich viel über dich... über uns nachgedacht. Du hast mir gefehlt."

Ihre Stimme war weich geworden und sie drohte, sich in Jarods dunklen, verständnisvollen Augen zu verlieren. Er hob ihre Hand an seine Lippen.

"Ich habe auch oft über uns nachgedacht."

Als er ihre Finger küßte, schloß sie kurz die Augen, gab sich ganz seinen Zärtlichkeiten hin. Schließlich öffnete sie die Augen wieder und begegnete seinem forschenden Blick.

"Bleib heute nacht bei mir, Jarod", wisperte sie. Er zog sie näher an sich.

"Ich warte schon so lange darauf, daß du mich danach fragst", antwortete er mit rauher Stimme, dann neigte er den Kopf nach unten und küßte sie.


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
06:23



Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das große Schlafzimmerfenster und kündigten einen schönen Tag an. Miss Parker lag auf der Seite, den Kopf auf einen Arm gestützt, und betrachtete Jarod, der noch immer fest schlief.

Dieser Morgen war etwas Besonderes für sie. Er stellte den Beginn eines neuen Lebensabschnitts dar, eines Lebens ohne das Centre. Und so, wie es aussah, würde Jarod ein Teil dieses Lebens - ihres Lebens - sein. Ein Teil von ihr hatte sich vor dieser Nacht gefürchtet.

Jarod war nicht der erste Mann, den sie in ihr Haus und in ihr Bett eingeladen hatte, und er war auch nicht der erste, dem sie erlaubte, bis zum Morgen zu bleiben. Aber Jarod war der erste Mann, den sie morgens ansah und sich dabei wünschte, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen.

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, berührte ihn zärtlich an der Wange. Sofort breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus, und Miss Parker schüttelte belustigt den Kopf.

"Guten Morgen, Jarod", murmelte sie sanft. "Wie lange bist du schon wach?"

Sein Lächeln vertiefte sich noch ein wenig, aber er ließ seine Augen noch immer geschlossen.

"Nicht lange", antwortete er, ebenfalls leise und mit dunkler Stimme. Schließlich öffnete er die Augen und begegnete ihrem Blick. In seinen Augen spiegelten sich seine Empfindungen wider, und Miss Parker fühlte, wie sich als Reaktion auf seinen Blick ein warmes Gefühl in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

Gleichzeitig tauchte noch eine andere Empfindung auf. Plötzlich spürte sie einen Stich völlig irrationaler Angst. Sie senkte den Blick.

Jarod spürte die Veränderung in ihrer Stimmung sofort und legte eine Hand unter ihr Kinn, zwang sie ganz sanft, ihn wieder anzusehen.

"Was ist los?" fragte er mit einer Sanftheit, die ihre Angst sofort schmelzen ließ. "Bereust du die letzte Nacht?"

"Nein", sagte sie mit Überzeugung. Das einzige, was sie an dieser Nacht vielleicht bedauerte, war, daß sie nicht schon viel früher stattgefunden hatte. "Jarod, ich..."

Mit einem Seufzen brach sie ab und ließ sich rückwärts auf ihr Kissen fallen. Für einen kurzen Moment schloß sie die Augen, versuchte, sich zu sammeln. Sie wollte, daß er sie verstand. Es war so wichtig für sie. Er war so wichtig für sie. Als sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie seinem besorgten Blick.

"Du mußt mich doch hassen", brachte sie leise hervor. Jarods Augen weiteten sich überrascht, als er verstand, worauf sie hinaus wollte.

"Marine, wie kannst du so etwas auch nur denken? Die letzte Nacht sollte dir bewiesen haben, wie ich für dich empfinde." Der warme Klang seiner Stimme begann, ihre Zweifel auszulöschen. "Ich liebe dich." Mit einer Hand berührte er ihre Wange, die andere griff nach ihrer Hand. "Marine, ich liebe dich", wiederholte er und sah tief in ihre Augen.

In ihrem Innersten schien etwas zu zerbersten, und plötzlich fühlte sie sich frei. Jarod liebte sie, er verzieh ihr.

"Oh Gott, Jarod", wisperte sie, und eine Träne lief über ihre Wange. Er wischte sie vorsichtig fort. "Ich liebe dich auch. Aus tiefstem Herzen." Sie schluckte. "Es tut mir so schrecklich leid. Alles, was ich dir angetan habe..." Weitere Tränen folgten der ersten.

"Marine, nein. Du mußt dich nicht entschuldigen, für nichts. Es stimmt, wir haben uns gegenseitig verletzt, aber das ist jetzt vorbei. Was auch immer zwischen uns passiert ist, es ändert nichts an den Gefühlen, die wir füreinander haben. Ich habe dich geliebt, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und ich werde dich immer lieben. Wir gehören zusammen", betonte er, und auch in seinen Augen standen Tränen. Er nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände und küßte alle Tränen fort. Dann zog er sie in seine Arme und hielt sie einfach nur fest. Miss Parker schlang ihre Arme um ihn und genoß das Gefühl, im so nahe zu sein.

"Danke", murmelte sie gegen seine Schulter. Überrascht sah er auf.

"Wofür?" Sie lächelte.

"Dafür, daß du hier bist. Dafür, daß du mir verzeihst. Und dafür, daß du mich liebst."

Jarod schüttelte den Kopf und suchte ihren Blick.

"Du mußt mir auch nicht danken. Nirgendwo möchte ich lieber sein als hier, bei dir. Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müßte. Und daß ich dich liebe, ist ein großes Geschenk für mich. Du bist etwas ganz Besonderes, ein Teil meines Lebens, das ohne dich sinnlos wäre. Wenn ich dich ansehe, dann habe ich das Gefühl, eine Familie zu haben, ein Zuhause."

Seine Worte lösten ein allumfassendes Glücksgefühl in ihr aus.

"Ich wünschte, du wüßtest, wie glücklich du mich machst, Jarod", sagte sie ernst.

"Ich weiß es, Marine. Glaub mir, ich weiß es", antwortete er. Er zog sie näher an sich und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Sie erwiderte den Kuß, dann lehnte sie sich an ihn, bis ihre Stirn seine berührte.

"Mhm, und was fangen wir jetzt mit dem angebrochenen Morgen an?" fragte Jarod mit dunkler, sinnlicher Stimme und einem völlig unschuldigen Gesichtsausdruck. Sie lachte leise und lehnte sich wieder ein Stück zurück, um ihn betrachten zu können. Er schaffte es mühelos, seine Unerfahrenheit zu überspielen. Ein sinnliches Lächeln umspielte ihre Lippen.

"Ich glaube, mir fällt da etwas ein", sagte sie leise, verschränkte ihre Hände in seinem Nacken und zog ihn wieder an sich.

"Mal sehen, ob wir an das Gleiche gedacht haben", erwiderte Jarod mit einem Lächeln, das ihr für einen Moment den Atem raubte. Dann küßte er sie, und sie vergaß alles andere.


Das Centre
Blue Cove, Delaware
10:17



Sydney ging gedankenverloren durch die Eingangshalle des Centres. Er befand sich auf dem Rückweg von Miss Parkers Büro, wo er sie vergeblich gesucht hatte. Vorsichtige Nachfragen hatten ergeben, daß noch niemand sie heute im Centre gesehen hatte. Unruhe regte sich in ihm. Zu deutlich erinnerte er sich noch an ihr plötzliches Verschwinden vor ein paar Wochen. Wenn er zurück in seinem Büro war, würde er versuchen, sie zu Hause zu erreichen. Hoffentlich war mit ihr alles in Ordnung...

"Guten Morgen, Sydney", sagte plötzlich jemand neben ihm. Als er den Kopf drehte, sah er, daß Miss Parker neben ihm ging.

"Miss Parker, schleichen Sie sich doch nicht so an mich heran", mahnte er, um einen Teil seiner Überraschung zu verbergen.

"Tut mir leid", sagte sie sofort und legte kurz ihre Hand auf seinen Arm.

"Oh, schon gut", brummte Sydney besänftigt. "Sie sind spät dran, Miss Parker", fügte er wie beiläufig hinzu.

"Wirklich?"

Sie klang amüsiert, und Sydney registrierte überrascht, daß sie ausgesprochen gute Laune hatte. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den er seit vielen Jahren nicht mehr bei ihr gesehen hatte, und sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus.

"Mhm", bestätigte er. "Außerdem machen Sie einen fast fröhlichen Eindruck auf mich."

"Sydney, jetzt übertreiben Sie's nicht", erwiderte sie, konnte aber nicht verhindern, daß ihre Lippen sich zu einem sanften Lächeln verzogen. Kein Zweifel, Miss Parker war glücklich.

Sydney griff nach ihrem Arm und zog sie sanft mit sich, zurück zur Eingangshalle und nach draußen. "Kommen Sie, lassen Sie uns einen Spaziergang machen. Wer weiß, wie lange sich das gute Wetter noch hält." Miss Parker warf ihm einen amüsierten Blick zu, folgte ihm aber wortlos. Als sie das Centre verlassen hatten, gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, dann ergriff Sydney das Wort.

"Also, wie ist sein Name?"

Miss Parker blieb stehen. Sie schüttelte den Kopf, musterte ihn, und dann lachte sie leise. "Sydney, Sie sind neugierig."

"Nein. Das ist rein berufliches Interesse", versicherte ihr Sydney mit einem leichten Lächeln.

"Ja, genau. Und wie kommt es, daß Sie jedesmal, wenn ich gute Laune habe, sofort vermuten, daß ein Mann dahintersteckt, hm?"

"Was, tue ich das?"

Ihre Antwort bestand aus einem wissenden Blick, dann neigte sie den Kopf leicht zur Seite. "In diesem besonderen Fall haben Sie allerdings recht", gab sie zu.

"Ach?"

"Hören Sie schon auf, Syd."

Er hob abwehrend die Hände und grinste dabei. "Wie Sie wollen, Miss Parker. Möchten Sie vielleicht darüber reden?"

Sie ließ ihren Atem geräuschvoll entweichen. "Was soll man von einem Psychiater auch anderes erwarten?" Miss Parker wurde wieder ernst. "Nein, im Ernst, Syd, ich glaube nicht, daß ich schon darüber sprechen kann. Nicht mal mit Ihnen. Aber ich würde es gern", betonte sie. "Geben Sie mir noch ein wenig Zeit." Ihre Worte wurden von einem warmen Lächeln begleitet, das Sydney völlig in seinen Bann zog.

"Wenn Sie reden möchten... Ich bin immer für Sie da."

"Es tut gut, das zu wissen." Sie warf einen Blick zurück zum Hauptgebäude des Centres. "Haben Sie heute nachmittag schon was vor?" fragte sie dann unvermittelt. Sydney hob überrascht die Brauen.

"Außer meiner Arbeit, meinen Sie?"

"Nehmen Sie sich frei. Ich muß über etwas sehr Wichtiges mit Ihnen sprechen, aber hier im Centre wäre das unklug." Miss Parker überlegte einen Augenblick, dann war sie es, die ihn mit sich zog. "Ich habe eine Idee. Statten wir Broots doch einen kleinen Besuch ab."


Broots Haus
Blue Cove, Delaware
14:51



Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits überschritten, als Broots nach Hause kam. Miss Parker saß im Garten seines Hauses, entspannt und beinahe völlig zufrieden. Eigentlich fehlte nur noch einer, um ihr Glück perfekt zu machen. Beim Gedanken an Jarod konnte sie gar nicht anders, als zu lächeln. Sie lehnte sich weit zurück, spürte die Sonne auf ihrem Gesicht, versuchte sich genau an Jarods Zärtlichkeiten zu erinnern. Die Berührung seiner sanften Hände, der liebevolle Blick seiner dunklen Augen, in denen sie sich verlieren wollte... Aus der Ferne hörte sie, wie Debbie ihren Vater begrüßte. Direkt neben ihr erklang plötzlich Sydneys Stimme.

"Und Sie wollen wirklich nicht über ihn reden?" erkundigte er sich leise. Miss Parker schloß kurz die Augen.

"Sie sind doch neugierig", stellte sie fest, noch immer lächelnd. Bevor er etwas erwidern konnte, kam Broots hinaus in den Garten.

"Hallo, Miss Parker. Hi, Syd. Danke, daß Sie Debbie von der Schule abgeholt haben."

"Oh, gern geschehen", erwiderte Sydney. Er warf Miss Parker einen fragenden Blick zu, den sie mit einem kurzen Nicken beantwortete. Es war Zeit, ihn in alles einzuweihen. Broots hatte zugestimmt, daß sie sich hier trafen - auch wenn ihn ihre Bitte offenbar einigermaßen überrascht hatte. Sie suchte seinen Blick, und einen Augenblick später reagierte er.

"Uhm, wieso gehen wir beide nicht für eine Weile ins Haus, Debbie?" wandte er sich an seine Tochter. "Ich könnte dir bei deinen Aufgaben helfen."

"Ach, Dad. Die kann ich doch heute abend noch machen", widersprach Debbie, die sich über den unerwarteten Besuch sehr zu freuen schien.

"Na komm schon, dann hast du es hinter dir", beharrte Broots und führte sie mit sich fort. Miss Parker wartete, bis die beiden außer Hörweite waren. Sydney setzte sich auf einen der Gartenstühle neben ihr und sah sie erwartungsvoll an.

"Also, Miss Parker, was ist nun so wichtig, daß Sie im Centre nicht darüber reden wollten?"

Sie erwiderte seinen Blick voller Ruhe, fragte sich aber, wo sie beginnen sollte. Und wie soll ich das alles erst Jarod erklären? schoß es ihr durch den Kopf. Mit ihm steht mir dieses Gespräch auch noch bevor.

"Wir konnten nicht im Centre darüber sprechen, weil es um das Centre geht", fing sie schließlich an. "Haben Sie sich eigentlich je gefragt, was Sie machen werden, wenn Sie das Centre verlassen?"


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
19:20



Es war noch hell, als Miss Parker langsam die Auffahrt zu ihrem Haus entlangfuhr. Von außen machte ihr Haus einen verlassenen Eindruck. Einen bangen Moment lang fragte sie sich, ob das auch für das Innere zutraf, dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Natürlich wünschte sie sich, daß Jarod bei ihr war, aber wenn er jetzt nicht da war, hatte das noch lange nichts zu bedeuten.

Sie parkte ihren Wagen, ging zur Haustür und schloß auf. Sobald sie die Tür öffnete, zerstoben all ihre Zweifel. Ein köstlicher Duft wehte ihr aus Richtung der Küche entgegen.

"Jarod?" rief sie leise, nachdem sie die Tür geschlossen hatte.

"Augenblick", erklang die gedämpfte Antwort aus der Küche. Kurz darauf kam ihr Jarod lächelnd entgegen. Miss Parker überbrückte die letzten Schritte und schloß ihn in ihre Arme. Erst jetzt, als sie ihn berührte, fühlte sie sich zu Hause.

"Du hast mir gefehlt", sagte sie sanft. Jarod schob sie ein Stück von sich weg, musterte sie eingehend, dann neigte er den Kopf, um sie zu küssen. "Ich habe dich auch vermißt", erwiderte er dann ebenso sanft. "Du warst nicht sicher, ob ich hier sein würde, habe ich recht?" erkundigte er sich dann mit einer Mischung aus Besorgnis und Verständnis. Sie seufzte.

"Ich weiß, daß es dumm ist, aber..."

"Marine." Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. "Ich war immer für dich da, und daran wird sich niemals etwas ändern. Und jetzt, wo ich endlich bei dir sein kann, werde ich dich bestimmt nicht verlassen. Dafür mußte ich viel zu lange auf dich warten."

Ein zögerliches Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.

"Ich schätze, das wußte ich bereits. Aber es tut trotzdem gut, es zu hören", erwiderte sie, und ihr Lächeln vertiefte sich. "Du hast gekocht?"

Jarod entspannte sich sichtlich, als er sah, daß sie ihm vertraute. "Ja. Ich dachte mir, daß du nach einem langen Tag im Centre vielleicht hungrig bist."

"Hungrig, hm? Ja, ich glaube, ich bin tatsächlich hungrig." Sie begegnete seinem Blick, und für einen langen Moment sahen sie einander nur an. Dann beugte sich Jarod zu ihr vor, bis seine Lippen beinahe ihr Ohr berührten. "Im Wohnzimmer", wisperte er dann. Miss Parker hob erwartungsvoll die Brauen. "Ich komme gleich nach", fügte Jarod hinzu. Sie küßte ihn auf die Wange und wollte ins Wohnzimmer gehen, aber er hielt sie fest, zog sie an sich und küßte sie. Leidenschaft mochte der Auslöser für den Kuß gewesen sein, aber jetzt spiegelte er etwas Tieferes wider, das sie beide atemlos zurückließ. In seinen Augen las sie die selben tiefen Gefühle, die auch sie bewegten. Plötzlich fiel es ihr nicht mehr schwer, seine Liebe für sie zu spüren. Sie schien sie einzuhüllen und auszufüllen, löschte alle Ängste und Zweifel aus.

Miss Parker hob die Hand und berührte Jarod zärtlich an der Wange. "Ich liebe dich", ließ sie ihn wissen und genoß seinen liebevollen Blick, der ihre Worte beantwortete. "Bis gleich." Diesmal ließ er sie gehen, sah ihr nur nach. Sie legte den kurzen Weg bis ins Wohnzimmer zurück, neugierig, was sie dort finden würde. In der Tür blieb sie überrascht stehen.

Dutzende von Kerzen erhellten das Zimmer. Im Kamin knisterte ein Feuer leise vor sich hin, und überall standen Vasen, manche mit einzelnen Rosen, andere mit ganzen Sträußen. Im Hintergrund war leise Musik zu hören.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Miss Parker langsam zum festlich gedeckten Tisch ging. Wie aus dem Nichts tauchte Jarod hinter ihr auf, zog den Stuhl für sie zurecht. Sie schüttelte den Kopf.

"Was ist los?" erkundigte sich Jarod. "Stimmt etwas nicht?"

"Oh, nein", erwiderte sie sofort. "Es ist wundervoll." Miss Parker lachte leise. "Es ist nur, daß ich mir so etwas lange Zeit nicht vorstellen konnte."

"Ich verstehe, was du meinst", sagte Jarod leise. "Mir ging es ähnlich. Das heißt aber nicht, daß ich nicht davon geträumt hätte." Sein Lächeln vertiefte sich, und seine dunklen Augen funkelten. Sie erwiderte seinen Blick, erlaubte sich für einen Moment, sich in seinen Augen zu verlieren. Es war beinahe wie früher, als sie noch Kinder gewesen waren. Damals hatte er ihr immer das Gefühl vermittelt, daß früher oder später alles in Ordnung kommen würde. Doch jetzt gab es noch mehr zwischen ihnen, etwas, das sie nicht benennen konnte, das sie mit einem verloren geglaubten Glücksgefühl erfüllte.

Jarod setzte sich ebenfalls, dann griff er nach ihrer Hand. "Ich dachte, du hast Hunger?" neckte er sie leise.

"Ja, richtig." Einen Augenblick später galt ihre volle Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart. Und Jarod, der ihr gegenüber saß, der endlich wieder in ihrer Nähe war. "Also, was gibt es?" fragte sie erwartungsvoll.

Er stand auf. "Bin sofort wieder da", versicherte er und deutete eine Verbeugung an. Als er aus der Küche zurückkam, trug er zwei Suppentassen auf einem Tablett. Eine der Tassen stellte er vor ihr ab, die andere an seinem Platz. Miss Parker warf einen neugierigen Blick in ihre Tasse. "Japanisch!" rief sie überrascht. "Laß mich raten", fuhr sie mit einem sanften Lächeln fort, "du hast eine Weile in einem japanischen Restaurant gearbeitet."

"Eigentlich", antwortete er mit einem leisen Lachen, "habe ich nur ein paar japanische Kochbücher gelesen. Aber ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, mein Wissen in die Praxis umzusetzen."

"Das kommt mir irgendwie bekannt vor", murmelte Miss Parker und warf noch einen Blick auf die Suppe, bevor sie zu Jarod aufsah. "Wenn du nur halb so gut kochst wie dein Vater, sollte das hier hervorragend schmecken", erklärte sie dann voller Wärme.

"Er hat auch für dich gekocht?" fragte Jarod erstaunt. Sein Blick verriet ihr, wie sehr er sich wünschte, mehr über seinen Vater zu erfahren.

"Allerdings", bestätigte sie. "Als ich ihn in England ausfindig gemacht hatte, hat er mich zum Abendessen eingeladen. Wir haben zusammen gegessen, und dann hat er mir von meiner Mutter erzählt."

"Wie ist er? Ich meine, was für ein Mensch ist er?" In seiner Stimme hörte sie eine Mischung aus Sehnsucht und Zögern. Er wollte mehr über seinen Vater wissen, aber er hatte auch Angst vor dem, was er erfahren könnte. Diesmal war sie es, die nach seiner Hand griff.

"Ihr seid euch sehr ähnlich", erzählte sie. "Und ich bin fest davon überzeugt, daß er meine Mutter nicht getötet hat. Er ist... großzügig und verständnisvoll, außerdem hilfsbereit. Meine Mutter hätte sich keinen besseren Freund wünschen können. Ich bin sehr froh, daß ich ihn kennengelernt habe." Ihr entging nicht, daß ihre Worte sowohl Freude als auch Traurigkeit bei Jarod auslösten. Sie drückte seine Hand. "Du fehlst ihm sehr. Er ist so stolz auf dich. Bestimmt wird er alles tun, um dich so bald wie möglich selbst zu treffen. Es gibt nichts, was er sich mehr wünscht." Jarod schloß für einen Moment die Augen, dann sah er sie wieder an. Langsam hob er ihre Finger an seine Lippen und küßte sie.

"Danke", wisperte er. Miss Parker schüttelte leicht ihren Kopf.

"Wofür denn? Wir haben schließlich eine Abmachung, was Informationen über unsere Eltern angeht", erinnerte sie ihn mit einem sanften Lächeln. "Und jetzt möchte ich endlich meine Suppe probieren, bevor ich hier verhungere." Er lachte, doch in seinem Blick lag noch immer tiefe Dankbarkeit, außerdem eine intensive Wärme, die beinahe fühlbar für sie war. "Guten Appetit", wünschte er ihr. "Laß es dir schmecken."

"Gleichfalls", erwiderte sie, bevor sie die Suppe probierte. Der Geschmack erinnerte sie an ihren letzten Besuch in Japan - sie konnte keinen Unterschied zum 'echten' japanischen Aroma feststellen. "Mhmm", machte sie anerkennend. "Wie machst du das bloß? Ich wette, du könntest sogar einen alten japanischen Küchenmeister beschämen."

"So etwas würde ich nie tun", wehrte er ab.

"Nein, wenigstens nicht mit Absicht", erwiderte sie, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken. Es fiel ihr schwer, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal in Gesellschaft so entspannt gewesen war. Angelo hatte recht gehabt. Jarod tat ihr wirklich gut.

Plötzlich fiel ihr etwas ein.

"Sag mal, diese Kochbücher, von denen du gesprochen hast... Eins davon hast du nicht zufällig in meiner Küche gefunden?"

"Doch, warum?"

"Oh, bitte sag mir, daß du die Sushi-Rezepte ausprobiert hast", bat sie ihn. Während ihrer Besuche in Japan hatte sie eine Vorliebe für einige japanische Gerichte entwickelt, aber bisher hatte sie hier niemanden gefunden, der auch nur in die Nähe guter japanischer Kochkunst kam. Jarods Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln.

"Du hast Glück. Ich wußte gar nicht, daß du rohen Fisch magst."

"Er ist köstlich", versicherte sie ihm. "Das Problem ist nur, daß es außerhalb von Japan schwer ist, gutes Sushi zu bekommen."

Etwas später lehnte sich Miss Parker zufrieden zurück. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie Jarod dabei zusah, wie er sich mit einigen japanischen Spezialitäten vertraut machte. Es dauerte nicht lange, bis er zu ihr aufsah.

"Amüsierst du dich?" erkundigte er sich, ein belustigtes Funkeln in den Augen.

"Mhm. Sehr sogar", gab sie zurück. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, und die blasse Sichel des Mondes schob sich langsam über den Horizont. Jarod erhob sich.

"Gut", erwiderte er in einem Tonfall, der ihre Aufmerksamkeit erregte. "Dann wird dir das Dessert bestimmt auch gefallen." Miss Parker musterte ihn erwartungsvoll.

"Hast du etwas Bestimmtes geplant?" erkundigte sie sich möglichst beiläufig.

"Mhm", murmelte er, die Stimme dunkel und weich wie Samt. Er trat von hinten an sie heran, legte die Arme um sie und küßte sie auf den Nacken. Sie lehnte sich ganz leicht gegen ihn. Seine Hände glitten zu ihren Schultern, übten sanften Druck aus, dann zog er sich etwas zurück. "Bin sofort wieder da", wisperte er in ihr Ohr. Sie sah ihm ein wenig erstaunt nach.

"Jarod!"

Er drehte sich halb zu ihr um. "Vertrau mir."

Miss Parker verspürte eine seltsam prickelnde Mischung aus Verwunderung und Erwartung. Typisch Jarod. Es gelang ihm ohne Mühe, eigentlich Belangloses in eine aufregende Erfahrung zu verwandeln. Als wäre er selbst nicht schon aufregend genug... Sie grinste über sich selbst. Langsam fing sie wirklich an, sich wieder wie ein Teenager zu fühlen. Aber es machte ihr Spaß, also warum nicht?

Als Jarod diesmal ins Wohnzimmer zurückkehrte, trug er einen einzelnen Teller. Miss Parker konnte nicht erkennen, was sich darauf befand; sie mußte sich gedulden, bis er den Teller vor ihr abstellte. Gespannt betrachtete sie den Nachttisch. Soweit sie das feststellen konnte, handelte es sich um irgend etwas, das in Teig gebacken worden war.

"Was ist das?" fragte sie nach einem Blick in Jarods erwartungsvolle Miene. Er trat wieder hinter sie und griff an ihr vorbei nach einem der Teiggebilde.

"Das sind in Teig gebackene Rosenblüten", verriet er ihr leise. Sein Tonfall sorgte dafür, daß sich die Wärme in ihrem Inneren in Hitze verwandelte.

"Rosenblüten?" wiederholte sie und sah dabei wie hypnotisiert auf seine Hand.

"Mhm", bestätigte er. "Weißt du, was man darüber sagt?"

"Nein, was?" Etwas in seiner Stimme faszinierte sie zutiefst. Die Hitze verwandelte sich langsam in ein alles verzehrendes Feuer.

"Es heißt", sagte er, die Lippen wieder ganz nah an ihrem Ohr, "es heißt, daß sie eine stimulierende Wirkung haben."

"Ach ja?" Ihre Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln. "Ich finde, daß wir diese Behauptung unbedingt überprüfen sollten, was meinst du?"

"Das liegt ganz in meinem Sinn", erwiderte er. Seine Stimme hatte einen rauhen Klang gewonnen. Er ging neben ihr in die Hocke, die Rosenblüte noch immer in der Hand. "Hungrig?"

"Sehr." Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

"Hier." Er bot ihr die Blüte an, und sie biß vorsichtig ab. Ein interessanter Geschmack entfaltete sich in ihrem Mund, aber im Moment war das völlig nebensächlich für sie. Ohne den Blickkontakt zu Jarod auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen, griff sie ebenfalls nach einer Blüte und hielt sie ihm hin. Jarod nahm einen Bissen, und ein sinnliches Lächeln umspielte seine Lippen.

"Ich glaube..." Er sah tief in ihre Augen und brach ab, um kurz darauf von neuem zu beginnen. "Ich glaube, die Behauptung ist richtig." Miss Parker lachte leise. "Durchaus möglich", räumte sie ein, während sie ihn langsam zu sich heranzog, um ihn zu küssen. Ihre Sinne schienen zu explodieren, als seine Lippen sich auf ihre preßten. Sie verlor sich in seiner Nähe, genoß die Zärtlichkeit seiner Berührung, spürte das Verlangen in seinen Küssen, ebenso stark wie ihr eigenes. Die Welt um sie herum schrumpfte, bis sie nur noch Jarod und sie selbst enthielt.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
7:11



Das Haus war völlig still, aber trotzdem machte es keinen einsamen Eindruck auf Miss Parker. Sie stand in der Küche, eine Tasse Kaffee in der Hand, und dachte über Jarod nach. Als sie aufgestanden war, hatte er noch tief und fest geschlafen, also hatte sie beschlossen, ihn nicht zu wecken. Es war erst die zweite Nacht, die er hier verbracht hatte, und doch fühlte es sich so an, als hätten sie bereits ein ganzes Leben miteinander geteilt. Miss Parker lächelte. In gewissem Sinne hatten sie das ja sogar.

Aber je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihr, daß es einige Dinge gab, über die sie unbedingt reden mußten. Ihr Blick glitt zum Fenster. Es sah nicht danach aus, als ob heute ein schöner Tag werden würde. Nicht die Art von Tag, um sich frei zu nehmen. Doch dann fiel ihr ein Ort ein, der erst bei diesem Wetter richtig zur Geltung kam. In ihre Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie Jarod die Küche betrat. Leise trat er an sie heran und schloß sie von hinten in die Arme.

"Jarod!"

"Guten Morgen. Entschuldige, habe ich dich erschreckt?"

Miss Parker stellte ihre Kaffeetasse ab, dann drehte sie sich in Jarods Armen, um ihn anzusehen. "Laß es mich so ausdrücken: Hätte ich mich nicht so gut unter Kontrolle, dann hättest du nähere Bekanntschaft mit meinem heißen Kaffee gemacht", sagte sie mit einem belustigten Lächeln. Jarod hob eine Braue.

"Autsch", war sein einziger Kommentar, bevor er sie leicht auf die Lippen küßte. Dann küßte er sie noch einmal, und diesmal nutzte sie die Gelegenheit, um den Kuß zu erwidern.

"Hast du gut geschlafen?" erkundigte sie sich leise und lehnte sich leicht zurück.

"Mhm", machte er, "wenn auch nicht sehr viel." Seine letzten Worte wurden von einem vielsagenden Lächeln begleitet. Sie lachte leise, während sie die Hände in seinem Nacken verschränkte.

"Ich hoffe, du bist nicht zu müde für einen kleinen Ausflug?"

"Ausflug?" Er sah sie interessiert an. Miss Parker nickte.

"Weißt du, ich habe viel über uns nachgedacht, und es gibt einiges, über das ich mit dir sprechen möchte. Es gibt da einen ganz speziellen Ort, den ich dir gerne zeigen würde. Außerdem", fügte sie hinzu, "habe ich heute absolut keine Lust zu arbeiten."

Jarod zog sie noch näher an sich. "Gib mir fünf Minuten, dann können wir aufbrechen."


Catherine's Bay
Delaware
8:03



Hellgraue Wolken zogen über den Himmel. Der Wind peitschte das Wasser auf, ließ kräftige Wellen an den Strand schlagen. Jarod sah sich begeistert um. Die kleine Bucht, zu der Marine ihn mitgenommen hatte, war einfach wundervoll. Das schlechte Wetter nahm ihr nichts von ihrer Schönheit, sondern schien sie sogar noch zu unterstreichen.

"Es ist wunderschön hier", sagte er zu Marine, die neben ihm stand, den Blick unverwandt auf die offene See gerichtet. Als er sie ansprach, wandte sie sich ihm zu. In ihren Augen lag ein leicht trauriger Ausdruck, der aber schnell wieder verflog.

"Die Bucht gehörte meiner Mutter", erklärte sie ihm mit einem zögernden Lächeln. "Sie liebte diesen Ort sehr. Als ich noch sehr klein war, nahm sie mich mit hierher und erzählte mir, daß außer ihr und mir niemand diesen Ort kannte. Er gehörte nur uns. Seit ihrem Tod war ich nur wenige Male hier - immer allein."

Jarod legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er konnte gut verstehen, was ihr dieser Ort bedeutete.

"Glaubst du, daß dein Vater hiervon weiß?" fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf.

"Ich glaube nicht. Das hier war ganz allein ihr Ort, ihre Zuflucht. Abgesehen von Maine dürfte es ihr liebster Platz gewesen sein."

Marine lehnte sich an ihn. Ihr Vertrauen und ihre Nähe erfüllten ihn mit einer einzigartigen Wärme. Ebenso wie sie hatte auch er über ihre Beziehung nachgedacht. Es gab wirklich viel, über das sie reden mußten. Doch im Moment hatte er das Gefühl, daß es etwas ganz Bestimmtes gab, das sie belastete.

"Komm." Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich, bis sie einige Felsen erreichten, die dicht am Wasser standen. Die Flut kam bis auf etwa einen Meter an die Felsen heran, so daß sie einen trockenen Aussichtspunkt boten. Jarod setzte sich auf einen der großen Steine, und Marine ließ sich direkt vor ihm nieder. Er schloß sie in die Arme, legte sein Kinn ganz leicht auf ihre Schulter. Marine seufzte leise.

"Früher habe ich stundenlang hier gesessen und das Meer beobachtet. Sogar wenn es stürmisch war, hat mich der Anblick immer beruhigt. Wenn ich die Augen schließe, kann ich beinahe Mom vor mir sehen, wie sie am Wasser steht und die Möwen beobachtet."

"Ich bin sehr froh, daß du mir diesen Ort gezeigt hast, Marine", wisperte Jarod in Ohr. "Wenn du willst, können wir den ganzen Tag einfach nur hier sitzen."

Sie lehnte sich stärker gegen ihn, legte ihr Hände auf seine.

"Das würde ich wirklich gerne", erwiderte sie sanft, dann drehte sie sich halb um, um ihn anzusehen. "In meinem Leben hat sich einiges verändert, besonders in letzter Zeit. Du bist natürlich ein wichtiger Teil dieser Veränderungen", sagte sie mit einem liebevollen Lächeln. Jarod erwiderte ihren Blick und wartete. Er ahnte, daß sie ihm etwas Wichtiges sagen wollte.

"Ich habe lange überlegt, wie ich dir alles erklären soll und wo ich am besten anfange", fuhr sie fort. "Hat Sydney dir von Ruth Stiller erzählt?"

Nach kurzem Überlegen schüttelte Jarod den Kopf. Der Name sagte ihm nichts. "Nein. Wer ist sie?"

"War", korrigierte sie ihn. "Sie ist schon lange tot." Marine zögerte kurz. "Bevor ich nach England aufgebrochen bin, ist etwas passiert. Die Dinge im Centre sind nicht besonders gut gelaufen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich etwas unternehmen sollte. Also habe ich Sydney gebeten, mir zu helfen. Ich wollte... eine Simulation machen." Sie schwieg, und Jarod sah sie überrascht an. Wieso hatte Sydney ihm nichts davon erzählt?

"Und dabei ging es um Ruth Stiller?" vermutete er.

"Ja."

"Hat es funktioniert? Ich meine, bist du..." Er vollendete den Satz nicht, sondern sah sie forschend an. Es fiel ihr offensichtlich nicht leicht, darüber zu reden, deshalb versuchte er, sie so gut er konnte zu unterstützen.

"Ich konnte ihre Erinnerungen sehen", erzählte sie. Ihr Blick reichte für einen Moment ins Leere, bevor sie ihn wieder ansah. Ein ganz leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. "Ich bin nicht wie du oder Angelo, aber auf meine Weise bin ich auch in der Lage, mich in andere Personen zu versetzen."

"Du bist ein Pretender", sagte Jarod staunend. Er mußte an all die Möglichkeiten denken, die sich dadurch eröffneten - für Marine, für sie beide. "Wenn du das früher herausgefunden hättest, wärst du in der Lage gewesen, mich zu fangen", fügte er nachdenklich hinzu. Marine schüttelte nachdrücklich den Kopf.

"Nein. Dann hätte ich das Centre mit Sicherheit verlassen. Oder ich wäre in Raines Horrorkabinett geendet."

Jarod strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. "Das hätte ich nie zugelassen", versicherte er ihr. "Wie kommst du damit zurecht?"

Sie seufzte noch einmal. "Ich gewöhne mich langsam daran. Aber..." Mitten im Satz hörte sie auf, sah zu Boden.

"Aber was?" hakte er sanft nach. Marine sah ihn wieder an. In ihrem Blick lag eine Verletzlichkeit, die ihn an das kleinen Mädchen erinnerte, das er vor so vielen Jahren in sein Herz geschlossen hatte.

"Aber ich habe dadurch Dinge erfahren, die ich lieber nicht gewußt hätte. In England bin ich durch Zufall auf eine junge Frau gestoßen, Luca Capristi. Durch mein Talent habe ich herausgefunden, daß Lyle ihr Schlimmes angetan hat. Ich habe Luca mit in die USA genommen, damit Syd sich um sie kümmern konnte."

Jarod nickte. Er erinnerte sich an die junge Frau, die er zusammen mit Sydney in Marines Haus gesehen hatte, kurz nach ihrer Rückkehr aus England. Das mußte Luca gewesen sein. Plötzlich spürte er, wie Marine zitterte. Besorgnis regte sich in ihm.

"Marine?"

"In Lucas Erinnerung habe ich etwas gesehen. Etwas, das von Lyle stammte", berichtete sie stockend. Auch ihre Stimme zitterte leicht. "Ich konnte nicht einmal mit Syd darüber reden."

"Du mußt nicht darüber sprechen, wenn es dich so sehr quält", sagte Jarod und zog sie näher an sich. Er spürte ihren Seufzer mehr, als daß er ihn hörte.

"Ich muß endlich mit jemandem darüber reden, Jarod. Und du bist der einzige, dem ich genug vertraue."

Sie schloß die Augen. Jarod hielt sie einfach fest, wünschte sich, ihren Schmerz zu lindern. "Ich liebe dich, Marine." Er küßte sie auf die Stirn. "Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dich besser zu fühlen, sag es mir einfach, und ich werde es tun."

Marine setzte sich auf, sah ihn lange an. Sanft nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn ganz leicht auf die Lippen. "Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finden kann, um alles zu erklären. Es ist so kompliziert. Ich möchte einfach, daß du weißt, was ich empfinde."

"Das klingt beinahe wie eine Einladung in deinen Kopf", sagte er scherzhaft, aber sie blieb ernst.

"Es ist eine", stellte sie ruhig fest. "Es gibt Dinge, die ich niemals aussprechen würde, aber ich kann sie dir zeigen."

Jarod zögerte. Sie glaubte, daß sie sich besser fühlen würde, wenn er in sie hineinsah, und er war mehr als bereit, ihr zu helfen. Aber er hatte auch Angst. Angst davor, sie zu verletzen. Marine schien seine Zweifel zu erahnen.

"Es ist in Ordnung, Jarod. Ich vertraue dir. Aber wenn du es nicht tun willst, werde ich versuchen, es auf die herkömmliche Weise zu erklären."

"Ich möchte, daß du mir sofort sagst, wenn du dich dabei unwohl fühlst", sagte er entschlossen.

"Ist gut."

Sie lehnte sich wieder an ihn. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, und er spürte, wie sie sich entspannte. Jarod begann, sich auf Marine zu konzentrieren. Er hatte sich früher schon in sie hineinversetzt, meistens, um ihre Beziehung zu ihrer Mutter besser verstehen zu können. Jetzt fiel es ihm noch leichter, einen Zugang zu ihr zu finden.

Seine eigenen Gedanken und Emotionen rückten in den Hintergrund, als er sich völlig auf Marine einließ, zu ihr wurde. Zuerst begann er, die Ausmaße ihres neuen Talentes zu erfassen, bis er verstand, wozu sie jetzt in der Lage war. Er durchlebte einzelne Momente ihrer Zeit in England, sah seinen Vater durch ihre Augen. Dann die Begegnung mit Luca, und als nächstes... Lyle. Er sollte nicht hier sein. Seine Empfindungen waren stark, beunruhigend, beängstigend. Sie waren falsch.

Marine wünschte verzweifelt, sie könnte diese Erinnerungen verbannen, aber es war unmöglich. Sie waren jetzt ein Teil von ihr - Lyle war auf diese Weise ein Teil von ihr. Die Erinnerung an ihre Erfahrung war noch immer sehr belastend, aber das Wissen, daß Jarod nun davon wußte, tröstete sie. Er war für sie da, und ihre Liebe zu ihm half ihr, alles durchzustehen.

Ihre Gedanken wanderten weiter. Das Centre rückte ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Sie dachte an ihren Plan und ihre feste Überzeugung, daß er gelingen würde. Wenn das Centre nicht mehr existierte, war sie frei, ebenso wie Jarod. Dann mußte sie sich nie wieder Sorgen um Lyle machen.

Ein ungutes Gefühl durchzuckte sie, als sie wieder an ihren Bruder dachte. Sein krankes Verlangen quälte sie. Hatte sie ihn irgendwie ermutigt? Gott, Lucas Erinnerungen waren so real gewesen. Fast so, als sei sie diejenige gewesen, die Lyle...

"Marine, nicht!"

Jarod riß die Augen auf. Er schloß sie fest in seine Arme und redete leise auf sie ein.

"Du darfst niemals, niemals denken, daß Lyles Verhalten deine Schuld ist. Er ist krank. Du hast ihn nicht ermutigt. Gott, es tut mir so leid. Ich weiß, wie schlimm das für dich gewesen ist. Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Aber das geht nicht. Doch ich bin jetzt für dich da. Mach dir bitte keine Selbstvorwürfe. Nichts von allem, was passiert ist, war deine Schuld. Das mußt du mir glauben."

Im Moment zählte für ihn nur, sie zu beruhigen. Seinen Zorn auf Lyle schob er fort. Damit würde er sich später befassen. Er spürte, wie Marine den Kopf hob. Sie sah blaß aus, wirkte aber gefaßt. Besorgt musterte er sie.

"Jarod, ich..." Es dauerte einen Moment, bis sie weitersprach. "Auf einer rationalen Ebene weiß ich, daß du recht hast, aber... Es fühlt sich einfach nicht danach an. Jedenfalls bin ich froh, daß du jetzt Bescheid weißt."

"Du kannst mir alles sagen, ganz besonders, wenn du dich dadurch besser fühlst. Ich werde dir immer zuhören."

Marine lächelte ganz leicht.

"Danke, Jarod", sagte sie ernst, während sie sanft seine Wange berührte. Er nahm ihre Hand und küßte ihre Finger, einen nach dem anderen.

"Ich liebe dich, Marine."

Eine ganze Weile saßen sie schweigend da, völlig versunken in die Nähe des anderen. Marines Blick ging aufs Meer hinaus, während Jarod sie betrachtete und versuchte, sich jedes Detail ihrer Schönheit einzuprägen. Erst nach einer ganzen Zeit wandte sie sich wieder zu ihm um. Diesmal haftete ihrem Lächeln nicht die geringste Traurigkeit an.

"Und, was hältst du von dem Gedanken, das Centre aus dem Verkehr zu ziehen?" erkundigte sie sich neugierig. Jarod blinzelte und löste seine Aufmerksamkeit von ihrem faszinierenden Profil.

"Ehrlich gesagt, habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht", gestand er. "Ich bin sehr stolz auf dich", fügte er dann hinzu. Sie sah ihn verständnislos an. Er lächelte zärtlich. "Die Art, wie du dich deinen Dämonen stellst, ist bewundernswert. Jemand anders wäre vermutlich davongelaufen. Aber du versuchst, damit fertig zu werden. Ich finde das bemerkenswert", erklärte er sanft.

"Ohne dich würde ich das nicht schaffen, Jarod. Der Gedanke an dich hilft mir, alles durchzustehen." Sie drückte ihn an sich. "Ich liebe dich", murmelte sie an seiner Brust.

Jarod wünschte sich, er könnte diesen Moment für immer festhalten. Hier war alles so einfach. Es gab nur sie beide und nichts, das zwischen ihnen stand. Sie waren beide glücklich.

"Ich wünschte, wir könnten ewig so sitzen", seufzte Marine und sah auf, als Jarod leise lachte.

"Genau dasselbe habe ich auch gerade gedacht", erklärte er grinsend.

"Dann laß uns einfach hierbleiben. Zumindest für eine Weile." Sie drehte sich ganz um, bis sie ihm gegenüber saß. "Glaubst du, daß es funktionieren wird? Das Centre unschädlich zu machen, meine ich."

Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht, aber ich möchte es gerne glauben. Für uns, und für alle anderen, denen das Centre geschadet hat. He, wieso läßt du mich nicht helfen? Ich bin sicher, ich könnte einen nützlichen Beitrag leisten."

Der Gedanke, etwas gegen das Centre zu unternehmen, war mehr als aufregend. In Gedanken simulierte er bereits verschiedene Ausgangsmöglichkeiten für Marines Plan, und das Ergebnis sah ziemlich vielversprechend aus. "Es könnte klappen", sagte er nachdenklich. "Ja, das könnte es wirklich."

Marine betrachtete ihn mit einem amüsierten Lächeln. "Ich bin sicher, daß es an meinem Plan noch das eine oder andere zu verbessern gibt", meinte sie, "und ich wäre sehr dankbar für deine Hilfe. Broots hätte gegen deine Unterstützung garantiert auch nichts einzuwenden." Sie schlang die Arme um seinen Hals. "Aber das hat auch noch bis morgen Zeit."

Jarod erwiderte ihr Lächeln. "Ja, das hat es", bestätigte er leise. Er zog sie näher an sich, und ließ das Centre für den Augenblick das Centre sein.


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
2:22



Die Nacht war mondlos. Dicke Wolken verdeckten den Himmel, und nur hin und wieder war ein einzelner Stern zwischen den Wolkenlücken zu entdecken. Jarod lag wach, betrachtete Marine beim Schlafen. Er dachte über das nach, was er in der Bucht erfahren hatte. Lyle. Das Centre.

Er nahm sich vor, persönlich dafür zu sorgen, daß Lyle bis an sein Lebensende hinter Gittern saß. Nicht nur, daß Lyle für den Tod von Kyle verantwortlich war, er quälte auch noch Marine. Aber wenn das Centre erst einmal unschädlich gemacht worden war, würde Lyle für alles bezahlen.

Jarod zwang seine Gedanken in eine angenehmere Richtung. Zärtlich berührte er Marines Gesicht. Sie bedeutete ihm so viel. Ohne sie konnte er sich sein Leben nicht mehr vorstellen. Noch vor wenigen Wochen hätte er es nie für möglich gehalten, daß er ihr so schnell wieder so nahe kommen würde. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden so sehr geliebt wie sie.

Er erinnerte sich an die vielen Male, als sie ihn im Centre besucht hatte, damals, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Sie war für lange Zeit sein einziger Lichtblick gewesen. Und noch heute war sie der einzige Mensch, der ihn wirklich verstand.

"Jarod?"

Ihre verschlafene Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.

"Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken", sagte er leise. In ihren Augen sah er eine Mischung aus Verständnis und Mitgefühl.

"Du grübelst schon wieder, Jarod", erwiderte sie. "Das hast du schon gemacht, als wir beide noch Kinder waren. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck genau." Sie setzte sich auf und betrachtete ihn mit einem wissenden Blick. "Heute, in der Bucht, hast du mir sehr geholfen. Vielleicht kann ich dir jetzt ein bißchen davon zurückgeben."

Mit ihren Fingerspitzen strich sie zärtlich über seine Stirn, dann weiter durch sein Haar. "Du hast mir so oft gesagt, daß du nicht weißt, wer du bist. Mir ging es ganz ähnlich, also habe ich viel darüber nachgedacht, was einen Menschen eigentlich ausmacht." Jarod sah sie fasziniert an. Ihr Blick schien bis in die Tiefen seiner Seele zu reichen.

"Du hoffst, daß du mehr über dich selbst herausfindest, wenn du deine Eltern findest. Das mag durchaus sein - aber wichtig ist vor allem, wer dich großgezogen hat. Sieh mich an. Ich möchte gerne glauben, daß ich so wie meine Mutter bin, aber ich kann mich nicht einmal richtig an sie erinnern. Was meinen Vater angeht... Vielleicht ist Ben mein leiblicher Vater, aber das bedeutet nicht, daß ich ihm in irgendeiner Weise ähnlich sein muß. Der Mann, den ich immer als meinen Vater gekannt habe, ist mir bei weitem nicht so ähnlich, wie ich gedacht habe. Wenn man die Sache aus dem richtigen Abstand betrachtet, dann ist Sydney mir immer von allen Menschen am meisten ein Vater gewesen." Sie lächelte voller Wärme, als sie Jarods Mentor erwähnte, und er wartete gespannt, was sie noch zu sagen hatte.

"All diese Beziehungen machen mich aus, aber sie sind nicht das, was ich bin", fuhr sie fort. "Sie sind nur ein kleiner Teil von mir. Für dich ist es natürlich schwieriger. Durch die vielen Simulationen hattest du nie eine Chance, eine Beziehung zu dir selbst zu entwickeln. Du weißt nicht, wo du herkommst. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Es spielt keine Rolle, wie wenig du über deine Vergangenheit weißt. Du bist Jarod, der ehrlichste, liebevollste und großzügigste Mann, den ich kenne. Wenn du auf dein Leben zurückblickst, dann wirst du bestimmte Konstanten entdecken, die immer da waren, die dich ausmachen. Sydney ist eine davon. Die Namen deiner Eltern sind für deine Identität nicht wichtig, nicht einmal dein eigener Name. Du weißt, wer du bist, Jarod. Vertrau mir. Denn wenn du es nicht wüßtest, dann könnte ich es auch nicht wissen. Und wenn du jetzt noch Zweifel hast: Du bist der Mann, den ich liebe, mehr als alles andere auf der Welt."

"Marine...", wisperte er bewegt. Manchmal verstand sie ihn besser als er selbst - so wie jetzt. Bisher hatte er das Problem seiner Identität noch nie auf diese Weise betrachtet. Er erinnerte sich an das quälende Gefühl, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet hatte - nicht zu wissen, wer er eigentlich war. Es stimmte, Sydney hatte ihn großgezogen, und in gewissen Dingen war er ihm ähnlich. Aber es gab vieles, das einzigartig für ihn war, das nicht von anderen, sondern aus ihm selbst kam. In den letzten drei Jahren hatte er begonnen, sich selbst besser kennenzulernen. Ihm wurde klar, daß Marine tatsächlich recht hatte. Tief drinnen wußte er, wer er war.

Jarod schüttelte staunend den Kopf. Voller Wärme betrachtete er die Frau, die er liebte, mit der ihn mehr verband, als er jemals ausdrücken konnte.

"Ich habe keine Ahnung, wie du das machst", sagte er bewundernd, "aber du findest immer die richtigen Worte, um mich aufzumuntern."

Sie lächelte zärtlich, dann drückte sie ihn sanft nach hinten in sein Kissen. "Schlaf jetzt, Jarod", sagte sie leise. "Und hör auf zu grübeln."

Er grinste breit, als sie ihn schon wieder durchschaute. "Jawohl, Ma'am", erwiderte er mit einem leisen Lachen. Dann zog er sie an sich, schloß sie in seine Arme. "Ich liebe dich, Marine", sagte er ernst.

"Mhm, und ich liebe dich." Ihre Stimme klang bereits wieder schläfrig. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Wenn es nach ihm ginge, dann würden sie von nun an jede Nacht so verbringen. Nun, vielleicht nicht ganz so, dachte er, lächelte bei diesem Gedanken, und schlief dann ein.


Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
7:29



In den Korridoren des Centres herrschte bereits hektische Betriebsamkeit, als Miss Parker die Eingangshalle betrat. Niemand schenkte ihr große Beachtung, so daß sie ungestört den Technikraum erreichte. Broots war noch nicht da, aber Angelo saß vor einem der Computer und schien ganz versunken in seine Arbeit zu sein.

"Guten Morgen, Angelo", begrüßte ihn Miss Parker voller Wärme. "Warst du etwa die ganze Nacht hier oben?"

Erst jetzt drehte er sich zu ihr um.

"Angelo hat viel zu tun", erklärte er ernst, dann blitzte kurz sein scheues Lächeln auf. Sie ging zu ihm und strich ihm liebevoll über den Kopf.

"Du solltest eine Pause machen", schlug sie ihm vor. Angelo sah sie mit großen Augen an.

"Miss Parker ist sehr glücklich", sagte er. In seiner Stimme schwang ein zufriedener Tonfall mit. Miss Parker lächelte.

"Ja, das bin ich. Aber", fügte sie hinzu, "das ist ein Geheimnis. Niemand darf das wissen."

Angelo nickte. "Jarod ist ein Geheimnis. Miss Parkers Geheimnis."

"Jetzt ist er unser Geheimnis, Angelo", erwiderte sie sanft. Über seine Schulter warf sie einen Blick auf den Bildschirm, vor dem er saß. Offenbar beschäftigte er sich mit den Personaldateien. Gerade, als sie ihn fragen wollte, wie weit er schon gekommen war, hörte sie Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf Broots, der eben zur Tür hereinkam.

"Guten Morgen, Miss Parker. Hallo, Angelo."

"Broots, guten Morgen."

Sie musterte ihn. Er wirkte verschlafen, aber nicht ganz so nervös, wie sie erwartet hatte. "Haben Sie gut geschlafen?" erkundigte sie sich. Broots blinzelte überrascht, bevor er antwortete.

"Ähm, ja, nur nicht sehr viel. Es ist gestern abend ziemlich spät geworden."

Er ging an ihr vorbei und setzte sich neben Angelo.

"Wie weit sind Sie gekommen?" wollte Miss Parker wissen.

"Nun, wir stehen natürlich noch ganz am Anfang, aber wir haben schon einige Fortschritte gemacht", erklärte Broots in dem professionellen Tonfall, den er immer anschlug, wenn er über sein Fachgebiet sprach. "Das meiste liegt noch vor uns."

"Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?"

Broots schüttelte den Kopf. "Nein. Das Programm, das Sie mir gegeben haben, arbeitet äußerst zuverlässig und hinterläßt so gut wie keine Spuren. So lange niemand weiß, wonach er suchen muß, sind wir sicher."

Miss Parker nickte zufrieden. "Bevor ich es vergesse... Es hat sich ein Freiwilliger gemeldet, der uns helfen möchte."

"Gegen zusätzliche Hilfe habe ich bestimmt nichts einzuwenden", versicherte Broots mit Nachdruck. "Wer ist es?"

"Jarod", sagte sie und lächelte amüsiert, als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck sah. Sie zuckte mit den Schultern. "Er hat noch die eine oder andere Rechnung mit dem Centre zu begleichen."

"Aber... Wir haben die ganze Zeit versucht, ihn zurückzubringen!"

Miss Parker legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Diese Zeiten sind endgültig vorbei, Broots. Finden Sie sich damit ab. Außerdem hätte es jetzt kaum noch Sinn, ihn zu fangen, oder?"

Sie bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln, dann ging sie zur Tür. Auf halbem Weg blieb sie noch einmal stehen. "Wenn Sie irgend etwas brauchen, lassen Sie es mich einfach wissen", sagte sie, dann verließ sie den Technikraum. Nur noch ein paar Wochen, und alles würde vorbei sein.


Fünf Wochen später
Praxis von Dr. Simmerson
Blue Cove, Delaware
08:49



Die Wände des Untersuchungszimmers strahlten in einem hellen Blau, das wohl beruhigend wirken sollte. Miss Parker fühlte sich alles andere als ruhig. Eine unerklärliche Unruhe hatte sie erfaßt, und irgendwo in ihr keimte eine bestimmte Ahnung. Sie weigerte sich, zu diesem Zeitpunkt auch nur darüber nachzudenken.

Dr. Simmerson war jetzt schon fast zehn Minuten fort. Ihre Unruhe wuchs. Seit beinahe drei Wochen fühlte sie sich... unwohl. Dafür gab es natürlich jede Menge Erklärungsmöglichkeiten. Und es wäre nicht das erste Mal, das ihre Periode überfällig war...

Die Tür ging auf, und Dr. Simmerson kehrte zurück. Er war ein älterer Mann, der eine beruhigende Mischung aus Fürsorge und Freundlichkeit ausstrahlte. Sein gutmütiges Gesicht wirkte für gewöhnlich sehr offen, aber im Moment fiel es Miss Parker schwer, den Ausdruck darauf zu deuten. Dr. Simmerson ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich dahinter und schlug die Akte mit Miss Parkers Untersuchungsergebnissen auf. Miss Parker sah ihn besorgt an. Normalerweise gab er sich nicht so geheimnisvoll.

Schließlich sah er auf. Seine braunen Augen leuchteten freundlich, als er ihr endlich das Ergebnis der Untersuchung mitteilte.

"Herzlichen Glückwunsch, Miss Parker", verkündete er strahlend. "Sie sind schwanger."

Sie ließ ihren Atem entweichen. Ihr war überhaupt nicht bewußt gewesen, daß sie ihn angehalten hatte. Schwanger.

"Schwanger?" wiederholte sie laut.

"Ja. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Sie sind in der fünften Woche."

Miss Parker starrte ihn ungläubig an. Es war keineswegs so, daß sie es nicht schon selbst vermutet hatte, aber die Gewißheit war etwas ganz anderes. Sie erwartete ein Kind. Ihr Kind. Jarods Kind. Als sie nichts sagte, fuhr Dr. Simmerson fort. "Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber bisher sieht alles hervorragend aus."

Erst jetzt nahm sie ihn wieder bewußt wahr.

"Ist das Kind gesund?" erkundigte sie sich.

"Ja, das ist es", versicherte ihr der Arzt lächelnd. Als er ihr Zögern bemerkte, wurde er ernst und beugte sich ein wenig nach vorn. "Eine solche Nachricht ist für viele meiner Patientinnen ein ziemlicher Schock. Sie wissen natürlich, daß es jetzt verschiedene Möglichkeiten für Sie gibt..."

Sie sah ihn überrascht an.

"Dieses Kind ist nicht unerwünscht", erklärte sie mit Nachdruck. "Es ist nur unerwartet, das ist alles." Ihr Blick glitt zu ihrem flachen Bauch, der noch keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft aufwies. Vorsichtig legte sie eine Hand darüber. Schwanger. Miss Parker versuchte, sich Jarods Reaktion vorzustellen. Ein Kind bedeutete eine so große Verantwortung, und bisher hatten sie nicht einmal über die Möglichkeit gesprochen. Vielleicht wollte er gar keine Kinder...

"Möchten Sie das Geschlecht wissen?" unterbrach Dr. Simmerson ihren Gedankengang.

"Ist das jetzt schon möglich?" fragte sie erstaunt. Dr. Simmersons Lächeln kehrte zurück.

"Nun, nicht sofort, aber wenn Sie es möchten, kann ich es Ihnen in ein paar Tagen sagen."

Miss Parker nickte geistesabwesend. "Ja, gut."

Ein völlig neues Gefühl breitete sich in ihr aus. Ihre Gedanken galten ganz allein dem neuen Leben, von dem sie jetzt wußte, daß es in ihr heranwuchs. Ein Kind. Liebe zu ihrem Kind durchströmte sie, erfüllte sie mit Glück und Freude. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihres Arztes.

"Danke, Dr. Simmerson. Vielen Dank."

"Aber wofür denn, Miss Parker?" entgegnete er warm. "Lassen Sie uns gleich einen Termin für nächste Woche vereinbaren."

"In Ordnung."

Miss Parker stand auf. Dr. Simmerson erhob sich ebenfalls.

"Passen Sie gut auf sich auf, Miss Parker", sagte er zum Abschied.

"Das werde ich", erwiderte sie. Ich werde immer auf dich aufpassen, versprach sie ihrem ungeborenen Kind.



Auf dem Nachhauseweg kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um Jarod. Unsicherheit erfüllte sie. Wie würde er reagieren? Sie wußte, daß er sie liebte. Aber bisher hatten sie eine Beziehung ohne jede Verpflichtung geführt. Natürlich hatten sie hin und wieder über die Zukunft gesprochen, aber dabei war es vor allem um das Centre gegangen und nie darum, eine Familie zu gründen.

Vielleicht würde er dieses Kind als einen Versuch von ihr betrachten, ihn an sich zu binden. Was, wenn er sie jetzt als eine Belastung empfand? Dieser Gedanke war unerträglich, und sie versuchte ihn zu verdrängen, aber er blieb hartnäckig am Rande ihrer Aufmerksamkeit.

Langsam reifte ein Entschluß in ihr. Sie würde Jarod nichts von ihrer Schwangerschaft sagen - zunächst, bis sie Gelegenheit gehabt hatte, herauszufinden, was er darüber dachte.

Etwas in ihr flüsterte, daß sie sich albern verhielt, daß es überhaupt keinen Grund gab, sich vor seiner Reaktion zu fürchten. Aber ihre Unruhe verhinderte, daß sie auf die Stimme ihrer Vernunft hörte.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
9:25



Miss Parker schloß die Haustür auf. Noch bevor sie ihr Haus betreten hatte, hörte sie Jarods Stimme.

"Marine?" Er klang überrascht. Sie ging ins Wohnzimmer und fand ihn dort vor seinem Laptop, beschäftigt mit der Lösung eines Problems, um die ihn Broots gebeten hatte. Jarod sah zu ihr auf.

"Hast du etwas vergessen?" erkundigte er sich, nur den Hauch von Belustigung in seinem Blick.

"Nein, ich..." Miss Parker spürte, wie ihr Entschluß ins Wanken geriet. Sie wollte es ihm sagen - aber sie traute sich nicht. Für einen kurzen Moment flackerte Panik in ihr auf, aber sie unterdrückte diese Regung sofort und zwang sich zu einem Lächeln. Mit etwas Glück war es gut genug, um ihn zu täuschen. "Weißt du, auf dem Weg zur Arbeit habe ich über Angelo nachgedacht", antwortete sie ausweichend.

Er sah sie aufmerksam an, schien aber nicht mißtrauisch zu sein.

"Ich glaube, es macht ihm Spaß, uns zu helfen", sagte er. Miss Parker nickte.

"Das macht es bestimmt, aber... ich habe über seine Zukunft nachgedacht." Verdammt, wieso war sie überhaupt nach Hause gefahren? Sie hätte direkt an die Arbeit fahren sollen. Allerdings belog sie Jarod nicht. In den letzten Wochen hatte sie sich wirklich einige Gedanken über Angelo gemacht. "Ich meine, was soll aus ihm werden, wenn das Centre zusammenbricht? Dort kann er nicht mehr bleiben."

Jarod nickte nachdenklich. "Ja, du hast recht. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Hattest du etwas Bestimmtes im Sinn?"

"Ich dachte, du könntest vielleicht nach einer Unterbringungsmöglichkeit für ihn suchen. Ich würde es ja selbst tun, aber gerade im Moment kann ich nicht für längere Zeit aus dem Centre verschwinden."

"Du weißt doch, daß du auf mich zählen kannst", erwiderte Jarod. Er stand auf und kam zu ihr. Sanft zog er sie in seine Arme. "Wenn ich dir und Angelo damit helfen kann, tue ich es gerne", versicherte er ihr. Sie lehnte sich an ihn, schöpfte Kraft aus seiner Nähe. Jarod schob sie ein wenig von sich fort und musterte sie besorgt.

"Hey, was ist denn?" erkundigte er sich, während er sanft eine Hand unter ihr Kinn legte. "Ist alles in Ordnung mit dir?"

Miss Parker schloß kurz die Augen, dann nickte sie.

"Ich hatte in den letzten Tagen nur ein bißchen viel um die Ohren, das ist alles", sagte sie leise. "Wirklich, Jarod, es geht mir gut."

"Hm, na gut. Wie wär's, wenn ich dich heute abend ein wenig verwöhne? Morgen kann ich dann anfangen, mich nach etwas Geeignetem für Angelo umzusehen."

"Das klingt wirklich gut", antwortete Miss Parker. "Abgesehen von dem Teil, wo du fortgehst, natürlich."

Er lachte leise. "Ich bin so schnell wie möglich wieder bei dir", versprach er. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küßte ihn.

"Ich nehme dich beim Wort", ließ sie ihn wissen.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
20:34



Ein langer Tag lag hinter Miss Parker. Alles, was sie sich jetzt noch wünschte, war etwas Ruhe. Aber ihre Gedanken taten ihr diesen Gefallen nicht. Seit Jarod am frühen Morgen aufgebrochen war, fühlte sie sich rastlos. Den ganzen Tag über war sie unkonzentriert gewesen. Es gelang ihr einfach nicht, sich abzulenken.

Nachdem sie eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte, seufzte sie langgezogen, dann stand sie auf. Sie ging in die Küche, um sich etwas Tee zu kochen, doch dann änderte sie ihre Meinung. Tee würde ihr auch nicht weiterhelfen. Miss Parker ging zurück ins Wohnzimmer. Wieso fühlte sie sich wie ein gefangenes Tier? Vielleicht würde ein Spaziergang sie ein wenig auf andere Gedanken bringen...

Jemand klingelte an der Tür. Eigentlich war sie nicht in der Stimmung für Besuch, aber möglicherweise war es wichtig. Nach einem zweiten Seufzer ging sie zur Tür. Sydney stand draußen und lächelte schief.

"Guten Abend, Miss Parker. Ich hoffe, ich störe Sie nicht."

Sein Anblick erfüllte sie mit Erleichterung. Ein Gespräch mit ihm war jetzt genau das, was sie brauchte. Ihm konnte sie alles anvertrauen, was sie belastete. Vielleicht hatte er sogar den einen oder anderen Rat für sie.

"Sydney!" Es war ihr völlig egal, daß man ihr ihre Erleichterung deutlich anhören konnte. "Ich bin froh, daß Sie hier sind." Sie bat ihn herein, folgte ihm dann ins Wohnzimmer. Er setzte sich in einen der Sessel. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.

"Wahrscheinlich ahnen Sie schon, warum ich hier bin", sagte er ruhig. "Sie schienen mir heute den ganzen Tag über irgendwie abwesend zu sein, also habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht irgend etwas belastet. Außerdem dachte ich, daß ich vielleicht endlich die Gelegenheit erhalte, den mysteriösen Fremden kennenzulernen, von dem Sie mir nichts erzählen wollen."

Seine gutmütige Neugier brachte sie zum Lachen - das erste Mal an diesem Tag. Zufrieden vertiefte sich Sydneys Lächeln.

"Schon viel besser", meinte er sanft.

"Ach, Sydney", seufzte sie. Sie ging ein paar Schritte in Richtung der Terrassentür, dann drehte sie sich wieder zu ihm um. "Kann ich Ihnen etwas anvertrauen?" fragte sie leise. Er sah sie aufmerksam an.

"Sie können mir alles sagen, Miss Parker."

"Es ist sehr persönlich. Sie müssen mir versprechen, daß Sie niemandem etwas davon sagen."

Sein Blick wirkte jetzt deutlich besorgt.

"Ist alles in Ordnung? Fehlt Ihnen irgend etwas?"

Miss Parker lachte leise. Ob ihre Mutter damals ein ähnliches Gespräch mit Sydney geführt hatte? Sie konnte es sich jedenfalls gut vorstellen. Catherine hatte ihm vertraut - und sie tat das auch. Sanft verschränkte sie die Hände vor ihrem Bauch.

"Ich bin schwanger, Syd."

Gespannt beobachtete sie seine Reaktion. Zuerst sah sie ungläubiges Erstaunen, dann zögernde Freude. Sie lächelte. Er stand auf und kam zu ihr, schloß sie fest in seine Arme.

"Miss Parker, das ist wundervoll!"

"Das ist es", bestätigte sie glücklich. Sydney ließ sie wieder los, trat ein paar Schritte zurück, um sie eingehend zu mustern. Offenbar schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf.

"Seit... seit wann wissen Sie es?" wollte er schließlich wissen.

"Seit gestern", antwortete sie. Für einen Moment dachte sie nicht mehr an all das, was sie belastete. Sie konnte sehen, wie Sydney versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen.

"Was ist mit dem Vater?" erkundigte er sich in einem vorsichtigen Tonfall. Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Er weiß es nicht."

Überraschung zeichnete sich auf Sydneys Miene ab. "Mir ist natürlich klar, daß mich das im Grunde genommen nichts angeht, aber ich möchte Ihnen helfen. Ich möchte, daß Sie glücklich sind. Ihrer Mutter konnte ich leider nicht mehr helfen. Bei Ihnen werde ich das nicht zulassen", erklärte er energisch.

"Es ist ziemlich kompliziert."

"Lassen Sie mich Ihnen helfen. Bitte, Miss Parker."

Seine Fürsorge schaffte es fast, ihre Sorgen zu vertreiben. Aber nur fast.

"Ich werde es ihm nicht sagen." Die Entschiedenheit in ihrer Stimme überraschte sie selbst ein wenig. Diesmal war es Sydney, der fast lautlos seufzte.

"Wenn das Ihr Entschluß ist, werde ich ihn respektieren", sagte er langsam. "Er liebt Sie, nicht wahr?" Sein Tonfall machte deutlich, daß er sich nichts anderes vorstellen konnte. Fast gegen ihren Willen mußte Miss Parker lächeln.

"Ja. Ja, das tut er."

"Trotzdem wollen Sie ihm nichts von dem Kind sagen."

Sie schwieg. Sydney neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Wenn er Sie liebt, dann wird er auch Ihr Kind lieben."

"Wir haben nie über Kinder gesprochen. Er... hatte eine schwierige Kindheit. Ich glaube, im Moment wäre ein Kind nur eine Belastung für ihn."

Miss Parker sah ihn an. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Dann bot er ihr doch seinen Rat an.

"Es ist Ihre Entscheidung. Ich möchte Ihnen nur noch eines sagen. Reden Sie mit ihm. Es wird Ihnen beiden helfen. Und Ihrem Kind."

Sie wußte, daß er recht hatte, aber sie konnte es nicht - sie hatte zuviel Angst. Wie würde Sydney wohl reagieren, wenn er wüßte, daß es um Jarod ging? Bestimmt wäre er überrascht. Nein, sie konnte es ihm nicht sagen. Verdammt, warum mußte alles so schwierig sein?

"Miss Parker?"

Sydney hatte eine Hand auf ihren Arm gelegt. "Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

"Fürs erste schon." Es gelang ihr fast, sich selbst davon zu überzeugen.

"Möchten Sie, daß ich gehe?" erkundigte er sich sanft.

"Nein, bleiben Sie. Ich... möchte jetzt nicht allein sein."

Er nickte. "Dann bleibe ich bei Ihnen."

Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
13:37



"Parker! Warte."

Miss Parker blieb stehen. Die Stimme gehörte Lyle. Der Gedanke an ein Gespräch mit ihm verursachte ihr eine Gänsehaut, trotzdem wartete sie, bis er sie erreicht hatte. Seit ihrer Rückkehr war sie ihm aus dem Weg gegangen, und auch er schien sie gemieden zu haben. Seine Miene war ausdruckslos, als er dicht vor ihr stehenblieb.

"Ich muß mit dir reden", sagte er gelassen.

"Nein."

"Es ist aber wichtig", beharrte er. Sie wich einen Schritt zurück.

"Ich will nicht mit dir reden", erwiderte sie betont schroff. "Ich will dich nicht einmal sehen, um ganz genau zu sein." Sie beobachtete, wie seine Fassade der Gelassenheit erste Risse bekam. In seinen Augen lag ein dringlicher Ausdruck, der sie beinahe veranlaßte ihm zuzuhören.

"Ich weiß über dein kleines Geheimnis Bescheid, Parker", ließ Lyle sie wissen. Eisiger Schrecken breitete sich blitzschnell in ihr aus. Niemand weiß von Jarod und mir, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Und nur Syd weiß von dem Kind. "Obwohl das mit dem Virus eine gute Tarnung ist, das muß ich dir lassen", fuhr ihr Bruder fort. Miss Parker wurde vor Erleichterung fast schwindelig. Es ging überhaupt nicht um Jarod.

"Verschwinde und laß mich in Ruhe", fauchte sie. Sein Wissen war nicht gefährlich für ihren Plan - dafür war es längst zu spät. Lyle kniff die Augen zusammen.

"Verdammt noch mal, Parker! Ich meine es ernst. Du mußt mir zuhören." Er griff nach ihrem Arm und hielt sie fest, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Sie versuchte sich loszureißen, aber sein Griff war zu fest. Und dann passierte etwas Unvorhergesehenes. Der körperliche Kontakt stellte eine Verbindung zwischen ihnen her. Miss Parker versuchte verzweifelt, sich dagegen zu wehren, aber es war sinnlos.

Zuerst nahm sie nur Wortfetzen und einzelne Bilder wahr, dann wurde sie in einen Strudel aus Erinnerungen und Emotionen gerissen. Wie aus weiter Ferne hörte sie ihren eigenen, entsetzten Schrei - und dann, ebenso plötzlich wie es begonnen hatte, hörte es wieder auf. Lyle hatte sie losgelassen. In Miss Parker rangen Wut und Verwirrung um die Vorherrschaft. Die Wut gewann für den Augenblick.

"Faß mich nie wieder an!" schrie sie aufgebracht. Sie rang noch immer um Kontrolle, als sie in seine Augen sah. Überraschung spiegelte sich in seinem Blick wieder, aber sie war viel zu wütend, um jetzt darüber nachzudenken. Mit einer heftigen Bewegung drehte sie sich um und ließ Lyle hinter sich zurück. Ihre Umgebung nahm sie erst wieder wahr, als sie sich in Angelos Raum wiederfand. Eigentlich hatte sie in ihr Büro zurückkehren wollen, aber ihr Unterbewußtsein hatte sie an diesen Ort gebracht. Weil sie diesen Raum für einen der sichersten im ganzen Centre hielt, und weil Angelos Nähe ihr Trost spendete.

Angelo war nicht da, aber Miss Parker blieb trotzdem. Zitternd ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. Die Augen geschlossen, dachte sie über das nach, was gerade geschehen war. Es hätte nicht passieren sollen. Eigentlich sollte sie in der Lage sein, so etwas zu verhindern.

Vermutlich war die Tatsache, daß er ihr Zwillingsbruder war, daran schuld. Dadurch wurde ein Kontakt vermutlich begünstigt. Miss Parker schlang die Arme um ihren Körper. In Lyle hatten starke Emotionen getobt - aber das beunruhigte sie nicht. Das, was sie aus seiner Erinnerung erfahren hatte, machte ihr viel mehr Angst. Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten. Diese Worte stammten von ihrem Vater. Von ihrem eigenen Vater.

Sie spürte eine Übelkeit in sich aufsteigen, die nichts mit ihrem Zustand zu tun hatte. Irgendwie schaffte sie es, dagegen anzukämpfen. Wie konnte er das zulassen? Wie konnte er so etwas sagen? Sie mußte sich wieder beruhigen. Diese ganze Aufregung war nicht gut für ihr Kind. Miss Parker konzentrierte sich auf das ungeborene Leben, das in ihr heranwuchs, sperrte alle anderen Gedanken aus. Jarods Kind. Ganz langsam normalisierte sich ihr Atem, und sie entspannte sich ein wenig.

Was blieb, war die Frage, warum Lyle mit ihr hatte sprechen wollen. Allerdings konnte sie auf die Antwort gut verzichten, wenn sie dadurch ein erneutes Zusammentreffen mit ihm verhindern konnte. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, stand sie auf, um zurück zu ihrem Büro zu gehen.

Glücklicherweise begegnete sie unterwegs niemandem, so daß sie sich ganz darauf konzentrieren konnte, die Fassung wiederzuerlangen. Vor ihrem Büro traf sie auf ihren Sekretär.

"Sam soll herkommen, und zwar sofort."

"Ja, Miss Parker."

Er eilte davon, und Miss Parker ging in ihr Büro. Sie mußte nicht lange auf ihren Sweeper warten. Schon nach wenigen Minuten klopfte er an die Tür und trat ein, als sie ihn dazu aufforderte. Abwartend bezog er vor ihrem Schreibtisch Aufstellung.

"Sam, ich habe einen Auftrag für dich. Ich will, daß du Mr. Lyle im Auge behältst. Und wenn er irgend etwas tun sollte, von dem du glaubst, daß es die Sicherheit des Centres - oder auch meine - bedroht, möchte ich, daß du einschreitest. Ist das klar?"

"Ja, Miss Parker." Falls Sam ihren Auftrag für merkwürdig hielt, so behielt er es für sich. Auf ihn war Verlaß; er würde sie zuverlässig beschützen.

"Gut. Dann kannst du jetzt gehen", entließ sie ihn. Er nickte ernst und verließ ihr Büro. Miss Parker lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Wie gerne würde sie jetzt nach Hause fahren, zu Jarod. Aber das ging nicht. Die letzte Phase ihres Plans war angelaufen, und deshalb mußte sie im Centre bleiben. Es gab noch so viel zu tun.


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
03:01



"... ist nicht mehr als eine Gefährdung für uns alle", zischte Raines verärgert. Mr. Parker verzog das Gesicht.

"Sie ist immerhin meine Tochter, Raines."

"Seit wann spielen Familienbindungen hier eine Rolle?"

"Ich werde meine Zustimmung nicht einfach so erteilen", donnerte Mr. Parker wütend. "Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten."

"Eine sehr vernünftige Entscheidung", keuchte Raines spöttisch, doch dann fuhr er ärgerlich fort. "Ihr Zögern wegen Catherines Einmischung hat uns viel Ärger eingebracht."

"Das wird nicht noch einmal passieren, dafür werde ich persönlich sorgen."

"Hoffentlich."

Raines drehte sich um und schlurfte zur Tür.

Miss Parker schreckte aus dem Schlaf hoch, zitternd und desorientiert. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihre Umgebung bewußt wahrnahm. Erst als ihr Blick auf Jarod fiel, der ruhig neben ihr lag und schlief, beruhigte sie sich. Glücklicherweise war er am späten Abend von seiner Suche zurückgekehrt.

Ein Alptraum. Nur ein Alptraum. Aber sie wußte, daß mehr dahintersteckte.

Vorsichtig stand sie auf. Sie verließ das Schlafzimmer und ging durch die Dunkelheit ins Wohnzimmer, zum Erkerfenster. Hier konnte sie in Ruhe nachdenken. So bequem wie möglich setzte sie sich hin und zog die Beine ganz eng an den Körper.

Ihr Traum war mehr als nur ein Traum - und er stammte nicht von ihr. Sie hatte eine von Lyles Erinnerungen gesehen. Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten. Miss Parker schloß die Augen. Das wird nicht noch einmal passieren, dafür werde ich persönlich sorgen.

Die Worte ihres Vaters ließen sich nicht verdrängen, so sehr sie es auch versuchte. Der Schmerz und die Enttäuschung, die sie auslösten, waren beinahe unerträglich. Wieso tat er ihr das immer wieder an?

Sie zwang sich, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Lyle. Er hatte das Gespräch zwischen Raines und ihrem Vater belauscht. War das der Grund gewesen, warum er mit ihr hatte sprechen wollen? Um sie zu warnen? Das war schwer vorstellbar, aber sie mußte diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Vielleicht war er aber auch einfach nur Raines Handlanger. Miss Parker versuchte, sich an Lyles Emotionen während ihres kurzen Kontakts zu erinnern. Es gelang ihr nicht, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Ihre eigenen Emotionen drohten jetzt ebenfalls, außer Kontrolle zu geraten. Der Stress der letzten Tage und die Schwangerschaft forderten ihren Tribut. Sie holte tief Luft.

"Marine?"

Erschrocken riß sie die Augen auf. Jarod stand neben ihr, musterte sie besorgt. Er strahlte Wärme und Sicherheit aus. Miss Parker streckte wortlos ihre Arme nach ihm aus, und er zog sie in eine feste Umarmung.

"Was ist denn los?" fragte er nach ein paar Minuten, einen beinahe ängstlichen Unterton in der Stimme. Langsam und widerstrebend löste sich Miss Parker von ihm. Sie versuchte, ein beruhigendes Lächeln zustande zu bringen. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, daß ihr das nicht ganz gelungen war.

"Nur ein Alptraum, Jarod", wisperte sie. "Es geht mir schon wieder gut."

"Bist du sicher?" Er musterte sie zweifelnd.

"Mhm. Komm, laß uns wieder ins Bett gehen."

Jarod zögerte noch einen Augenblick, dann gab er nach. Er griff nach ihrer Hand, als sie zurück ins Schlafzimmer gingen.

"Willst du vielleicht darüber reden?" bot er als letzten Versuch an. Miss Parker lächelte liebevoll, schüttelte aber den Kopf.

"Nein. Halt mich einfach nur fest."

"Das wird mir ein Vergnügen sein", erwiderte Jarod sofort. Sie legten sich wieder hin, und Miss Parker schmiegte sich eng an ihn. Nur für einen kurzen Moment glitten ihre Gedanken noch einmal zu Lyle. Vielleicht sollte ich doch morgen mit ihm reden, überlegte sie, dann konzentrierte sie sich nur noch auf Jarods Nähe.


Das Centre
Blue Cove, Delaware
09:12



Obwohl die Sonne schien, fröstelte Miss Parker, als sie draußen vor dem Hauptgebäude des Centres stand. Sie bemühte sich, nicht mehr an den Alptraum von letzter Nacht zu denken. Er hatte sie ziemlich aufgewühlt, aber dank Jarods Nähe war sie später doch noch einmal eingeschlafen.

"Parker?"

Miss Parker drehte den Kopf und beobachtete die Gestalt, die vom Haupteingang auf sie zukam. Lyle. Vor etwas über einer Stunde hatte sie ihm einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt und ihn wissen lassen, daß sie bereit war ihm zuzuhören. Und jetzt war er hier.

"Was wolltest du mir gestern sagen?" fragte sie ihn, als er heran war.

"Du bist also endlich vernünftig geworden", lautete seine Antwort.

"Ich war immer vernünftig. Jetzt bin ich... neugierig."

Er zuckte mit den Schultern. "Das genügt." Für einen Moment musterte er sie nur, und sie gewann den Eindruck, daß er etwas sagen wollte, sich aber dann im letzten Moment anders entschied. "Hier, ich muß dir etwas zeigen", sagte er und griff in die Innentasche seines Jacketts. Miss Parker sah, was er hervorziehen wollte - eine Waffe. Entsetzt trat sie einen Schritt zurück, und dann überschlugen sich die Ereignisse.

Von irgendwo her ertönte ein lauter Knall. Als ihr klar wurde, daß sie das Geräusch eines Schusses gehört hatte, war es schon zu spät. Wie in Zeitlupe senkte Lyle den Kopf. Ungläubig starrte er auf den Blutfleck, der sich auf seiner Brust ausbreitete und rasch größer wurde. Ein zweiter Schuß zerriß die Stille und traf ihn an der Schulter. Der dritte Schuß verfehlte ihn, da seine Knie nachgaben und er zu Boden sank.

Erst jetzt löste sich Miss Parker aus ihrer Starre. Beinahe panisch sah sie sich um, die eigene Waffe gezogen. Ihr Blick fiel auf Sam, der auf sie zu gerannt kam. Sam, den sie gebeten hatte, sie zu beschützen. Der Boden schien unter ihr wegzusacken, aber allein durch ihre Willenskraft hielt sie sich auf den Beinen.

"Miss Parker, ist alles in Ordnung mit Ihnen?" rief Sam atemlos, als er näherkam. Sie starrte erst ihn an, dann ihren Bruder, der mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag, danach wieder Sam.

"Hol Hilfe", wies sie den Sweeper tonlos an. Er blieb stehen und maß sie mit einem verständnislosen Blick. "Du sollst Hilfe holen", wiederholte sie, lauter diesmal. "Sofort."

Sam drehte sich nach einem kurzen Blick auf Lyle um und spurtete zurück zum Haupthaus. Miss Parker sah auf Lyle hinab. "Ich sollte versuchen, Sydney zu holen. Er ist...", brachte sie hervor, doch Lyle unterbrach sie.

"Nein, bleib." Seine Stimme hatte jegliche Glätte verloren, wirkte nur noch angestrengt. Er öffnete die Augen. Die Endgültigkeit, die sie in seinem Blick sah, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Mechanisch kniete sie sich neben ihn. Ihr fielen all die grausamen Dinge ein, die er anderen Menschen angetan hatte, und doch empfand sie jetzt... Bedauern. Mitleid. Lyle griff nach ihrer Hand, nahm sie in seine. Sie ließ ihn gewähren.

"Du... bist so weich", flüsterte er staunend. "Dad hat das nie begriffen. Er dachte immer, du seist so wie er. Aber du bist... anders. Vielleicht wie Mom. Weich. So voller Gefühl." Er machte eine Pause, rang rasselnd nach Atem.

"Lyle..."

"Nein, hör mir nur zu. Nur dieses eine Mal." Für einen Moment glaubte sie, den Hauch eines Lächelns zu erkennen. Sie nickte. "Gut."

"Zwischen uns ist einiges schief gelaufen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich..."

Miss Parker verzog das Gesicht. "Nicht. Lyle, ich kenne deine Empfindungen. Das ist falsch, du darfst nicht..."

"Ich habe nie gewußt, was Liebe ist", unterbrach er sie. Er drückte kurz ihre Hand. "Bis ich dich getroffen habe. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich dich lieben könnte - aber ich wußte nicht, wie." Ihr Bruder schloß die Augen, das Gesicht eine Maske der Anstrengung. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie sollte nicht um ihn trauern, und doch...

"Ich habe die Simulation gesehen, die du gemacht hast. Eine Sicherungskopie von dem Band, das Sydney hat", fuhr Lyle plötzlich fort. "Und gestern... Mir wird erst jetzt klar, was da passiert ist. Ich habe so vieles gesehen." Seine Stimme wurde immer leiser, und es schien ihm schwerer zu fallen, die Augen offenzuhalten. Miss Parker verstand. Er versuchte ihr zu sagen, daß der Kontakt nicht nur einseitig gewesen war. Lyle hatte auch einen Teil ihrer Erinnerungen gesehen.

"Du und Jarod...", wisperte er rauh. "Ich hätte es schon längst wissen müssen. Er war dir immer so nah." Die Pausen zwischen seinen Sätzen wurden immer länger. Sein Blick ruhte für einen Moment auf ihrem Bauch. "Schade", brachte er mühsam hervor, "ich wäre bestimmt ein guter Onkel gewesen. Sogar für sein Kind."

"Lyle?" Unsicherheit ließ ihre Stimme vibrieren. "Es wird gleich jemand hier sein." Mit letzter Anstrengung richtete er sich auf, um sie anzusehen. Ein dünner Blutstrom rann aus seinem Mundwinkel. Sein Atem klang jetzt gurgelnd.

"Nicht traurig sein. Sieh nie zurück... macht alles nur schlimmer. So weich... Wir hätten... Ich... lie..." Er atmete ein letztes Mal aus. Sein Blick brach, und er sank leblos zu Boden. Miss Parker sah fassungslos auf ihn hinab. Ihre Hand ruhte noch immer in seiner. Es gelang ihr nicht, den Blick von ihren Händen zu lösen. Für einen kurzen Moment, einen viel zu kurzen Moment, hatte sie den Bruder gehabt, den Raines ihr vor so vielen Jahren weggenommen hatte. Das Monster, das Raines geschaffen hatte, war verschwunden und hatte sie sehen lassen, was hätte sein können.

Tränen rannen über ihr Gesicht, aber sie bemerkte es gar nicht. Behutsam löste sie ihre Hand aus seinem kalten Griff. Ihr Blick glitt zu der Waffe, die alles ausgelöst hatte. Sie starrte auf den Griff. Der Ring aus Feuer. Dasselbe Symbol wie auf der Waffe, mit der ihre Mutter ermordet worden war. Als sie die Waffe vorsichtig aus seiner Tasche zog, bemerkte sie, daß noch etwas darin steckte. Ein Zettel. Miss Parker nahm ihn an sich und ließ ihn zusammen mit der Waffe verschwinden.

Plötzlich wimmelte es um sie herum von Leuten.

"Was ist hier passiert?"

"Ist er tot?"

"Miss Parker?" Sie kannte diese Stimme. Als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf Sydney, der jetzt neben ihr in die Hocke ging. "Miss Parker, ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

Die Wärme in seinen Worten löste eine Sperre in ihr. Wortlos schüttelte sie den Kopf. Sydney legte ihr einen Arm um die Schultern, dann zog er sie sanft mit sich hoch. Aus der Ferne hörte sie das leise Quietschen von Raines Sauerstoffflasche. Wut stieg in ihr auf, vermischte sich mit ihrer Bestürzung und dem Gefühl des Verlusts. "Ich will weg von hier", brachte sie leise hervor.

"Gut, kommen Sie. Wir gehen in mein Büro. Da sind wir für eine Weile ungestört."

Er wollte sie wegführen, aber plötzlich versperrte ihnen ihr Vater den Weg. "Was ist passiert?" fragte er mit lauter, aufgeregter Stimme, das Gesicht weiß. Sydney stellte sich zwischen ihn und seine Tochter.

"Miss Parker steht unter Schock. Sie kommt jetzt mit mir. Ihre Fragen kann sie später noch beantworten - wenn es ihr besser geht", sagte er mit fester Stimme. Mr. Parker sah aus, als würde er gleich explodieren, doch dann drehte er sich einfach nur um und ging zu der Stelle, wo Lyle noch immer lag, jetzt umringt von medizinischem Personal.

Sydney brachte Miss Parker fort.

"Ist er tot?"

Sie nickte nur. Ja, ihr Bruder war tot. Aber wieso fühlte sie sich, als sei sie ebenfalls gerade gestorben? Widerstandslos ließ sie sich von Sydney wegführen, ganz in ihre Gedanken versunken.


Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
09:33



Die Luft in Sydneys Büro schien völlig stillzustehen. Miss Parker lag mit geschlossenen Augen auf der Couch, voller Besorgnis beobachtet von Sydney. Mit dieser Situation fertig zu werden, forderte einiges von ihr. Sie hatte sich noch nie so gefühlt. Als ihre Mutter gestorben war, hatte es sich völlig anders angefühlt. Damals schien die Welt stehenzubleiben, um dann langsam um sie herum zu zerbrechen. Doch jetzt... Alles raste, gab ihr keine Gelegenheit, einen ruhigen Gedanken zu fassen.

Miss Parker setzte sich auf. Sydney war da, war bereit ihr zuzuhören, ihr zu helfen. Sie mußte nur einen Anfang finden.

"Sydney, ist es möglich, daß man keine Ahnung hat, wie man sich fühlt? Oder wie man sich fühlen sollte?" fragte sie schließlich leise. Er stellte sich vor seinen Schreibtisch, lehnte sich an die Kante und sah sie an.

"Sie stehen unter Schock, Miss Parker", sagte er sanft. "Es ist ganz natürlich, wenn Sie Ihre Gefühle jetzt nicht analysieren können."

"Ich sollte aber gar nicht unter Schock stehen!" fuhr sie auf. "Ich sollte mich freuen", sagte sie nach einer kurzen Pause, fast unhörbar. "Lyle war eine Bestie. Wenn ich nur daran denke, was er Luca angetan hat..." Ihre Stimme brach. Sie weigerte sich zu weinen, hielt die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten. Lyle hatte es verdient zu sterben. In seinem ganzen Leben hatte er wahrscheinlich nicht einmal etwas Gutes getan. Verdammt, wieso trauerte sie jetzt trotzdem um ihn? Sie hatte ihn gehaßt!

"Miss Parker?"

Sydneys sanfte Stimme unterbrach ihre Gedankengänge.

"Ich weiß, daß Sie ein... gespanntes Verhältnis zu Ihrem Bruder hatten. Aber er war Ihr Bruder."

Miss Parker schüttelte den Kopf. Der Hauch eines Lächelns zeigte sich für einen Moment auf ihren Lippen. "Nein. Ich habe ihn nie als meinen Bruder betrachtet. Er hat mir nichts bedeutet."

Als sie es aussprach, wußte sie, daß es nicht stimmte. Zwar hatte sie Lyle nie als ihren Bruder akzeptiert, aber trotzdem hatte er in ihrem Leben eine gewisse Rolle gespielt. Nur welche?

Sydney setzte sich neben sie auf den Rand der Couch.

"Jacob zu verlieren, war einer der schlimmsten Momente in meinem Leben", begann er leise. "Es gab so vieles, was ich ihm noch sagen und zeigen wollte. Solange er im Koma lag, konnte ich wenigstens noch glauben, daß es eines Tages wieder so sein könnte wie früher. Als er starb, mußte ich loslassen. Nicht nur ihn, sondern auch meine Hoffnung. Miss Parker, ich glaube, daß es Ihnen ganz ähnlich geht. Sie trauern nicht um Mr. Lyle. Sie trauern um Bobby, Ihren Zwillingsbruder, den Mann, der er hätte sein können, wenn Raines nicht gewesen wäre."

Sie sah ihn an. Er hatte recht. Im Moment schien es fast, als würde er ihre Gefühle besser verstehen als sie selbst. Aber vielleicht traute sie sich auch einfach nicht, sich die Wahrheit einzugestehen. Die Tatsache, daß ihr Lyle nicht gleichgültig gewesen war, beunruhigte sie etwas. Sicher stimmte es, was Sydney sagte, und sie trauerte nur um den Bruder, den sie hätte haben können. Trotzdem erschien es ihr einfach nicht richtig, angesichts von Lyles Tod Trauer zu empfinden. Schon wegen Luca.

"Raines hat jedem von uns den Bruder genommen", sagte sie, um sich selbst abzulenken. "Jacob starb an den Folgen eines vom Centre verursachten Unfalls, Lyle wurde von Raines zu einem gewissenlosen Monster gemacht. Und sogar Kyle starb durch seine Schuld. Ohne Lyle könnte er heute noch am Leben sein..."

"Ich kann verstehen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen, Raines die Schuld an allem zu geben, aber im Grunde ist das sinnlos. Es führt zu nichts - höchstens zu noch mehr Haß." In Sydneys Stimme war eine Resignation zu hören, die Miss Parker vermuten ließ, daß er bereits ähnliche Gedanken gehegt hatte.

"Selbst wenn ich wollte, ich könnte Raines nicht noch mehr hassen, als ich es ohnehin schon tue. Allein der Gedanke, daß er bald für alles bezahlen wird, hält mich davon ab, meinen Gefühlen nachzugeben. Sein Tod nützt niemandem. Je länger er am Leben bleibt, desto länger muß er leiden."

"Es fällt mir schwer, mir Raines in einer Gefängniszelle vorzustellen", überlegte Sydney laut. Miss Parker schwieg und starrte ins Leere. Ihr Gespräch mit Sam fiel ihr wieder ein. Wenn sie ihn nicht gebeten hätte... Nein, das führte zu nichts. Die Vergangenheit blieb Vergangenheit. Auf einmal erinnerte sie sich an etwas. Sie stand auf und zog die Waffe hervor, die sie bei Lyle gefunden hatte.

"Miss Parker?" Sydney klang alarmiert.

"Keine Sorge, ich habe nicht vor, Amok zu laufen", beruhigte sie ihn. Ihre Stimme nahm einen tonlosen Klang an. "Diese Waffe habe ich bei Lyle gefunden. Sie ähnelt derjenigen, mit der Mom... erschossen wurde. Ich glaube, er wollte sie mir zeigen, aber ich weiß nicht, warum. Sam dachte, Lyle wollte..."

"Sie töten?" vollendete Sydney ihren Satz. Er stand auf und trat neben Miss Parker. "Dann hat Sam auf Ihren Bruder geschossen?"

Miss Parker nickte.

"Ich hatte Sam gebeten, auf Lyle... aufzupassen." Sie ließ ihren Atem in einem langen Seufzer entweichen. Der Zettel fiel ihr wieder ein. Zögernd holte sie ihn heraus. Erst jetzt wurde ihr klar, daß der Zettel vermutlich eigentlich das war, was Lyle ihr hatte zeigen wollen. "Oh nein..."

"Was ist los?"

"Der Zettel. Er wollte mir den verdammten Zettel zeigen." Sie lehnte sich gegen den Schreibtisch, weil sie ihren Beinen nicht mehr traute. Das Schwächegefühl war zurückgekehrt.

"Was steht drauf?" erkundigte sich Sydney. Miss Parker zuckte mit den Schultern.

"Ich habe keine Ahnung. Hier, lesen Sie ihn."

"Sind Sie sicher?"

"Ja."

Sydney entfaltete das Blatt, das nur einmal in der Mitte gefaltet war. Schweigend las er die wenigen Worte, dann ließ er langsam die Hand sinken.

"Also, was ist es?" fragte Miss Parker leise. Sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte.

"Miss Parker, ich weiß nicht, ob Sie...", begann er und brach dann mitten im Satz ab. Seine Stimme verriet seine Betroffenheit.

"So schlimm?"

Er antwortete nicht, sondern führte sie sanft zurück zur Couch.

"Lyle wollte Sie nicht töten", erklärte er dann. "Ich glaube vielmehr, daß er Sie warnen wollte." Mit deutlichem Widerstreben reichte er ihr den Zettel. Angst breitete sich in Miss Parker aus, als sie auf das Stück Papier in ihrer Hand hinunterstarrte. Es war ein Ausdruck von zwei E-mails.


'Sie hat ihre Chance gehabt - und versagt. Lösen Sie Ihr Versprechen ein. R.'


'Tun Sie, was immer Sie für richtig halten. Sie haben völlig freie Hand. P.'


Die wenigen Worte stachen wie eiskalte Messer in ihr Herz. Ihr Vater hatte Raines freie Hand gegeben - um sie zu töten. Er hatte die letzte Grenze überschritten, die einzige, von der sie geglaubt hatte, daß er sie respektieren würde. Sie hörte ein ersticktes Schluchzen - es mußte von ihr stammen. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sydney zog sie tröstend in seine Arme, und sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
14:01



Ein Geräusch außerhalb des Hauses weckte Jarods Aufmerksamkeit. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich, streckte sich, dann ging er zur Haustür, um einen Blick nach draußen zu werfen. Vor dem Haus stand ein Wagen, aus dem gerade zwei Leute ausstiegen. Jarod sah zuerst Sydney und dann Marine. Sofort regte sich Besorgnis in ihm. Irgend etwas war passiert.

Er sah, wie Sydney auf Marine einredete, aber sie schüttelte nur den Kopf, bis Sydney aufgab. Marine kam auf die Haustür zu, während Syd widerstrebend in das Auto stieg. Jetzt, wo sie näher kam, konnte Jarod erkennen, wie blaß sie wirkte. Blaß und schmerzerfüllt. Voller Ungeduld wartete er, bis Sydney außer Sichtweite war, dann öffnete er die Tür, um Marine entgegenzugehen.

Sobald sie ihn sah, hellte sich ihre Miene ein winziges bißchen auf. Wortlos zog Jarod sie in seine Arme. Sie weinte nicht, aber ihr Schmerz war trotzdem greifbar für Jarod. Ganz sanft brachte er sie ins Haus, führte sie ins Wohnzimmer.

"Was ist passiert?"

"Er ist tot." Ihre Stimme war nur ein tonloses Flüstern. Er wagte es kaum, die nächste Frage zu stellen. "Wer?"

"Lyle."

Jarod konnte nicht verhindern, daß er Erleichterung empfand. Außerdem fast so etwas wie grimmige Befriedigung. Der Mann, der seinen kleinen Bruder getötet hatte, war tot. Augenblicke später nahm seine Sorge um Marine wieder Überhand.

"Wie ist..." Er brach ab, begann kurz darauf noch einmal. "Du mußt jetzt nicht darüber reden." Sie atmete tief durch, während sie sich auf der Couch niederließ.

"Ist schon gut, Jarod. Ich muß die ganze Sache nur erst mal verarbeiten. Es war... ein Unfall. Nein, eher ein Mißverständnis." Marine atmete ein paarmal tief durch. Jarod griff nach ihrer Hand, nahm sie in seine. "Gestern hat Lyle versucht, mit mir zu reden, aber ich wollte ihm nicht zuhören", fuhr sie fort. Gott, war das wirklich erst gestern gewesen? "Ich wollte ihn nicht einmal in meiner Nähe haben. Also habe ich Sam gebeten, ein Auge auf ihn zu haben. Heute habe ich mich dann doch mit Lyle getroffen, weil ich das Gefühl hatte, daß er mir etwas Wichtiges sagen wollte. Das Treffen hat nicht lange gedauert. Sam hat ihn erschossen. Er dachte, Lyle würde mich bedrohen."

Jarod musterte sie gründlich. Lyles Tod war ihr nahegegangen, aber er hatte nur eine schwache Ahnung, warum. "Wie fühlst du dich?"

"Gute Frage", murmelte sie, dann sah sie ihn zweifelnd an. "Ich wünschte, ich hätte eine eindeutige Antwort darauf. Es... tut weh. Allerdings bin ich nicht sicher, warum. Lyle war eine Bestie, und die Welt ist ohne ihn sicher besser dran. Aber er war auch mein Bruder, jedenfalls bevor Raines ihn in die Finger bekommen hat. Gott, Jarod, kurz bevor er starb, da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, den wahren Lyle zu sehen - nicht Raines Geschöpf, sondern den Sohn meiner Mutter. Für einen kurzen Augenblick konnte ich glauben, daß vielleicht doch etwas Gutes in ihm steckt."

Vorsichtig zog Jarod sie an sich. "Es tut mir leid, Marine." Er verstand, wie sie sich fühlte. Mit Kyle war es ihm ganz ähnlich ergangen. Sein Bruder hatte sich von dem abgewandt, was Raines aus ihm gemacht hatte, war wieder zu dem Mensch geworden, der er früher einmal gewesen war. Und dann, bevor Jarod richtig die Gelegenheit gehabt hatte, ihn wirklich kennenzulernen, ihm näherzukommen, war er gestorben. Oh ja, er wußte genau, wie sie sich jetzt fühlte. "Es ist völlig in Ordnung, wenn du um ihn trauerst. Trotz allem war dein Bruder - auch wenn er nie die Chance hatte, er selbst zu sein."

Während er sie in seinen Armen hielt, wurde ihm klar, daß es noch etwas gab. Lyles Tod war nicht das einzige, was sie belastete. Vielleicht war es besser für sie, gleich jetzt über alles zu reden.

"Was ist noch passiert?" fragte er ruhig. Marine sah ihn leicht erstaunt an, doch dann verzog sie die Lippen zu einem zarten Lächeln. Zärtlich berührte sie seine Wange.

"Es ist wirklich schön, jemanden zu haben, der einen so gut kennt", sagte sie. Ihm entging nicht, daß sie kurz zögerte.

"Komm schon, Marine. Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, was dich belastet", erklärte er. Er drückte ganz leicht ihre Hand, spielte mit ihren schlanken Fingern. Sie sah auf ihre Hände hinab, dann seufzte sie schwer.

"Es ist Dad", flüsterte sie. Vages Entsetzen vibrierte in ihrer Stimme. Jarod spürte Zorn in sich aufsteigen. Was hatte dieser kaltherzige Bastard ihr jetzt schon wieder angetan? War es ihm denn wirklich egal, daß er seine Tochter immer wieder verletzte? Er würde so etwas niemandem antun, und schon gar nicht seiner eigenen Tochter. Da er seiner Stimme im Moment nicht traute, wartete er, bis sie weitererzählte.

"Ich weiß gar nicht, wieso es mich jedesmal wieder so überrascht." Sie klang mehr als resigniert. "Aber diesmal... Oh Gott, ich hätte ihm das nie zugetraut. Verdammt, er ist mein Vater!"

Es gelang Jarod, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. "Was hat er getan?"

Marine schloß die Augen. Ihr enttäuschtes Vertrauen war trotzdem mehr als offensichtlich. Was auch immer Mr. Parker diesmal gemacht hatte - es mußte schlimmer sein als alles, was sich ein normaler Mensch vorstellen konnte. Es hatte sie völlig aus der Fassung gebracht.

"Lyle wollte mich vor ihm warnen. Ich habe bei ihm einen Zettel gefunden. Hier, lies ihn." Sie reichte ihm ein Stück Papier, das stark zerknittert war. Nachdem er die beiden Nachrichten darauf gelesen hatte, ahnte er auch, warum. Auch wenn sie das offenbar nie hatte erfahren sollen - er konnte trotzdem nicht glauben, daß Parker das getan hatte.

"Marine." Jarod hatte keine Ahnung, wie er sie trösten sollte. Eigentlich glaubte er auch nicht, daß es einen Trost für sie gab. "Ich weiß nicht, was ich sagen kann, damit du dich besser fühlst. Gott, es tut mir so leid." Er schüttelte fassungslos den Kopf. "Er verdient dich nicht. Du solltest versuchen, ihn zu vergessen."

"Er ist mein Vater."

"Ach ja? Er hat sich nie so verhalten. Wie oft hat er dich verletzt? Hat er je auf dich Rücksicht genommen? Marine, ich verstehe ja, daß du ihn nicht einfach aufgeben kannst, aber er ist nicht gut für dich."

"Ich weiß", wisperte sie. "Aber es tut trotzdem weh." Sie hielt ihre Tränen noch immer zurück. Jarod zog sie enger an sich.

"Ist schon gut. Laß einfach los." Mit einer Hand strich er beruhigend über ihren Rücken. Er konnte fühlen, wie verspannt sie war. "Mit der Zeit wird es leichter. Vertrau mir. Ich liebe dich." Seine Stimme wurde zu einem sanften Murmeln, bis sie nach einer Weile ganz verklang und er sie einfach nur noch festhielt.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
07:10



Miss Parker trat hastig einen Schritt zur Seite, als eine Gruppe von Sweepern an ihr vorbeirannte. In den letzten 24 Stunden war es äußerst hektisch im Centre zugegangen. Sergejs Virus leistete ganze Arbeit, und Lyles Tod hatte für zusätzliche Aufregung gesorgt. Die straffe Organisation des Centres brach langsam, aber sicher zusammen. Raines stand kurz vor einem Hirnschlag. Er suchte fieberhaft nach dem - oder den - Schuldigen. Normalerweise hätte sie dieser Gedanke zu einem Lächeln veranlaßt, aber die Erlebnisse des letzten Tages bedrückten sie noch immer. Glücklicherweise hatte sie Jarod. Jarod half ihr sehr - durch seine Worte genauso sehr wie durch seine Nähe. Und dann gab es da noch ihr Kind...

Geistesabwesend wich sie einer zweiten Gruppe aus. Eigentlich war sie dankbar für die ganze Aufregung. Dadurch blieb ihr wenigstens eine Begegnung mit ihrem Vater erspart. Eine Zeitlang hatte sie heftige Gewissensbisse wegen ihm gehabt. Immerhin würde er im Gefängnis landen, sobald die Sache mit dem Centre abgeschlossen war. Aber seit gestern hatte der Gedanke durchaus etwas Reizvolles. Wenn er dort drin war, konnte er wenigstens niemanden mehr verletzen.

Sie erreichte den Technikraum. Erstaunlicherweise war es hier ziemlich ruhig. Nur Broots und Angelo hielten sich hier auf. Keiner von beiden sah sich nach ihr um. Die Männer waren viel zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt. Miss Parker ging zu ihnen, stellte sich neben sie und musterte sie ausgiebig. Broots wirkte total übernächtigt. Immer wieder blinzelte er, und seine Haltung wirkte verkrampft. Sein Gesichtsausdruck war hochkonzentriert. Auch Angelo war konzentriert - er schien ganz in seinem Element zu sein. Bei ihm konnte Miss Parker keine Anzeichen von Schlafmangel feststellen.

"Wie kommen Sie voran?" fragte sie schließlich leise. Broots Kopf ruckte zu ihr herum.

"Gott, Miss Parker, müssen Sie uns denn so erschrecken?"

Für einen kleinen Moment blitzte ein Lächeln in ihren Augen auf. "Hören Sie endlich auf, so schreckhaft zu sein, Broots", neckte sie ihn. "Sagen Sie mir lieber, wie unsere Aktien stehen."

Er ließ seinen Atem langsam entweichen, dann grinste er.

"Besser, als ich es für möglich gehalten hätte. Es funktioniert, Miss Parker!"

Plötzlich wirkte er wie ein aufgeregter kleiner Junge.

"Schön, das zu hören", erwiderte sie trocken, aber seine Begeisterung begann, sie anzustecken.

"Angelo und ich haben die letzten beiden Tage damit verbracht, alle Daten zu löschen, die auf eine Verbindung zwischen dem Centre und uns hinweisen. In ein paar Stunden werden wir fertig sein. Dann müssen wir nur noch unsere Beweise an die Behörden übergeben." Broots neigte den Kopf leicht zur Seite. "Ich dachte, daß Jarod das vielleicht gerne übernehmen würde."

Miss Parker sah ihn nachdenklich an. "Ich werde ihn fragen. Sie sagten in ein paar Stunden. Wie viele genau?"

Er überlegte einen Augenblick. "Etwa sechs", antwortete er dann.

"Okay. Es wird eine Weile dauern, bis die Behörden reagieren. Laut Jarod sollten wir mit einer ersten Reaktion nicht vor drei Stunden nach Erhalt der Beweise rechnen. Ich möchte, daß wir alle dann längst hier raus sind. Damit meine ich in spätestens sieben Stunden. Sind Sie sicher, daß Sie alle Spuren beseitigt haben, die auf uns hinweisen?"

"So sicher wie es geht. Wir haben das gesamte Informationsnetz des Centres durchforstet und dabei soviel Schaden wie möglich angerichtet. Jarod hat unsere Arbeit überprüft. Wenn ihm nichts entgangen ist, sollten wir sicher sein." Broots zuckte mit den Schultern.

"Das muß genügen", entgegnete Miss Parker. Sie setzte sich neben Angelo an einen der Computer. "Dann ist es Zeit, die finanziellen Dinge zu regeln", murmelte sie mehr zu sich selbst. Interessiert sah Broots sie an. Nach einem Augenblick erwiderte sie seinen Blick. "Ich war in den letzten Wochen auch nicht untätig. Nach allem, was wir durchgemacht haben, steht uns doch wohl eine kleine Entschädigung zu. Das Centre ist im Besitz eines nicht unbeträchtlichen Vermögens. Ein kleiner Teil wartet nur noch darauf, auf sichere Konten überwiesen zu werden."

Der Techniker sah sie ungläubig an. "Sie haben dem Centre Geld gestohlen?"

"Ach, Broots. Gestohlenes Geld kann man nicht stehlen. Aber man kann es einem besseren Verwendungszweck zuführen. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Schließlich müssen Sie ja von etwas leben."

Er sah aus, als wollte er protestieren, doch dann überlegte er es sich anders. Mit einem Nicken wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Diesmal lächelte Miss Parker. Broots würde ihr fehlen.

Sie rief das Programm auf, mit dem sie die letzten Tage gearbeitet hatte, und gab die letzten Befehle ein. Binnen Sekunden wurde das Geld des Centres transferiert. In ein paar Stunden würde es niemanden mehr geben, der es vermißte.

Miss Parker stand auf. "Ich werde jetzt Sydney Bescheid sagen. Kommen Sie hier allein zurecht?"

Ein schwaches Grinsen erhellte Broots Gesicht. "Sicher. Wenn nicht, sind Sie die erste, die es erfährt."

Sie lachte leise. "Gut. Dann bis später." Bevor sie ging, wandte sie sich noch kurz an Angelo. "Bis heute abend", sagte sie leise, während sie ihm liebevoll eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Erst dann machte sie sich zum letzten Mal auf den Weg zu Sydneys Büro.



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
09:51



Die große Wanduhr tickte wie eh und je vor sich hin, doch trotzdem schien sich ihr Rhythmus verändert zu haben. Sydney lächelte. Früher hatte sie jeden Tag im Centre in kleine Ewigkeiten eingeteilt. Jetzt zeigte sie nur noch die letzten Stunden bis zum Ende des Centres an.

Miss Parker war schon vor über einer Stunde wieder gegangen, nachdem sie ihm gesagt hatte, daß Broots seine Aufgabe fast abgeschlossen hatte. Sie wirkte noch immer leicht erschüttert auf ihn, aber das war nur verständlich. Im Laufe der Zeit würde sie alles verarbeiten. Ihre Schwangerschaft verlieh ihr Stabilität, und wer auch immer der Mann in ihrem Leben war, auch er schien einen guten Einfluß auf sie zu haben.

Das Telefon klingelte. Sydney hob ab.

"Sydney hier."

"Hallo, Sydney."

"Jarod!" Ja, natürlich. Das Ende des Centres stellte in ihrer beider Leben einen wichtigen Moment dar. Es wunderte Sydney nicht, daß Jarod jetzt mit ihm sprechen wollte.

"Sag jetzt bloß nicht, daß du überrascht bist, von mir zu hören."

Sydney lachte leise. "Das werde ich nicht." Er machte eine kurze Pause. "Jetzt ist es vorbei. Du bist frei, Jarod."

"Wir alle sind jetzt frei. Sag mir, Sydney, wie fühlst du dich jetzt?"

"Erleichtert", antwortete er sofort. "Die Zeiten, in denen das Centre Unheil angerichtet hat, sind vorbei. Ich habe schon fast nicht mehr damit gerechnet." Sydney schwieg, dachte an all die Dinge, die er Jarod sagen wollte. Dann wurde ihm klar, daß er nun endlich genug Zeit dafür hatte. Jarod hatte recht - sie waren alle frei. Nichts konnte...

Die Tür zu seinem Büro wurde aufgerissen. Mr. Parker stand in der Tür. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er nicht auf eine freundliche Unterhaltung aus.

"Syd?"

"Ich rufe gleich zurück", sagte er, dann legte er auf. "Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" wandte er sich an Parker.

"Wo ist meine Tochter?"

"Ich habe keine Ahnung." Das stimmte sogar. Als Miss Parker gegangen war, hatte sie ihm nicht gesagt, was sie vorhatte. Aber selbst wenn er es gewußt hätte, er hätte es Mr. Parker bestimmt nicht verraten. Parker kniff die Augen zusammen. Sein wütender Blick prallte wirkungslos an Sydney ab.

"Ich warne Sie, Sydney. Legen Sie sich nicht mit mir an."

Sydney hob fragend die Brauen.

"Warum sollte ich? Hören Sie, wieso versuchen Sie es nicht in Miss Parkers Büro?"

Er wollte den anderen Mann nur noch so schnell wie möglich loswerden. Miss Parker war mit Sicherheit nicht in ihrem Büro, aber ihr Vater sollte das ruhig selbst herausfinden. Je schneller er ging, desto geringer war die Gefahr, daß Sydney dem Wunsch nachgab, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Es gelang ihm nur mit Mühe, sich daran zu erinnern, daß der Mann gestern seinen einzigen Sohn verloren hatte. Nur das hinderte ihn daran, den letzten Rest seiner Höflichkeit aufzugeben.

In Parkers Gesicht arbeitete es. Schließlich nickte er langsam, dann drehte er sich um und verließ Sydneys Büro. Es war Sydneys letzte Begegnung mit dem alten Leiter des Centres.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
09:59



Ungeduldig starrte Jarod auf die Uhr. Als sein Handy klingelte, ging er sofort ran.

"Syd?"

"Ja, ich bin's, Jarod."

Erleichtert stieß er den Atem aus.

"Was ist passiert?"

"Oh, ich hatte nur einen kleinen Besuch von Mr. Parker. Er hat seine Tochter gesucht."

"Miss Parker..."

Jarod runzelte besorgt die Stirn. Nach Lyles Tod traute er diesem Monster alles zu. Durchaus möglich, daß er sie für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte.

"Hast du eigentlich noch Kontakt zu ihr?"

Er biß sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken.

"Ja, gelegentlich", brachte er hervor. So gerne er Sydney auch eingeweiht hätte, er stimmte mit Marine darin überein, damit noch eine Weile zu warten. Wenigstens bis sich die erste Aufregung gelegt hatte.

"Ich mache mir ein wenig Sorgen um sie", gestand Sydney. Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr. "Es scheint, daß es... jemanden in ihrem Leben gibt. Sie hat mir nicht viel von ihm erzählt, aber..."

"Ich glaube, du mußt dir keine Sorgen machen. Soweit ich das beurteilen kann, versucht er alles, um sie glücklich zu machen."

"Oh, gut." Ein neuerliches Zögern war ein deutlicher Hinweis darauf, daß es in dieser Hinsicht noch etwas gab, das Sydney beunruhigte.

"Syd?"

"Ja?"

"Ist sonst alles in Ordnung?"

Wieder ein kaum merkliches Zögern. "Ja. Ja, ich denke schon. Jarod, wenn das alles hier vorbei ist, sollten wir uns treffen."

"Sicher. In nächster Zeit ist es schlecht, aber in ein paar Tagen können wir uns sehen."

"Ich freue mich schon sehr darauf, dich wiederzusehen."

"Ich auch, Syd. Ich auch."

Beim Gedanken an Sydneys Reaktion lächelte Jarod amüsiert. Das versprach ein überaus interessantes Treffen zu werden.

Sie legten beide auf. Jarod lehnte sich auf der Couch zurück. Endlich war es vorbei. Jetzt konnte sein Leben von vorne beginnen - diesmal zusammen mit Marine. Diese Überlegung erfüllte ihn mit einem unvorstellbaren Glücksgefühl. Endlich wurde alles gut.


Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
14:32



"Gehen wir nach Hause?"

Angelos Frage riß Miss Parker aus ihren Grübeleien. Sie lächelte warm.

"Ja, Angelo. Wir gehen nach Hause."

"Das ist gut."

Es waren nur noch wenige Meter bis zu ihrem Haus. Während sie den Wagen parkte, dachte sie kurz an Broots. Er und Debbie bereiteten im Moment sicher schon ihren Aufbruch vor. Sie und Sydney würden noch ein wenig länger bleiben - nur um sicherzugehen, daß die Behörden auch wirklich reagierten. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern.

Sobald der Wagen stand, kletterte Angelo auch schon nach draußen. Miss Parker hielt ihn nicht auf. Die Umgebung war sicher, und es war schon so lange her, daß Angelo frei und außerhalb des Centres gewesen war. Niemand hatte ihren gemeinsamen Aufbruch bemerkt, dafür war das Durcheinander im Centre viel zu groß.

Als sie ebenfalls ausstieg, sah sie, wie sich die Haustür öffnete. Der Anblick von Jarod, wie er ihr entgegenkam, ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie lief die letzten Meter zu ihm und ließ sich dann von ihm in die Arme schließen.

"Hallo, mein Herz", wisperte er liebevoll in ihr Haar. "Du hast mir gefehlt."

"Jarod, endlich."

Er drückte sie fest an sich, bevor er sich wieder von ihr löste, um einen Blick auf Angelo zu werfen, der die nähere Umgebung erforschte.

"Wir haben's geschafft, Marine!" rief er, hob sie hoch und wirbelte sie glücklich herum. Miss Parker lachte, ließ sich nur zu gerne von seiner Fröhlichkeit anstecken.

"Ja, das haben wir", bestätigte sie glücklich. Erst langsam wurde ihr klar, daß er tatsächlich recht hatte. Die Behörden leiteten wahrscheinlich schon die ersten Schritte gegen das Centre ein. Ihr Plan hatte wirklich funktioniert. Es gab nur noch eine Sache, die ihr ein wenig Unbehagen bereitete. Zwar hatte Broots alles gelöscht, was sie alle mit dem Centre in Verbindung bringen könnte, aber niemand hinderte Raines oder ihren Vater daran, ihre Namen zu erwähnen. Allerdings dürfte es den Behörden äußerst schwerfallen, Beweise für ihre Existenz zu finden. Und selbst wenn es ihnen doch gelingen sollte, gab es immer noch die Kronzeugenregelung. Was das Centre betraf, war alles geregelt.

"Marine? Kommst du?"

Jarod sah sie fragend an. Sie nickte und griff nach seiner Hand.

"Ja. Laß uns reingehen."

Es dauerte einen Augenblick, um Angelo dazu zu überreden, sie zu begleiten. Erst als sie ihm versicherten, daß er ab jetzt so oft er wollte nach draußen gehen konnte, folgte er ihnen nach drinnen.

Miss Parker ging hinter Jarod und Angelo, betrachtete die beiden liebevoll. Sie gehörten beide zu ihrer Familie. Zu der Familie, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Der Gedanke veranlaßte sie zu einem Lächeln, das verblaßte, als sie daran dachte, daß Angelos Aufbruch schon für diesen Abend geplant war.

"Jarod?" fragte sie leise, als sie im Wohnzimmer angekommen waren. Angelo sah sich interessiert um und ging dann nach draußen auf die Veranda. Jarod kam zu ihr, legte einen Arm um ihre Taille.

"Hm?"

"Bleibt heute abend hier. Bring Angelo erst morgen fort, ja?"

Er sah sie forschend an. "Er wird dir sehr fehlen, habe ich recht?"

"Natürlich. Immerhin sind wir zusammen aufgewachsen."

"Wir werden ihn oft besuchen", versicherte Jarod. Sein Tonfall wurde weich. "Es ist früh genug, wenn wir morgen aufbrechen."

Miss Parker küßte ihn auf die Wange. "Kluge Entscheidung", wisperte sie dunkel, und Jarod zog sie enger an sich, um sie zu küssen. Der Moment endete viel zu schnell, als Angelo zurück ins Wohnzimmer kam, beinahe genauso aufgeregt wie ein kleiner Junge am Weihnachtsmorgen.

"Angelo ist frei!" verkündete er übermütig.

Jarod zog sich ein wenig von Miss Parker zurück, ein breites Grinsen auf den Lippen. "Das stimmt, mein Freund", bekräftigte er zufrieden. "Möchte vielleicht noch jemand eine heiße Schokolade?"

Miss Parker unterdrückte ein amüsiertes Grinsen. Manchmal schien es fast, als wäre er nie richtig erwachsen geworden. Eine Eigenschaft, die ihn umso liebenswerter machte. Angelo nickte begeistert, und sie zuckte mit den Schultern. "Wieso nicht?"

"Gut, kommt sofort." Jarod verschwand in der Küche. Mit einem Seufzen ließ sich Miss Parker auf die Couch sinken. Nach kurzem Zögern setzte sich Angelo neben sie. Er streckte eine Hand nach ihr aus. Sie ergriff sie. Angelo neigte den Kopf leicht zur Seite. Verschiedene Emotionen spielten über sein Gesicht, Emotionen, die sie als ihre eigenen wiedererkannte. Dann hellte sich seine Miene auf, spiegelte große Freude wieder.

"Tochter", sagte er. Miss Parker sog erstaunt die Luft ein. War es möglich, daß er das wußte? Dr. Simmerson hatte ihr erst gestern mitgeteilt, daß sie eine Tochter erwartete. Seitdem hatte der Gedanke sie nicht mehr losgelassen, also mußte es für Angelo fast offensichtlich sein. Sie überlegte kurz, ob sie ihn bitten sollte, Jarod nichts davon zu erzählen. Nein, dachte sie dann, es ist Zeit, daß er es erfährt. Eigentlich war es doch ziemlich dumm von ihr gewesen, es ihm nicht sofort zu sagen. Aber ein Teil von ihr hatte noch immer Angst davor.

Als Jarod zurückkehrte, nahm Angelo einen der Becher und ging zurück auf die Veranda. Die Aussicht schien ihn sehr zu faszinieren. Jarod ließ sich neben ihr nieder. Eine Weile betrachtete er sie nur, dann streckte er eine Hand nach ihr aus, um sie zärtlich an der Wange zu berühren.

"Also", fragte er, "hast du für heute abend irgend etwas Besonderes geplant?" Sie kannte diesen Tonfall genau und konnte nicht verhindern, daß sich ein Lächeln auf ihre Lippen schlich.

"Ach, weißt du, die letzten Tage waren für uns alle sehr anstrengend. Eigentlich wollte ich heute früh ins Bett gehen..."

Jarod erwiderte ihr Lächeln. "Gute Idee", murmelte er, während er ihr tief in die Augen sah. "Glaubst du, jetzt wäre es zu früh?"

Miss Parker lachte, fühlte sich zum ersten Mal seit Tagen wieder befreit und unbeschwert. Irgendwo im Hintergrund lauerten noch immer die schlechten Erfahrungen der letzten Zeit, aber sie begannen bereits langsam an Bedeutung zu verlieren. In Jarods Nähe schienen ihre Wunden schneller zu heilen, besonders die in ihrer Seele.

"Vielleicht ein bißchen", meinte sie belustigt. "Außerdem möchte ich auf keinen Fall die Abendnachrichten verpassen", fuhr sie ein wenig ernster fort. Jarod nickte.

"Ja, die dürften ziemlich interessant werden." Er seufzte übertrieben schwer. "Na gut, bleiben wir eben noch ein wenig auf. Was sollen wir mit dem Rest des Tages anfangen?"

Sie überlegte kurz. "Laß uns mit Angelo einen Spaziergang machen", schlug sie dann vor. "Draußen ist es für ihn mit Sicherheit interessanter als hier drinnen."

"Ja, warum eigentlich nicht?" Seine Augen leuchteten, und als sie ihn fragend ansah, vertiefte sich sein Lächeln. "Jetzt bekomme ich endlich mal mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen du aufgewachsen bist", erklärte er. Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Dad hat nicht viel davon gehalten, mich allein in der 'Wildnis' herumlaufen zu lassen. Gott sei Dank war Mom da anderer Ansicht. Aber wir sind auch hin und wieder gemeinsam losgezogen. Dann hat sie mir ihre Lieblingsplätze im Wald gezeigt." Ein warmes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie an die gemeinsame Zeit mit ihrer Mutter dachte. Bevor Jarod anfangen konnte, sich Sorgen um sie zu machen, stand sie auf und zog ihn mit sich hoch.

"Komm, da draußen gibt es eine Menge zu sehen!" Es würde ihr guttun, gemeinsam mit ihm und Angelo Abschied von den Orten ihrer Kindheit zu nehmen.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
09:26



Angelo saß schon im Auto, eifrig damit beschäftigt, sich mit dem Autoradio vertraut zu machen. Miss Parker beobachtete ihn von der Tür aus. Sie hatten sich bereits voneinander verabschiedet, und er fehlte ihr jetzt schon. Jarod trat von hinten an sie heran.

"Bist du bereit?" erkundigte er sich sanft. Ohne sich umzudrehen, schüttelte sie den Kopf.

"Nein. Aber Hauptsache, Angelo ist es. Er wird sich dort wohl fühlen." Ihr fiel selbst der leise Zweifel in ihrer Stimme auf.

"Das wird er. Ich verspreche es dir, Marine. Und wenn nicht, können wir ihn jederzeit zu uns holen."

"Mhm", murmelte sie, noch immer nicht ganz überzeugt, aber bereit, Jarod zu glauben. Er trat um sie herum, schloß sie kurz in seine Arme.

"Ich werde noch zwei Tage bei ihm bleiben, um sicherzugehen, daß er sich gut einlebt", erklärte er. Miss Parker nickte. Sie hatten das alles schon besprochen und glaubten beide, daß es so für Angelo das Beste war. Nur so konnte er beginnen, ein eigenes Leben zu führen.

"Hey, es sind doch nur zwei Tage", versuchte er, sie aufzuheitern. Sie bemühte sich, zu lächeln.

"Ich weiß", erwiderte sie leise. "Aber du wirst mir trotzdem sehr fehlen, Jarod."

"Du mir auch. Ich liebe dich, Marine", sagte er zärtlich. Diesmal gelang ihr ein Lächeln, wenn es auch etwas traurig wirken mochte.

"Und ich liebe dich. Paßt gut auf euch auf, ja?"

"Versprochen."

Er zog sie ganz nah an sich, küßte sie lange und leidenschaftlich. Schon jetzt glaubte sie, ein undeutliches Sehnen in ihrem Kuß spüren zu können. Sie erwiderte den Kuß, ließ ihn dann nur sehr widerstrebend gehen.

Für einen Moment blieb er noch bei ihr stehen, den Kopf leicht an ihren gelehnt. "Wenn ich wieder da bin, führen wir ein langes Gespräch über uns, in Ordnung?"

"In Ordnung." Sie küßte ihn noch einmal, ganz leicht nur, auf die Lippen, dann sah sie zu, wie er zum Auto ging. Er winkte zum Abschied, und schon kurz darauf war der Wagen aus ihrer Sicht verschwunden. Mit einem Seufzen ging sie zurück ins Haus. Jarod hat recht, versuchte sie sich aufzumuntern. Es sind doch nur zwei Tage.

Um sich abzulenken, dachte sie an den gestrigen Abend zurück. Die Nachrichten waren tatsächlich interessant gewesen - es war sogar schon zu den ersten Verhaftungen gekommen.

Miss Parker ging nach draußen auf die Terrasse, sah hinaus aufs Meer. Die Identität des Triumvirats war nicht länger ein Geheimnis. Es hatte sie nicht sehr überrascht, herauszufinden, daß sowohl ihr Vater als auch Raines dazugehört hatten. Und vor wenigen Wochen hatte Lyle den dritten Platz eingenommen, nachdem alle Hindernisse vorher aus dem Weg geräumt worden waren. Sie war mehr als erleichtert, daß niemandem der Hauptschuldigen die Flucht gelungen war. Sogar Brigitte befand sich jetzt hinter Schloß und Riegel - ein befriedigender Gedanke. Nicht einmal die besten Anwälte konnten ihnen jetzt noch helfen. Dazu war die Beweislast einfach zu erdrückend.

Miss Parker verzog kurz das Gesicht, als sie daran dachte, daß sie Jarod noch immer nichts von ihrer Schwangerschaft gesagt hatte. Nun, er würde ja bald wieder da sein, dann konnte sie es ihm in aller Ruhe erzählen. Die Frage, wie er wohl reagieren würde, beunruhigte sie noch immer ein wenig, aber mittlerweile schob sie das auf ihre Hormone. Sie lächelte kurz. Wenigstens hielt sich bis jetzt die morgendliche Übelkeit in Grenzen. Offenbar würde sie eine sehr rücksichtsvolle Tochter bekommen.

Nach ein paar Minuten kehrte sie ins Haus zurück, ganz versunken in ihre Erinnerungen an die letzte Nacht. Oh ja, sie würde Jarod wirklich vermissen - auch wenn er nur für zwei Tage fort war.

Unschlüssig sah sie sich im Wohnzimmer um. Sollte sie vielleicht schon mal damit beginnen, einige Sachen einzupacken? Zwar hatte sie mit Jarod noch nicht darüber gesprochen, aber sie war ziemlich sicher, daß auch er Blue Cove so bald wie möglich verlassen wollte.

Als sie an ihrem Schreibtisch vorbeikam, sah sie einen Brief dort liegen. Es klebte bereits ein Briefmarke darauf. Jarod mußte ihn vergessen haben. Sie wollte ihn aufheben, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als ihr Blick auf die Adresse fiel. Ein Schock der Erkenntnis durchfuhr sie, verwandelte sich binnen Augenblicken in eiskalte Angst.

Nia. Der Brief war an Nia adressiert. Miss Parker ließ ihn fallen, als hätte sie sich an dem Umschlag verbrannt. Nein. O nein, bitte nicht. Wie betäubt trat sie zurück, bis sie gegen einen Sessel stieß. Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden. Es gelang ihr nicht. Verzweiflung erfüllte sie. Plötzlich, in Sekundenbruchteilen, hatte sich ihr ganzes Leben verändert.

Irgendwie gelangte sie in ihr Schlafzimmer. Das Bett war noch nicht gemacht, war noch genauso zerwühlt wie vor ein paar Stunden, als sie aufgestanden waren. Tränen füllten ihre Augen, aber sie blinzelte sie zurück. Wut flackerte in ihr auf, Wut auf sich selbst. Wie hatte sie nur so naiv sein können?

Sie setzte sich auf die Bettkante, ließ sich dann nach hinten fallen. War denn alles nur eine Lüge gewesen? Das konnte nicht wahr sein, es durfte einfach nicht wahr sein. Die Stimme ihrer Vernunft sagte ihr, daß es nicht so war, aber ihre Gefühle sagten etwas anderes. Es tat weh. Es tat mehr weh als alles, was sie bisher erlebt hatte. Ganz ähnlich hatte sie sich nach dem Tod ihrer Mutter gefühlt. Doch jetzt kam noch enttäuschtes Vertrauen zu dem unerträglichen Gefühl des Verlustes.

Jarod würde ihr doch so etwas niemals antun - oder doch? War das vielleicht seine Rache für all die vielen Male, die sie ihn verletzt hatte? Falls ja, dann funktionierte es hervorragend. Oh Gott, was sollte sie jetzt nur tun? Alles wäre etwas weniger schlimm, wenn sie wenigstens nicht auch noch schwanger wäre... Nein! Sie liebte dieses Kind, und das Wissen von seiner Existenz machte sie mehr als glücklich. Ihre Tochter war alles, was sie jetzt noch hatte.

Miss Parker zog die Beine an den Körper, rollte sich zusammen. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.



Als sie aufwachte, hatte sie Kopfschmerzen. Verwirrt fragte sie sich, was sie im Bett machte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte schon Mittag sein. Dann fiel ihr alles wieder ein. Erneut durchzuckte sie heißer Schmerz. Sie faltete die Hände über ihrem Bauch.

"Jetzt gibt es nur noch uns beide", wisperte sie. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, setzte sie sich auf. Es gab keinen Trost, aber trotzdem durfte sie sich jetzt nicht gehenlassen. Sie mußte konzentriert nachdenken und die beste Lösung für ihre Tochter und sich selbst finden. Jetzt empfand sie beinahe Erleichterung darüber, daß sie Jarod nichts von ihrer Schwangerschaft gesagt hatte.

Selbst wenn er sie nicht mit Absicht getäuscht hatte - auch wenn sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen konnte - konnte sie ihm nun nichts mehr von ihrer Tochter sagen. Jarod war überaus verantwortungsbewußt. Wenn er erfuhr, daß er eine Tochter hatte, würde er vermutlich bei ihr bleiben wollen. Und das könnte sie nicht ertragen. Eine Beziehung aus Pflichtgefühl würde für sie beide über kurz oder lang zur Qual werden.

Wieder drohten ihr Tränen in die Augen zu steigen, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit mehr. Sie zwang sich, nur noch an ihre Tochter zu denken. Früher oder später würde der Schmerz nachlassen, und bis dahin war ihre Tochter aller Trost, den sie brauchte.

"Verdammt, wir beide werden auch sehr gut allein zurechtkommen!" sagte sie leise. Tief in ihr drin wußte sie, daß sie das gar nicht wollte, aber im Moment sah sie keine andere Möglichkeit. Wieder und wieder sah sie Jarods Gesicht vor sich, sah die Liebe in seinen Augen. Sie schloß die Augen, versuchte, die ungebetenen Bilder zu verdrängen. Der Schmerz blieb, ließ sich nicht fortschieben. Wie hatte er sie auf diese Weise ansehen und sie gleichzeitig so sehr belügen können? Verdammt, es ergab einfach keinen Sinn! Aber das war häufig so mit Gefühlen - sie machten nur selten einen Sinn.

Miss Parker ging ins Badezimmer, ließ zuerst kaltes Wasser über ihre Hände laufen, spritzte sich dann etwas davon ins Gesicht. Dann machte sie sich daran, die Spuren der Trauer aus ihrem Gesicht zu waschen. Wenn sie Sydney besuchte, sollte er sich keine Sorgen um sie machen.

Sie starrte in den Spiegel. Wem hatte sie eigentlich etwas vormachen wollen? Nach allem, was zwischen ihnen passiert war, konnte Jarod sie doch unmöglich noch lieben. Vielleicht war das früher einmal der Fall gewesen - lange, bevor er Nia getroffen hatte. Er mußte sie sehr lieben. Obwohl der Gedanke sie mit unerträglichem Schmerz erfüllte, wußte sie, was sie tun würde. Sie würde Jarod freigeben. Offenbar war es das, was er wollte. Wenn er mit Nia glücklich werden konnte, würde sie ihm nicht im Weg stehen. Aber sie würde ihm nicht die Befriedigung geben, seine Rache an ihr zu vollenden. Bei Jarods Rückkehr würde sie nicht mehr hier sein.



Sydneys Appartement
Blue Cove, Delaware
15:18



"Und, was haben Sie jetzt vor, Miss Parker?" erkundigte sich Sydney sanft. Er saß auf der Kante seines Bettes und ließ seinen Blick über die Kartons und Kisten schweifen, die in seinem Schlafzimmer standen. Jetzt, wo das Centre keine Gefahr mehr darstellte, gab es für ihn keinen Grund mehr, in Blue Cove zu bleiben.

Miss Parker wandte sich halb vom Fenster ab. Die Sonne erhellte ihr Gesicht, ließ Sydney sowohl die Sorge der letzten Wochen, als auch die Erleichterung der letzten Tage erkennen. Außerdem gab es da noch das unübersehbare Leuchten in ihren Augen. Sie erwiderte seinen Blick und zuckte dann ganz leicht mit den Schultern.

"Ich werde ebenfalls fortgehen. Mich hält hier nichts mehr. Die wenigen Dinge, die ich von meiner Mutter habe, kann ich überallhin mitnehmen."

"Das klingt ziemlich... endgültig."

"Es ist Zeit für mich, mit der Vergangenheit abzuschließen. Wenn ich mich nicht sehr irre, raten Sie mir schon seit Jahren dazu, Syd", meinte sie mit einem leichten Lächeln.

"Schön, daß Sie endlich auf mich hören, Miss Parker", erwiderte er und stand auf. "Wissen Sie schon, wohin Sie gehen werden?", fragte er, während er in einem der Regale stöberte.

"Nein, darüber habe ich mir bis jetzt noch keine großen Gedanken gemacht", gab sie zu. "Ich wollte erst einmal diese ganze Sache mit dem Centre hinter mich bringen. Man sollte nie zu weit im voraus planen."

Sydney nickte zustimmend, dann fand er endlich, wonach er gesucht hatte.

"Na also, da ist er ja."

Zufrieden betrachtete er den Schlüsselbund in seiner Hand.

"Wofür ist der?" fragte Miss Parker neugierig.

"Das ist... war mein Notfallplan. Ein Ort, um sich für eine Weile vor dem Centre zu verstecken. Da das ja nun nicht mehr notwendig ist, und ich beschlossen habe, den Staaten eine Zeitlang den Rücken zu kehren, dachte ich, daß Sie vielleicht Verwendung dafür haben."

Miss Parker sah ihn sprachlos an.

"Kurz nachdem Jacob und ich angefangen haben, für das Centre zu arbeiten, haben wir ein Haus in Kanada gekauft. Es war Jacob, der darauf bestand, und mittlerweile bin ich sicher, daß Catherine ihn auf die Idee gebracht hat. Das Haus ist sehr geräumig und an einem See gelegen. Ein bißchen einsam vielleicht..."

Er zuckte mit den Schultern, und Miss Parker kam zu ihm und schloß ihn wortlos in die Arme.

"Danke, Sydney", murmelte sie an seiner Schulter. Nach der Auflösung des Centres mußte sich niemand von ihnen Sorgen um seine finanzielle Situation machen, aber die Geste rührte sie. "Ihr Angebot bedeutet mir sehr viel."

"Na ja, eigentlich wollte ich nur sichergehen, daß ich weiß, wo Sie sind, wenn ich von meiner Reise zurückkehre", sagte Sydney in einem halbernsten Tonfall. Miss Parker trat einen Schritt zurück und sah ihn gespielt vorwurfsvoll an, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem warmen Lächeln.

"Ich erwarte, daß Sie uns besuchen, sobald Sie zurück sind", erklärte sie.

"Versprochen. Uhm, ich weiß, daß es mich eigentlich nichts angeht, aber... Werden Sie allein gehen?"

"Sie sprechen vom Vater meines Kindes", sagte sie mit einem Seufzen. Für einen kurzen Augenblick huschte ein verletzter Ausdruck über ihr Gesicht. Sorge regte sich in ihm, aber der Schmerz war nur so kurz zu sehen, daß er fast glaubte, sich geirrt zu haben.

"Ja. Sehen Sie, es ist sehr einsam da oben. Was ist, wenn Sie Hilfe brauchen?"

Sie berührte ihn sanft am Arm.

"Sydney, ich weiß Ihre Sorge um mich und mein Kind sehr zu schätzen, aber ich versichere Ihnen, daß ich sehr gut alleine zurechtkommen werde. Das ist eins von den nützlicheren Dingen, die ich im Centre gelernt habe."

Sydney sah ein, daß es keinen Sinn hatte, mit ihr darüber zu streiten. In manchen Dingen konnte sie unglaublich stur sein. Er hatte sie nicht überreden können, den Vater ihres Kindes über ihren Zustand zu informieren, und auch hier würde er keinen Erfolg haben. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, daß es so für alle Beteiligten am besten war, und damit war die Sache für sie erledigt.

"Na schön", lenkte er ein. "Aber bitte versprechen Sie mir, daß Sie gut auf sich aufpassen werden, in Ordnung?"

"Natürlich, Syd."

Er ließ es dabei bewenden und hoffte, daß sie vernünftig genug war, ihre Meinung irgendwann einmal zu ändern.

"Und Syd?"

"Ja?"

"Mein Name ist Marine."


Sydneys Appartement
Blue Cove, Delaware
Zwei Tage später
18:08



Die letzten Kartons waren verladen, und nur noch wenige Dinge zeugten davon, daß hier einmal jemand gewohnt hatte. Sydney betrachtete die traurigen Reste seiner Einrichtung. Ebenso wie Miss Parker hatte er nicht vor, noch einmal nach Blue Cove zurückzukehren. Zu lange war er hier gefangen gewesen.

Am Nachmittag hatte er Miss Parker zum Flughafen gebracht und sich von ihr verabschiedet. Die letzten beiden Tage hatte er damit verbracht, ihr dabei zu helfen, ihren Haushalt aufzulösen und die Dinge, die sie behalten wollte, zu verpacken. Danach hatte er sich überzeugt, daß es Luca an nichts fehlte und sie in guten Händen war, solange er sich nicht um sie kümmern konnte.

Er war der letzte, der diesen Ort verließ. Broots und Debbie waren zuerst gegangen und hatten versprochen, sich bald zu melden. Sie alle stimmten stillschweigend überein, den Kontakt zueinander nicht abreißen zu lassen. In ein paar Monaten, wenn Gras über alles gewachsen war, würden sie sich treffen.

Unwillkürlich mußte Sydney lächeln. Wie würde Broots wohl reagieren, wenn er herausfand, daß Miss Parker ein Kind hatte? Bestimmt sehr überrascht. Schließlich war es ihm auch nicht anders ergangen. Vielleicht hatte es aber auch so kommen müssen. Sie war Catherine so ähnlich...

Ein leises Klopfen an der Tür riß Sydney aus seinen Gedanken. Er stand auf, um die Tür zu öffnen.

"Jarod!"

"Hallo, Syd. Darf ich reinkommen?"

"Natürlich."

Jarod ging an ihm vorbei und sah sich flüchtig um.

"Du gehst also auch fort", stellte Jarod fest.

"Ja, aber nur für eine Weile. Ich kann hier nicht länger bleiben."

"Verständlich. Wann wolltest du es mir sagen?"

"Jarod, ich..."

"Wann, Sydney?"

Sydney seufzte. Er hatte diesen Augenblick gefürchtet. Es kam ihm vor, als würde er Jarod im Stich lassen. Der rationale Teil von ihm wußte, daß das Unsinn war, weil Jarod hervorragend allein zurechtkam. Und dieser Teil wußte auch, daß Jarod ihm alles Gute wünschte und es für richtig hielt, von hier fortzugehen. Trotzdem...

Unschlüssig betrachtete Sydney seinen ehemaligen Schützling. Jarod sah nicht sehr gut aus. Er schien nervös und müde zu sein, ging außerdem unruhig durchs Zimmer. Besorgt runzelte Sydney die Stirn.

"Jarod, was ist los?"

"Wo ist sie, Syd? Und sag mir nicht, daß du es nicht weißt. Ich weiß, daß sie es dir gesagt hat."

Ein schwaches Deja-vu-Gefühl befiel Sydney und auf einmal wußte er, worum es ging. Um wen es ging.

"Du sprichst von Miss Parker."

"Von wem sonst?"

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Gott, wie konnte ich nur so blind sein? fragte sich Sydney. Er schüttelte leicht den Kopf. Wenn er nur etwas früher darauf gekommen wäre, dann hätte er den beiden wahrscheinlich einiges Leid ersparen können.

"Sie ist in Kanada. Jacob und ich haben dort mal ein Haus gekauft."

"Kanada... Hat sie gesagt, warum sie fortgegangen ist?"

Sydney fühlte eine Woge des Mitleids für Jarod, aber er beschloß, Miss Parker - Marine, verbesserte er sich in Gedanken - die Erklärungen zu überlassen.

"Ich vermute, sie hatte ähnliche Gründe wie ich. Wahrscheinlich braucht sie etwas Abstand, um über alles nachzudenken", antwortete Sydney ausweichend. Plötzlich fiel ihm wieder der Schmerz ein, den er einen Herzschlag lang in Marines Zügen gesehen hatte. Irgend etwas mußte zwischen den beiden vorgefallen sein. "Gab es keine Anzeichen dafür, daß sie Blue Cove verlassen wollte?" Eigentlich hatte er fragen wollen 'daß sie dich verlassen wollte', aber er brachte es nicht übers Herz.

"Gott, Sydney, nein. Ich habe keine Ahnung, warum sie fort ist. Sie hat nicht einmal einen Brief oder irgend eine andere Erklärung zurückgelassen. Irgend etwas muß passiert sein..."

Sydney ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

"Jarod, hör mir zu. Sie liebt dich. Nach allem, was ich sagen kann, sogar sehr. Geh zu ihr und kläre alles - dann wird alles wieder in Ordnung kommen."

So etwas wie Hoffnung keimte in Jarods Blick auf, verdrängte einen Teil des Schmerzes und der Verwirrung. "Meinst du?"

"Ja", versicherte Sydney fest. "Das ist auch genau das, was sie will. Da bin ich mir absolut sicher."

Jarod lehnte sich erschöpft an eine Wand.

"Sie fehlt mir so", wisperte er. Er schloß für einen Moment die Augen. "Wohin wirst du gehen, Sydney? Werde ich dich auch nicht mehr wiedersehen?"

"Jarod, sieh mich an."

Der Pretender leistete seiner Aufforderung Folge. In seinem Blick lag nicht der Wunsch zu verletzen, sondern nur Angst davor, von allen verlassen zu werden, die er liebte.

"Ich werde die Staaten für eine Weile verlassen, vielleicht durch Europa reisen. Doch dann werde ich zurückkehren, und zwar zu dir und Marine. Ihr seid wie meine eigenen Kinder für mich - ich könnte euch nie zurücklassen. Dafür würdet ihr mir viel zu sehr fehlen."

"Danke, Sydney." Jarod kam zu ihm und schloß ihn kurz in seine Arme. "Danke für alles." Er trat ein paar Schritte zurück, ein verlegenes Lächeln auf den Lippen. "Tut mir leid, daß ich eben so... aggressiv war."

"Schon gut, Jarod. Ich kann gut nachvollziehen, wie du dich fühlst. Komm, laß uns zu meinem Auto gehen. Dort müßte ich noch eine Karte von der Umgebung des Hauses haben. Aber wenn nicht, bekomme ich vielleicht noch eine halbwegs brauchbare Beschreibung aus dem Gedächtnis zusammen."

Jarod erwiderte sein Grinsen eher halbherzig, folgte ihm aber nach draußen. Sydney hoffte, daß er und Marine die Schwierigkeiten zwischen ihnen schnell beseitigen konnten. Es schmerzte ihn, die beiden so leiden zu sehen. Aber wenn Jarod so geschickt vorging wie gewohnt, sollte alles in bester Ordnung sein, wenn er aus Europa zurückkehrte. Und wenn nicht, würde er persönlich dafür sorgen.


Haus von Familie Stiller
Hazen, North Dakota
Am nächsten Tag
15:56



Es war kühl in dem kleinen Vorort von Hazen. Der Wind frischte auf, als Miss Parker aus ihrem Auto stieg. Sie machte nur diesen einen Zwischenstop auf ihrer Reise, und das auch nur, weil die Angelegenheit sehr wichtig für sie war. Aber wahrscheinlich nicht so wichtig wie für die Eltern von Ruth Stiller.

Bevor sie zum Haus von Ruths Eltern gefahren war, hatte sie das Grab auf dem kleinen Friedhof besucht, der nur wenige Blocks entfernt von hier war. Dort hatte sie eine ganze Weile einfach nur gestanden und über das Leben nachgedacht, daß Ruth nie hatte führen können. Da sie einen Teil ihrer Erinnerungen kannte, konnte sich Miss Parker zumindest ein ungefähres Bild von den Wünschen und Hoffnungen der jungen Frau machen. Hoffnungen, die sich nie erfüllt hatten.

Vorsichtig öffnete sie das Gartentor, ging dann langsam auf das gepflegte Haus zu. Ein typisches Reihenhaus, hinter dem sich eine tragische Geschichte verbarg. Von ihren Nachforschungen wußte Miss Parker, daß die Stillers nach Ruths Tod umgezogen waren. Außer Ruth hatten sie noch einen Sohn, der jetzt in Kalifornien lebte.

Sie hatte lange überlegt, ob sie herkommen sollte. Durch ihr Auftauchen rührte sie an Geschichten, die seit langem abgeschlossen waren, brach vermutlich alte Wunden wieder auf. Aber sie fand, daß Ruths Eltern die Wahrheit verdient hatten. Miss Parker war sich sicher, daß Ruth es so gewollt hätte.

Nach kurzem Zögern klingelte sie an der Tür. Kurz darauf hörte sie drinnen Schritte, und dann wurde die Tür geöffnet. Eine alte Frau stand ihr gegenüber. Ihr Gesicht wirkte freundlich, offenbarte aber deutlich die Spuren vergangenen Leids. Das mußte Ruths Mutter sein.

"Mrs. Stiller?" erkundigte sich Miss Parker sanft. Die Frau neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Ja. Kann ich etwas für Sie tun?"

Miss Parker lächelte. Ein Teil von ihr erinnerte sich für den Bruchteil einer Sekunde an Szenen aus einer Kindheit, die nicht ihre eigene gewesene war. Diese Frau war eine liebevolle Mutter gewesen.

"Ich bin Marine Parker. Sie kennen mich nicht, aber wenn es Ihnen nicht zuviel ausmacht, würde ich mit Ihnen gerne über Ihre Tochter Ruth sprechen."

Eine Mischung aus Überraschung und der Andeutung von Schmerz verzog die Züge von Mrs. Stiller. Sie überlegte, nickte dann und trat einen Schritt zur Seite. "Bitte, kommen Sie herein."

Miss Parker folgte ihr ins Haus. Mrs. Stiller führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr dort einen Platz an. Ihre Augen beobachteten sie wachsam, strahlten aber auch Furcht vor dem aus, was ihre Besucherin zu sagen haben mochte.

"Sie sind zu jung, um Ruth gekannt haben zu können", stellte Mrs. Stiller fest.

"Das stimmt", gab Miss Parker sofort zu. "Trotzdem habe ich Informationen über sie." Sie beugte sich vor, erfüllt von Mitgefühl. "Mrs. Stiller, ich habe meine Mutter verloren, als ich noch sehr jung war. Ich kann Ihren Schmerz also zumindest teilweise nachvollziehen. Nach allem, was ich weiß, ist Ihre Tochter eine wunderbare junge Frau gewesen, die durch einen Fehler ihre Zukunft verspielt hat. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie Ihren Schmerz noch einmal durchleben lasse, aber es gibt etwas, das Sie über Ihre Tochter wissen sollten."

Ruths Mutter sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. Sie schien abzuwägen, was sie von Miss Parker halten sollte. Und Miss Parker stellte leicht erstaunt fest, daß es ihr sehr wichtig war, welche Meinung Mrs. Stiller von ihr hatte.

"Ruth ist lange tot. Was könnte so wichtig sein, daß Sie extra hierher kommen, um es mir zu sagen?"

"Bis vor kurzem habe ich für eine Organisation gearbeitet, die sich unter anderem mit der Erforschung der Vergangenheit beschäftigt hat. Bei meiner Arbeit bin ich auf Ihre Tochter gestoßen. Mrs. Stiller, Ihre Tochter war keine Mörderin. Sie mag einen Fehler gemacht haben - aber sie hat nie einen Menschen getötet."

Mrs. Stiller lehnte sich in ihrem Sessel zurück. "Ich wußte es", flüsterte sie. "Ich habe es immer gewußt." In ihrer Stimme war bestätigte Hoffnung zu hören und tiefe Zuneigung zu ihrer toten Tochter. "Sie sind nur hergekommen, um mir das zu sagen?" fragte sie dann.

Miss Parker nickte. "Ja. Wie ich schon sagte - ich fand, daß Sie das wissen sollten. Es tut mir leid, wenn ich Ihre Zeit verschwendet habe..."

Die alte Frau lächelte warm. "Nein, Miss Parker, das haben Sie nicht. Ganz im Gegenteil. Ich kenne nicht viele Menschen, die sich die Mühe gemacht hätten, nach so vielen Jahren eine Ungerechtigkeit richtigzustellen. Ich danke Ihnen."

"Sie müssen mir nicht danken, Mrs. Stiller. Ruths Schicksal hat mich sehr berührt. Ich wollte nicht, daß diejenigen, die sie geliebt hat, ein falsches Bild von ihr haben."

"Ich habe nie an meiner Tochter gezweifelt - aber es ist gut, Gewißheit zu haben."

Miss Parker erhob sich. "Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen."

"Ganz meinerseits, Miss Parker, ganz meinerseits." Mrs. Stiller griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. "Danke", sagte sie noch einmal, voller Wärme. Ihre Besucherin lächelte leicht.

"Schon gut", erwiderte sie einfach. Jetzt war sie froh, daß sie hergekommen war. Ruths Mutter brachte sie zur Tür.

"Leben Sie wohl, Miss Parker", sagte sie mit einem sanften Lächeln. Sie erwiderte das Lächeln und drückte noch einmal Mrs. Stillers Hand.

"Auf Wiedersehen, Mrs. Stiller."

Nach einem letzten langen Blick drehte sie sich um, ging zurück zu ihrem Wagen. Nun stand nichts mehr zwischen ihr und Kanada. Einen Moment lang bedauerte sie diesen Umstand, aber dann kehrte ihre Entschlossenheit zurück. Ein neues Leben lag vor ihr, auch wenn es nicht ganz das war, was sie sich erhofft hatte.


Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
Am nächsten Tag
19:37



Die Dunkelheit brach langsam über die Landschaft herein, als Miss Parker die letzten Meter zu ihrem neuen Heim zurücklegte. Sydney hatte recht gehabt; das Haus lag wirklich sehr abgelegen. Das letzte Haus, an dem sie vorbeigekommen war, lag jetzt schon fast drei Meilen hinter ihr.

Schließlich tauchte ihr Haus hinter einer Biegung der Straße auf. Sie warf einen Blick durch die Bäume, konnte aber in der Dämmerung nicht viel erkennen. Miss Parker schaltete den Motor aus, ließ aber die Scheinwerfer noch einen Moment lang eingeschaltet, um wenigstens einen kurzen Eindruck von ihrem Zuhause zu bekommen.

Wie die meisten anderen Häuser in der Gegend auch war es aus Holz gebaut. Von außen wirkte es mit seinen zwei Stockwerken äußerst geräumig. An Platz würde es ihr also bestimmt nicht mangeln. Dafür aber an Gesellschaft, fuhr es ihr durch den Sinn. Ärgerlich verdrängte sie den Gedanken. Immerhin war sie hergekommen, um etwas Zeit für sich selbst zu haben.

Nachdem sie die Scheinwerfer auch ausgestellt hatte, griff sie nach der Reisetasche, die auf dem Beifahrersitz stand. Der Rest ihrer Sachen konnte bis zum nächsten Morgen im Auto bleiben. Sie stieg aus und ging zum Haus. Nach ein paar Sekunden fand sie den Schlüssel, den Sydney ihr gegeben hatte, und schloß auf. Es dauerte noch einmal ein paar Sekunden, bis sie den Lichtschalter fand. Skeptisch drückte sie darauf.

Das Licht ging tatsächlich an. "Oh, gut", murmelte Miss Parker erfreut. Neugierig sah sie sich um. Das Haus war in einem bemerkenswert guten Zustand. Die Möbel waren mit Planen und Tüchern abgedeckt, und es war kaum Staub zu sehen. Miss Parker erinnerte sich, wie Sydney ihr erzählt hatte, daß hin und wieder jemand im Haus nach dem Rechten gesehen hatte, für den Fall, daß er schnell einziehen mußte.

Sie ließ ihre Tasche im Wohnzimmer stehen, um sich ein wenig umzusehen. Zuerst ging sie in die Küche. Auch hier war es erstaunlich sauber. Als sie die Schränke öffnete, entdeckte sie sogar einige Vorräte. Es sah wirklich danach aus, als könnte sie hier hervorragend zurechtkommen.

Ihr Blick glitt zur Spüle. Wenn sich jetzt auch noch herausstellte, daß sie fließendes Wasser hatte, war alles in Ordnung. Der Wasserhahn gab zunächst nur ein gurgelndes Geräusch von sich, das Miss Parker dazu veranlaßte, enttäuscht das Gesicht zu verziehen, doch kurz darauf begann das Wasser zu fließen. Erleichtert drehte sie den Hahn wieder zu.

Als nächstes setzte sie ihre Inspektionstour im oberen Stockwerk fort. Nacheinander fand sie dort zwei Schlafzimmer, ein geräumiges Bad und eine Art Arbeitszimmer. Begeistert kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Das Haus gefiel ihr von Minute zu Minute besser. Sie schloß die Tür ab, nahm ihre Tasche und ging zurück nach oben. Dort angekommen, entschied sie sich für das größere der beiden Schlafzimmer. Zum einen sah das große Bett darin viel gemütlicher aus, zum anderen lag es näher am Badezimmer.

Miss Parker lächelte über sich selbst. Eigentlich fühlte sie sich gar nicht so schlecht - solange es ihr gelang, nicht über das Ende des Centres, Lyle oder Jarod nachzudenken. Ihr Lächeln verschwand. Wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie das schaffte.

Geistesabwesend holte sie ein paar Sachen aus ihrer Tasche, um sich dann auf den Weg ins Badezimmer zu machen. Ein schönes, heißes Bad war alles, was sie jetzt noch wollte.


Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
Am nächsten Morgen
10:12



Ein sanfter Wind wiegte die Baumwipfel hoch über dem Boden. Miss Parker stieg aus ihrem Auto aus und sah nach oben. Die Sonne hatte die letzten Wolken vertrieben, schien jetzt ungestört vom Himmel. Es war erstaunlich, wie friedlich hier alles wirkte. Eine elementare Zufriedenheit breitete sich zögernd in ihr aus.

Sie nahm ihre Einkäufe aus dem Kofferraum und brachte sie ins Haus. Die letzte Nacht war nur kurz gewesen, obwohl sie früh ins Bett gegangen war. Gegen vier Uhr morgens war sie schweißgebadet aus einem Alptraum aufgewacht, nach dem sie nicht mehr hatte einschlafen können. Also war sie um fünf schließlich aufgestanden - auch deshalb, weil ihre morgendliche Übelkeit sie aus dem Bett getrieben hatte.

Trotz der langen Reise und des Schlafmangels steckte sie voller Energie, die sie dazu genutzt hatte, das Erdgeschoß auf Vordermann zu bringen. Als die Sonne aufgegangen war, hatte sie ihre Arbeit unterbrochen, um ihre restlichen Sachen aus dem Auto zu holen. Die wenigen größeren Dinge, die sie aus dem Haus ihrer Mutter mitgenommen hatte, würden erst in ein paar Tagen hier eintreffen.

Nachdem sie alles zu ihrer Zufriedenheit eingeräumt hatte, hatte sie versucht, etwas Kaffee zu finden. Ihre Suche war leider ergebnislos verlaufen, so daß sie mit Tee vorlieb genommen hatte. Als nächstes war sie dann in den kleinen Ort gefahren, der fast fünfzehn Meilen entfernt von ihrem Haus lag.

Sie lächelte beim Gedanken an ihren Einkauf. Hier in der Gegend kannte jeder jeden, daher erregte ein neues Gesicht natürlich Aufmerksamkeit. In der Ortschaft hatte sie bereits mehrere Bekanntschaften geschlossen, und für die nächsten Tage konnte sie sicher mit dem ein oder anderen Besucher rechnen. Noch vor ein paar Monaten hätte sie das sicher als aufdringlich empfunden, aber jetzt brachte sie die stumme Prüfung, der sie unterzogen worden war, nur zum Grinsen. In ein paar Wochen, wenn ihre Schwangerschaft nach außen sichtbar geworden war, würden die Leute sicher noch... hilfsbereiter werden.

Miss Parker räumte ihre Einkäufe in die Schränke und überlegte dabei, was sie als nächstes tun sollte. Das Wohnzimmer und die Küche waren soweit in Ordnung, also sollte sie sich vielleicht um das obere Stockwerk kümmern. Vorsichtige Anfragen im einzigen Lebensmittelgeschäft des Ortes hatten ergeben, daß sie keine Schwierigkeiten haben sollte, jemanden zu finden, der sich einmal in der Woche um die gröberen Arbeiten im Haus kümmerte. Und Mr. Morris, der Besitzer des Ladens, hatte ihr versichert, daß sie sich gerne jederzeit an ihn wenden konnte, wenn mit dem Haus irgend etwas nicht in Ordnung sein sollte.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und betrachtete nachdenklich ihr Bett. Hoffentlich hielten ihre Schlafprobleme nicht allzu lange an. Natürlich gab es Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen, aber die wenigsten waren ohne Nachteile für ihr Kind. Von Schlafmitteln hatte sie ohnehin nie viel gehalten. Vielleicht sollte sie einfach so lange wach bleiben, bis sie zu müde für Alpträume war...

Nachdenklich ging sie zu dem großen Fenster, das nach Osten ging und die ersten Sonnenstrahlen des Tages einfing. Die Tatsache, daß es sich um ein Erkerfenster handelte, war ein weiterer Grund gewesen, warum sie sich für dieses Zimmer entschieden hatte. Sie setzte sich, sah hinaus auf die noch fremde Landschaft. Zu ihrer Rechten erstreckte sich hauptsächlich Wald; die meisten der Bäume schienen schon seit Ewigkeiten hier zu stehen. Auf der linken Seite schimmerte das tiefblaue Wasser des Sees, den sie bisher nur im Vorbeifahren gesehen hatte.

Miss Parker erhob sich wieder, um zurück nach unten zu gehen. Das Wetter war viel zu gut, um die ganze Zeit im Haus zu sitzen. Sie betrat die Terrasse, die man durch ein kleines Eßzimmer neben der Küche erreichte. Es war eine große Terrasse, die links und rechts in eine Veranda mündete, so daß das Haus von drei Seiten umfaßt war. Von hier hatte man einen atemberaubenden Blick auf den See. Eine ganze Weile lehnte sie einfach nur am Geländer, blickte hinaus auf das ruhige Wasser. Beinahe wie zu Hause, überlegte sie, schüttelte dann aber den Kopf. Das hier war jetzt ihr Zuhause. Ihres und das ihrer Tochter. Liebevoll strich sie über ihren Bauch. Nur noch ein paar Monate, dann würde sie eine Mutter sein... Der Gedanke war noch immer neu für sie, erfüllte sie aber gleichzeitig mit einer vertrauten Wärme. Wenn sie früher über ihre Zukunft nachgedacht hatte, hatten Kinder darin keine Rolle gespielt, doch schon jetzt konnte sie sich eine Zukunft ohne ihre Tochter nicht mehr vorstellen. Vor ein paar Tagen war auch ein Leben ohne Jarod noch unvorstellbar, schoß es ihr ungebeten durch den Kopf. Schmerz begleitete den Gedanken. Sie schloß kurz die Augen, versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch dann beschloß sie, nicht länger davor wegzulaufen. Irgendwann mußte sie sich damit auseinandersetzen.

Miss Parker warf noch einen letzten Blick auf den See, bevor sie zurück ins Haus ging. Ein Spaziergang würde ihr vielleicht helfen, ihre Gedanken so weit zu ordnen, daß sie in Ruhe über alles nachdenken konnte.



Es war bereits später Nachmittag, als Miss Parker von ihrem Spaziergang zurückkehrte. Sie hatte sich zwar nicht verlaufen, aber die Entfernung unterschätzt, die sie auf dem Hinweg zurückgelegt hatte. Die Sonne begann bereits mit ihrem langsamen Abstieg, als Miss Parker die Tür aufschloß und ihr Haus betrat.

Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, ging sie in die Küche, um etwas zu essen. Eigentlich hatte sie keinen Appetit, aber für ihr Kind war es wichtig, daß sie regelmäßig aß. Ihre Gedanken kreisten noch immer um ihre Mutter, über die sie während ihres Spaziergangs hauptsächlich nachgedacht hatte. Auch sie hatte geplant, den Vater ihres Kindes zu verlassen, um allein mit ihrer Tochter zu leben. In letzter Zeit hatte sie sich oft gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn ihre Mutter sie tatsächlich nach Europa gebracht hätte. Ihr war klar, daß solche Überlegungen nutzlos waren, doch trotzdem konnte sie sich nur schwer davon lösen.

Gedankenverloren stellte sie ihr Geschirr in die Spüle, um es später abzuwaschen. Sie ging nach oben in ihr Schlafzimmer und zog eine kleine Kiste unter ihrem Bett hervor. Darin befand sich alles, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Miss Parker zog ein Album und einen alten Teddybär aus der Kiste hervor, schob die Kiste dann zurück unter das Bett. Dann begab sie sich zurück nach unten, um es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen. Ihr Blick fiel auf den Kamin. Nun, es war zwar eigentlich nicht kalt, aber ein Kaminfeuer hatte etwas ungemein Tröstendes an sich. Holz war zur Genüge vorhanden, auch Anzünder lagen bereit, und so dauerte es nicht lange, bis sie ein Feuer in Gang gebracht hatte.

Anschließend machte sie es sich auf der Couch bequem. Sie nahm das Album vom Tisch, schlug es fast ehrfürchtig auf. Es war ihr Babybuch, das ihre Mutter auch noch weit über ihr Babyalter hinaus geführt hatte. Miss Parker war sich ziemlich sicher, daß ihr Vater nichts von der Existenz dieses Buches gewußt hatte - und selbst wenn, wäre es ihm höchstwahrscheinlich egal gewesen.

Catherine Parker hatte alle wichtigen Momente im Leben ihrer Tochter festgehalten. Ihre Geburt, Geburtstage, ihr erstes Wort, ihre ersten Schritte - alles war liebevoll aufgezeichnet worden. Dieses Buch war ihr wertvollstes Erinnerungsstück an ihre Mutter. Jarod hatte es ihr geschickt, nachdem sie von der Verlobung ihres Vaters erfahren hatte. Jarod...

Sie konnte nicht verhindern, daß sie immer wieder an ihn dachte. Dafür war er zu sehr ein Teil von ihr geworden. Gott, er fehlte ihr so. Verdammt, ihr blieben nicht einmal die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Ständig war da der nagende Zweifel, ob er sie die ganze Zeit über belogen hatte, ob er in Wirklichkeit an eine andere Frau gedacht hatte. Miss Parker griff nach dem alten Teddybär, drückte ihn fest an sich. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er ihr oft Trost geboten.

War es wirklich richtig gewesen, einfach fortzugehen, ohne noch einmal mit Jarod zu reden? Vielleicht gab es ja doch eine Erklärung... Jetzt würde sie es nie erfahren.

Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie hatte so viel verloren, und Jarod war der einzige gewesen, der sie wirklich verstanden hatte, der immer für sie da gewesen war. Wie hatte er das tun können? Alles, was sie jetzt noch von ihm hatte, war ihr Kind. Wie von selbst glitten ihre Hände über ihren Bauch.

"Tut mir leid, daß ich so traurig bin, Kleines", wisperte sie. "Aber es tut so weh - dein Vater fehlt mir sehr. Gott, ich liebe ihn so..." Ihre Stimme brach. Die Tränen brachten keine Heilung - noch nicht. Aber bald würden sie es hoffentlich tun.


Lake Dauphin, Kanada
19:51



Es war schon fast dunkel, als Jarod durch den Wald fuhr. Nur ein geringer Teil seiner Aufmerksamkeit galt der Straße. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das bevorstehende Treffen mit Marine. Angst und Unsicherheit erfüllten ihn. Er verstand noch immer nicht, warum sie fortgegangen war. Ihm war klar, daß Sydney ihm nicht alles gesagt hatte, aber egal, wie sehr er ihn gefragt hatte, sein alter Mentor hatte geschwiegen.

Das Haus kam in Sicht. Jarod konnte das Licht durch die Bäume sehen. Noch gab es ein Zurück - aber das wollte er gar nicht. Alles, was er wollte, war, sie wiederzusehen und herauszufinden, was zwischen ihnen stand. Der Schmerz, den er empfand, war anders als alles, was er bisher gefühlt hatte. Die Trennung von ihr fügte ihm beinahe physischen Schmerz zu.

In den letzten Nächten hatte er so gut wie gar nicht geschlafen. Ständig hatte er sich den Kopf zerbrochen, was er falsch gemacht haben mochte. Nur den letzten Schritt hatte er nicht gewagt - sich als Pretender in sie hineinzuversetzen.

Er erreichte das Haus. Fast benommen schaltete er den Motor ab, blieb im dunklen Wagen sitzen. Jetzt, wo er hier war - so nah -, wurde seine Unsicherheit noch stärker, aber auch sein Wunsch, sie zu sehen. Jarod stieg aus und ging bis zur Tür. Nervös tastete er nach dem Schlüssel, den Sydney ihm gegeben hatte. Nichts hinderte ihn jetzt noch daran, einfach zu ihr hineinzugehen.

Sein Blick glitt zu dem Fenster neben der Tür. Er konnte sie sehen. Sie saß auf einer Couch, den Kopf gesenkt, einen Teddybär im Arm. Marine. Sein Herz schien für ein oder zwei Schläge auszusetzen.

"Marine", wisperte er.

Die Unsicherheit wich Entschlossenheit, als Jarod den Schlüssel hervorholte, um die Tür aufzuschließen.


Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
20:03



Das Feuer im Kamin knisterte leise. Miss Parker saß noch immer auf der Couch. Ihre Tränen waren versiegt, aber der Schmerz war noch genauso stark wie zuvor. Vielleicht sollte sie ins Bett gehen, doch der Gedanke an das große, leere Bett hatte nichts Verlockendes für sie.

Ein Geräusch an der Haustür ließ sie hochschrecken. Jemand war dort draußen. Und den Geräuschen nach zu urteilen, hatte dieser Jemand einen Schlüssel. War Sydney ihr doch gefolgt?

Sie dachte kurz daran, ihre Waffe zu holen, verwarf den Gedanken aber wieder. Niemand wußte, daß sie hier war, und mit einem einfachen Einbrecher konnte sie auch ohne Waffe fertig werden. Angestrengt lauschte sie. Wer auch immer ihr Besucher war - er zögerte kurz, bevor er allmählich die Tür öffnete. Miss Parker hielt den Atem an, spannte ihre Muskeln an.

Die Tür öffnete sich langsam. Zuerst nur einen Spalt breit, dann schließlich weit genug, um den Blick auf ihren unerwarteten Gast freizugeben. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis sie ihn erkannte. Jarod. Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihre ohnehin schon unruhige Gefühlswelt geriet vollends ins Schwanken.

Er blieb in der Tür stehen, sah sie einfach nur an. Sein Blick teilte ihr alles mit, was sie wissen mußte. Vor allem erkannte sie darin Ratlosigkeit, außerdem... Angst?

Sie fühlte sich wie erstarrt. Erleichterung drohte alle anderen Gefühle in ihr fortzureißen. Jarod war ihr gefolgt. Er war hier, um sie zu sehen.

"Marine?"

Seine Stimme war leise, verriet seine Unsicherheit. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie die Kraft fand, ihm zu antworten. Energisch erinnerte sie sich an den Umschlag, den sie gefunden hatte, daran, was er bedeuten mußte. So sehr sie es auch wollte - es gelang ihr nicht, sich davon zu überzeugen, daß er hier war, weil er sie liebte, weil er sie ebenso sehr vermißt hatte wie sie ihn.

"Hallo, Jarod", brachte sie leise hervor. Er weiß nicht, daß ich es herausgefunden habe, dachte sie plötzlich. Sie schloß kurz die Augen. Wieso fühlte sich das alles auf einmal so falsch an? Als sie die Augen wieder öffnete, hatte er sich nicht von der Stelle bewegt. Sein Blick ruhte immer noch auf ihr, forschend, fast flehend. Mitgefühl regte sich tief in ihr, aber sie ignorierte es. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, sich von ihm zu lösen. Daß sie das eigentlich nicht wollte, spielte dabei keine Rolle.

"Wieso bist du hier?" erkundigte sie sich ruhig, obwohl in ihrem Inneren ein Sturm tobte. Fassungslos sah er sie an.

"Warum?" fragte er in einem Tonfall, der deutlich machte, für wie absurd er ihre Frage hielt. Er sah müde aus, müde und erschöpft, stellte Miss Parker besorgt fest. Und in seinen dunklen Augen spiegelte sich Schmerz. War es möglich, daß er...

"Sydney hat mir gesagt, wo du bist", erklärte er, taxierte sie abwartend. Ihre zögernde Freude darüber, ihn wiederzusehen, erlosch mit einem Schlag. Nun war ihr klar, warum er hier war. Sydney hatte sie verraten. Er hatte Jarod von dem Kind erzählt, und das war der einzige Grund dafür, warum Jarod ihr bis nach Kanada gefolgt war. Jegliche Hoffnung wich aus ihr. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, zwang sich mit ganzer Willenskraft, sie zurückzuhalten.

"Ich verstehe", sagte sie gepreßt. Es war Zeit, alles zwischen ihnen zu klären. "Du mußt dich nicht an mich gebunden fühlen", fuhr sie erstaunlich ruhig fort. "Du bist frei, Jarod, und kannst dein Leben jetzt dort verbringen, wo du willst - mit wem du willst."

Jarod starrte sie verständnislos an, während es in seinem Gesicht arbeitete. Verschiedene Emotionen spielten über sein Gesicht, spiegelten seine innere Zerrissenheit wider.

"Verdammt, Marine, was ist eigentlich los?" platzte es plötzlich aus ihm heraus. Erst jetzt bewegte er sich von der Tür fort, machte zwei Schritte auf sie zu. Alles an ihm machte deutlich, wie hilflos er sich fühlte. Sein Blick, seine Haltung, die Art, wie er seine Hände zu Fäusten ballte, um sie kurz darauf wieder zu entspannen. Ungläubig registrierte sie, daß auch er den Tränen nahe zu sein schien. Sie weigerte sich noch immer zu glauben, was ihr Herz längst als Wahrheit erkannt hatte.

"Ich liebe dich, Jarod", flüsterte sie. "Aber ich würde niemals von dir verlangen, daß du bei uns bleibst. Du solltest bei der Frau sein, die du liebst."

Er atmete ein paarmal tief durch. "Das bin ich doch, Marine. Bitte sag mir endlich, was los ist. Wenn ich etwas falsch gemacht habe..." Seine Stimme war nur ein kaum hörbares Flüstern, aber seine Worte erfüllten sie trotzdem, hallten laut wie Donner in ihr wider.

"Aber... was ist mit Nia?" hörte sie sich selbst fragen. Sie schien weit weg und gleichzeitig doch viel zu nah sein. Irgend etwas hinderte sie daran, alles klar zu sehen.

Die Verwirrung in Jarods Zügen steigerte sich noch. Es schien ihm schwerzufallen, nicht die Kontrolle zu verlieren. Er schloß kurz die Augen, schüttelte ganz leicht den Kopf. "Willst du mir sagen, daß das hier etwas mit Nia zu tun hat?" wollte er wissen, nur noch oberflächlich ruhig.

Zum ersten Mal fühlte Miss Parker so etwas wie Zorn in sich aufsteigen. Wie konnte er sie das fragen? Warum sonst hätte sie denn fortgehen sollen, wenn nicht, um ihn aus allen Verpflichtungen ihr gegenüber zu entlassen? Unfähig, zu antworten, nickte sie nur.

"Marine..."

Er drehte sich um und ging zur Tür. Panik erfüllte sie.

"Jarod!" Sie konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. In diesem Moment erkannte sie, daß es unmöglich war. Sie brauchte ihn.

Jarod schloß die Tür, ohne sich zu ihr umzudrehen, lehnte sich dann für einen Augenblick gegen das kühle Holz. Als er sich dann zu ihr umwandte, zeigte sich beginnendes Verständnis in seinem Blick, außerdem Erleichterung. Er kam zu ihr, hockte sich vor ihr auf den Boden und nahm ihre Hände in seine.

"Marine", begann er, die Stimme weich, unendlich sanft, "ich liebe dich aus ganzem Herzen, aus tiefster Seele. Seit ich denken kann, nimmst du einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen ein, und eine Zukunft ohne dich ist für mich einfach unvorstellbar. Ich weiß nicht, was ich tun soll, um dir deine Zweifel an meiner Liebe zu nehmen - aber ich möchte es, mehr als alles andere. Nia ist keine Konkurrenz für dich. Ich habe sie zu einer Zeit getroffen, als mir mein Leben leer und freudlos erschienen ist. In ihr habe ich eine gute Freundin gefunden - mehr nicht. Sie war für mich da, als ich Trost gebraucht habe, aber sie hat niemals deinen Platz eingenommen. Niemand kann das. Meine Liebe gehört nur dir. Ich liebe dich, Marine. Und wenn ich dich verletzt habe, dann verzeih mir bitte - denn ich wollte es nicht. Ich könnte es gar nicht."

Seine Worte löschten jeden Zweifel, jeden Verdacht in ihr aus, ließen sie erkennen, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Die Erleichterung, die sie empfand, war so stark, daß es fast schon schmerzte. Trotzdem gab es noch ein Sache, die sie klären mußte.

"Was ist mit dem Brief?" fragte sie beinahe ängstlich. Er sah sie verwirrt an, wirkte für einen Moment fast verzweifelt, doch dann hellte sich seine Miene auf.

"Du hast den Brief gesehen? Und deshalb gedacht, daß ich..." Seine Erleichterung war fast greifbar. "Oh Gott, Baby, ich wollte es dir sagen, aber ich habe einfach nicht mehr daran gedacht. Wenn ich bloß geahnt hätte..." Jarod lachte, fand auf diese Weise ein Ventil für seine aufgestauten Emotionen. Zärtlich fuhr er mit seinen Fingern über ihre. "Sie hat geheiratet, schon letzten Monat. Kurz, nachdem du und ich zusammengekommen sind, habe ich sie angerufen, ganz einfach, weil ich wissen wollte, wie es ihr geht. Ich wollte es dir sagen, aber ich war nicht sicher, wie du reagieren würdest. Dieser Brief, den du gefunden hast... Darin habe ich Nia und ihrem Mann nur viel Glück für die Zukunft gewünscht - weiter nichts."

Miss Parker fühlte sich so frei wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Wortlos zog sie ihre Hände aus seinen, legte sie zärtlich zu beiden Seiten seines Gesichtes, dann zog sie Jarod an sich, hielt ihn einfach nur fest.

"Es tut mir leid. Es tut mir so leid", wisperte sie mit tränenerstickter Stimme. Jarod schüttelte vorsichtig den Kopf.

"Das muß es nicht", erwiderte er leise. "Aber bitte versprich mir, daß du in Zukunft mit mir über so etwas sprichst. Du weißt, daß du mir vertrauen kannst. Was auch immer du fühlst, ich möchte es wissen, möchte es mit dir teilen, dir helfen, wo ich kann."

"Ich verspreche es dir." Sie küßte ihn ganz leicht auf den Kopf. "Ich liebe dich so sehr, Jarod. Ohne dich fühle ich mich nicht ganz. Ich brauche dich. Am liebsten würde ich dich nie wieder loslassen."

"Dann tu es nicht", entgegnete er. Für eine lange Weile hielten sie einander. Keiner von ihnen war bereit, ihre neu gewonnene Nähe so schnell wieder aufzugeben. Dann fiel Miss Parker plötzlich etwas ein. Widerstrebend löste sie sich von Jarod, der sie fragend ansah.

"Dann hat Sydney dir nichts gesagt? Ich meine, über uns?"

Verwundert sah er sie an. "Über uns? Nein." Leichte Besorgnis zeigte sich in seiner Miene. Diesmal war sie es, die befreit auflachte.

"Nein, Jarod, nicht über dich und mich. Was war ich doch für ein Idiot! Ich hatte Angst, es dir zu sagen." Sanft fuhr sie fort. "Ich meine ein anderes uns."

Gespannt musterte sie ihn. Zuerst bemerkte sie einsetzendes Verständnis in seinem Blick, dann vage Hoffnung. Ungläubig sah er sie an. Sie nickte.

"Ich bin schwanger, Jarod. Wir werden bald Eltern sein. Ich erwarte dein Kind - unser Kind."

Wilde Freude vertrieb auch die letzten Anzeichen des Schmerzes, den er in den letzten Tagen empfunden hatte, aus seinem Gesicht.

"Marine!"

Begeistert zog er sie mit sich hoch, schloß sie fest in seine Arme, ließ sie dann gleich wieder los, um ihr Gesicht zärtlich in seine Hände zu nehmen und ihr tief in die Augen zu sehen.

"Unser Kind", wisperte er überglücklich. Dann verzog er kurz das Gesicht. "Wieso hattest du Angst, es mir zu sagen? Gott, es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als mit dir eine Familie zu gründen!"

Miss Parker lächelte verlegen. "Wie ich schon sagte, ich war ein Idiot. Schieb es einfach auf die Hormone", meinte sie mit einem leichten Schulterzucken. "Davon wirst du vermutlich im Laufe der Schwangerschaft noch mehr zu spüren bekommen", warnte sie ihn scherzhaft.

"Ich freue mich drauf", versicherte er ihr. Sie lachte leise.

"Ja, das sagst du jetzt! Möchtest du wissen, was es ist?"

Erstaunt sah er sie an, nickte nur.

"Es ist ein Mädchen", teilte sie ihm mit. Seine Reaktion übertraf alle ihre Erwartungen.

"Ein Mädchen", wiederholte er, fast verträumt. "Wir werden eine kleine Tochter haben!" Sein Blick glitt zu ihrem Bauch. Ganz sanft legte er eine Hand darauf. "Eine kleine Tochter..."

"Es ist noch viel zu früh, um etwas zu spüren", neckte sie ihn sanft. Als er zu ihr aufsah, raubte ihr das strahlende Lächeln in seinen Augen für einen Moment den Atem. Eine Träne lief ihm über die Wange. Sie wischte sie fort.

"Ich liebe dich, Marine. Ich liebe euch beide."

Dann zog er sie an sich, küßte sie, sanft, zärtlich. Doch schon bald vertiefte sich der Kuß, spiegelte ihre Leidenschaft und ihre Sehnsucht wider. Sie versicherten einander ihrer Liebe, ohne dabei auch nur ein Wort zu benutzen, ließen den Schmerz der Vergangenheit dabei hinter sich.


Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
Am nächsten Tag
09:09



Jarod öffnete die Augen, nicht ganz sicher, was ihn erwartete. Die Ereignisse des letzten Tages und der Nacht fielen ihm wieder ein. Er lächelte, öffnete seine Augen ganz. Marine.

Sie lag in seinen Armen, schlief tief und fest. Vorsichtig zog er sie noch enger an sich. Endlich. Ihre Nähe hatte ihm so sehr gefehlt. Liebevoll betrachtete er sie, spürte, wie sein Herz schneller schlug. Ganz egal, was die Zukunft bringen mochte, er würde nicht noch einmal zulassen, daß sie getrennt wurden.

Marine, die Mutter seines Kindes, seiner Tochter. Aufregung erfüllte ihn bei diesem Gedanken. Bald würde er ein Vater sein, gemeinsam mit der Frau, die er über alles liebte, ihr gemeinsames Kind großziehen. Ihre Tochter würde ein liebevolles Zuhause haben und all das, was sie selbst in ihrer Kindheit vermißt hatten. Eine Tochter... Er hoffte, daß sie Marine ähnlich sein würde, ein genauso unbeugsamer, liebenswerter Mensch wie sie.

Zärtlich küßte er sie auf die Stirn. Sie bewegte sich im Schlaf, verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln, wachte aber noch nicht auf. In den letzten Tagen hatte Jarod viel über ihre Beziehung nachgedacht, aber erst gestern hatte er begriffen, daß es nicht genügte, einfach nur ineinander verliebt zu sein. Eine Partnerschaft bedeutete auch Arbeit. Zwischen ihnen gab es ein tiefes Verständnis, das es ihnen ermöglichen würde, das Vertrauen zueinander zurückzugewinnen, das sie im Laufe der Jahre verloren hatten. Er lächelte. Natürlich würde es auch schwierige Zeiten geben - aber auch darauf freute er sich, solange er sie zusammen mit Marine durchstehen konnte.

"Du grübelst schon wieder", hörte er auf einmal ein leises Murmeln. Marine hatte die Augen noch immer geschlossen, lächelte aber leicht.

"Nein", widersprach er, "ich habe nur Pläne für unsere Zukunft gemacht." Sein Tonfall wurde weich. "Hast du gut geschlafen?" Ihr Lächeln wuchs in die Breite.

"Besser denn je", sagte sie sanft. "Und du?"

"Ich habe überhaupt nicht geschlafen", gab er zu. Sie setzte sich auf und sah ihn überrascht an. Er grinste beruhigend. "Na ja, vielleicht ein bißchen", fuhr er fort, wurde dann ernst. "Ich konnte einfach nicht aufhören, dich anzusehen", meinte er mit einem Schulterzucken. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, strahlte tiefe Wärme aus.

"Jarod..." Sie sagte seinen Namen wie eine Liebkosung, die etwas tief in ihm berührte. Dann beugte sie sich zu ihm, küßte ihn zärtlich auf die Lippen. Er begann, den Kuß zu erwidern, schloß sie in seine Arme, aber sie zog sich plötzlich von ihm zurück.

"Entschuldige", war alles, was sie sagte, bevor sie sich ganz von ihm löste und hastig aufstand. Einen Moment lang sah er ihr verwirrt nach, dann folgte er ihr. Vor dem Badezimmer blieb er stehen.

"Marine?"

Er erhielt keine Antwort, aber nach ein paar Minuten kam sie wieder heraus, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. "Dr. Simmerson meinte, daß die Übelkeit sich häufig nur auf die ersten drei Monate beschränkt", erklärte sie dann.

"Bist du in Ordnung?" erkundigte sich Jarod besorgt. Marine lachte leise.

"Sicher. Es ist nichts, womit Milliarden von anderen Frauen nicht auch schon fertig geworden sind. Ich werde es schon überstehen. Wie wäre es jetzt mit einem schönen Frühstück?"

Einen Moment lang sah er sie so erstaunt an, daß sie sich auf die Lippen beißen mußte, um nicht zu lachen. Dann nickte er zögernd. Er hatte hier und da schon die eine oder andere Bemerkung über das Verhalten Schwangerer gehört, aber selbst damit konfrontiert zu sein, verwirrte ihn doch etwas.

"Okay", entgegnete er noch immer etwas verunsichert. Sie sah ihn lange an, dann küßte sie ihn leicht auf die Wange, bevor sie sich auf den Weg nach unten machte.

"Sieh es einfach als Herausforderung an", riet sie ihm mit deutlich hörbarer Belustigung in der Stimme. Er sah ihr einen Moment lang nach, dann grinste er und folgte ihr nach unten. Offenbar lag eine sehr interessante Zeit vor ihm.


Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
16:29



Miss Parker trank ihren Tee aus und sah mit einem Seufzen zu der Kanne, die noch immer halbvoll war. Dr. Simmerson hatte ihr diese Mischung empfohlen, mit dem Hinweis, daß sie sich gut gegen Schwangerschaftsübelkeit bewährt hatte. Allerdings ließ der Erfolg bisher noch auf sich warten.

Sie verließ die Küche, ging durch das Eßzimmer hinaus auf die Terrasse. Jarod saß dort und sah auf den See hinaus. Als er sie hörte, drehte er sich zu ihr um und lächelte warm.

"Hey", begrüßte er sie leise.

"Willst du lieber allein sein?" erkundigte sie sich, während sie langsam um ihn herum ging, um sich neben ihn zu setzen. Sofort schüttelte er den Kopf. Miss Parker lächelte wissend.

"Natürlich nicht", antwortete er. Sie ließ sich neben ihn auf die Bank sinken, und er legte ihr einen Arm um die Schultern. "Es ist wunderschön hier."

"Mhm", stimmte sie ihm zu, gab ihrer Stimme einen abwesenden Klang. Jarod musterte sie fragend. "Du hast jetzt endlich die Chance, deine Familie zu finden", fuhr sie fort. "Vom Centre sollte es in dieser Hinsicht jedenfalls nichts mehr zu befürchten geben."

Jarod nickte. "Ich habe schon damit angefangen, nach ihnen zu suchen, aber nach allem, was passiert ist, dürfte es noch schwieriger sein, mit ihnen in Kontakt zu treten." In seiner Stimme hörte sie sowohl Bedauern, als auch Entschlossenheit.

"Vielleicht wird es nicht ganz so schwierig wie du glaubst", entgegnete sie geheimnisvoll. Als sie Jarods gespannte Miene sah, bekam sie Mitleid mit ihm und beschloß, das Geheimnis zu lüften. Diese Sache war viel zu wichtig für ihn, um ihn damit aufzuziehen. "Wir haben heute morgen Post bekommen." Sie zog den Umschlag hervor, der an sie beide adressiert war, und reichte ihn Jarod. Er nahm ihn neugierig entgegen.

"Von Sydney?"

"Nein. Der Brief ist von Charles."

Erstaunt sah er sie an. "Er weiß, daß wir hier sind?"

"Offensichtlich, ja. Du bist nicht der einzige in eurer Familie, der gut informiert ist. Na los, lies ihn", forderte sie ihn ungeduldig auf. "Es sind gute Neuigkeiten."

Sie beobachtete sein Gesicht, während er las und dachte an ihre eigene Reaktion zurück. Charles war tatsächlich gut informiert. Sobald er von dem bevorstehenden Feldzug gegen das Centre Wind bekommen hatte, war er in die USA zurückgekehrt und hatte Kontakt zu seiner Familie aufgenommen. Jarods Eltern und seine Schwester waren wieder vereint und warteten sehnsüchtig darauf, Jarod endlich wiederzusehen. Nun, da vom Centre keine Gefahr mehr ausging, stand einem Treffen nichts mehr im Wege.

Miss Parker teilte die Freude, die sie in Jarods Augen sah, als er am Ende des Briefs angekommen war. Fassungslos schüttelte er den Kopf.

"Ich... kann es kaum glauben", brachte er hervor.

"Glaub es ruhig. In ein paar Tagen wirst du deine Familie wiedersehen." Sie fuhr ihm liebevoll durchs Haar. "Dann erfährst du endlich, woher du kommst und wer du bist."

Er nickte abwesend, sah noch einmal hinunter auf den Brief. "Woher weiß er das alles?" fragte er dann, als er wieder aufsah. "Ich meine, er weiß sogar von uns."

Miss Parker zuckte mit den Schultern. "Er besitzt eine gute Menschenkenntnis. Und was uns angeht... Ich glaube, das wußte er sogar schon lange vor uns."

Jarod schien darüber nachzudenken. Schließlich breitete sich langsam ein Lächeln auf seinen Lippen aus. "Aber ich wette, er weiß noch nicht, daß er Großvater wird."

Auch Miss Parker lächelte. "Nein, bestimmt nicht. Ich freue mich schon auf sein Gesicht, wenn er es herausfindet."

"Ja, ich auch", meinte Jarod. Er sah aus, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen. "Bitte warte hier einen Augenblick, ja? Ich bin sofort wieder da!" Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und ging ins Haus. Miss Parker sah ihm überrascht nach. Was hatte er vor? Nun, sie würde es sicher gleich herausfinden.

Sie lehnte sich zurück, sah auf das ruhige Wasser des Lake Dauphin hinaus und ließ ihre Gedanken schweifen. In den letzten Wochen hatte sich nicht nur ihr Leben grundlegend verändert - auch sie selbst war nicht mehr dieselbe. Es gab vieles, was sie verloren hatte, aber das verblaßte, wenn sie daran dachte, was sie alles gewonnen und erreicht hatte. Jarod war bei ihr und liebte sie mit einer Kraft, die sie fast erschreckte. Aber mit jedem Tag fiel es ihr leichter, ihn an sich heranzulassen, ihr Innerstes für ihn zu öffnen. Und mit jedem Tag schien ihre Liebe für ihn zu wachsen, immer tiefer zu werden - ein Umstand, den sie mehr als begrüßte. Dann war da noch ihre Tochter...

Miss Parker dachte an ihre eigene Mutter und fragte sich unwillkürlich, ob sie ihrer Tochter eine ebenso gute Mutter sein konnte. Schon jetzt empfand sie ein überwältigende Liebe für ihr ungeborenes Kind, und sie war fest entschlossen, ihm die beste Mutter zu sein, die sie sein konnte. Auch wenn ihr diese neue Rolle ein wenig Angst machte - gemeinsam mit Jarod würde sie es schaffen. Er würde ein wundervoller Vater sein. Sie lächelte, als sie daran dachte. Ja, er würde ein phantastischer Vater sein.

Es gab wirklich vieles, wofür sie dankbar sein konnte. Von den wenigen Resten des Centres ging keine Bedrohung mehr aus. Zum ersten Mal, seit dem Tod ihrer Mutter, war sie wirklich frei. Niemand versuchte mehr, über ihr Leben zu bestimmen. Jetzt gab es nur noch die Zukunft, die sie selbst für sich gewählt hatte. Und in dieser Zukunft gab es vielleicht sogar wieder eine Familie, in der sie sich wohl fühlen konnte - wenn Jarods Familie bereit war, sie aufzunehmen...

"Diesmal bist du es, die grübelt", sagte Jarod plötzlich dicht neben ihr. Sie blinzelte und kehrte zurück in die Gegenwart. Er stand neben der Bank, einen Ausdruck in den Augen, den sie nicht deuten konnte. Eine Hand hielt er hinter dem Rücken verborgen, die andere streckte er nach ihr aus. Als sie danach griff, zog er sie hoch und führte sie zum Geländer der Terrasse.

"Jarod, was ist los?" fragte sie ihn, aber er lächelte nur, sah ihr tief in die Augen. Für eine Weile verlor sie sich in seinen dunklen Augen, erforschte die Tiefen seines warmen Blicks.

"Ich liebe dich, Marine", sagte er schließlich, in einem Tonfall, der sie mit tiefer Wärme erfüllte. "Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen - jeden einzelnen Tag, jede Stunde davon. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, und ich habe lange überlegt, wie ich dich davon überzeugen kann."

"Das mußt du nicht", begann sie, aber er unterbrach sie sanft.

"Ich weiß, aber ich möchte es. Es gibt etwas, das ich dir geben möchte... das ich dich fragen möchte..."

Plötzlich verwandelte er sich wieder in den hilflosen kleinen Jungen. Sie sah ihn mit großen Augen an, nicht ganz sicher, worum es ihm ging. Er lächelte ein wenig unbeholfen, dann zog er endlich die Hand hinter seinem Rücken hervor. Miss Parker sah darauf hinunter, während sich eine erste Ahnung in ihr regte. Eine kleine Schachtel ruhte in seiner Hand. Jarod öffnete sie umständlich, wobei er weitersprach. "Sicher erinnerst du dich noch daran, daß ich dir den Verlobungsring deiner Mutter geschickt habe. Das hier", sagte er und zeigte ihr die geöffnete Schachtel, "ist der Verlobungsring meiner Mutter."

Sprachlos sah sie auf den Ring in seiner Hand. Es war ein schlichter Ring mit einem kleinen Brillanten, aber in ihren Augen war es der schönste Ring, den sie je gesehen hatte. "Wo... wo hast du ihn her?" fragte sie ihn erstaunt. Sie sah ihn an. Tränen schimmerten in ihren Augen, aber sie bemerkte es gar nicht. Dafür war sie viel zu glücklich.

"Er war in dem Umschlag, den du aus England mitgebracht hast. Meine Mutter hat ihn meinem Vater gegeben, als er sie damals verlassen mußte - als Erinnerung. Ich glaube, du hattest recht. Mein Vater weiß wirklich gut über uns Bescheid."

Jarod sah sie an, mit soviel Liebe in seinem Blick, daß sie glaubte, ihr Herz würde jeden Moment aufhören zu schlagen. "Unsere Tochter wird in einer liebevollen Familie aufwachsen - ganz egal, wie deine Antwort jetzt lautet. Aber es würde mich unendlich glücklich machen, wenn du ja sagst. Marine, willst du mich heiraten?"

Er sah sie an, wagte es nicht einmal, zu atmen. Miss Parker war so von Glück erfüllt, daß sie für einen Moment die Augen schließen mußte. Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so glücklich gefühlt wie in diesem Moment. Sie öffnete die Augen wieder, erwiderte Jarods Blick, nahm dann sein Gesicht zärtlich in ihre Hände.

"Ich liebe dich, Jarod, mehr, als ich jemals mit Worten sagen könnte. Außer meiner Mutter ist mir nie ein Mensch so nahe gewesen wie du - und niemand hat mich je so gut verstanden. Du bist nicht nur ein Teil meines Lebens, du bist ein Teil von mir. Ohne dich wäre ich nicht vollkommen. Ja, Jarod, ich will - es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche."

"Marine..."

Er schlang seine Arme um sie und küßte sie, machte jedes weitere Wort überflüssig.



Epilog
Zehn Monate später
Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
22:11



Jarod stand vor der Wiege, die er vor sechs Monaten gebaut hatte. Sein Blick ruhte voller Bewunderung auf dem kleinen Wesen, das darin schlief. Catherine, seine kleine Tochter, die ihrer Mutter mit jedem Tag ähnlicher wurde.

"Willst du die ganze Nacht hier stehen?" hörte er plötzlich Marines leise, amüsiert klingende Stimme hinter sich. Sie trat von hinten an ihn heran und schloß ihn in ihre Arme. Er legte seine Hände auf ihre, als er antwortete.

"Ich mußte sie einfach noch einmal ansehen", erklärte er ebenso leise, um ihre Tochter nicht zu wecken. Marine stellte sich neben ihn, um ebenfalls einen Blick in die Wiege zu werfen.

"Ich weiß, was du meinst. Es ist wie ein Wunder. Erst jetzt fange ich an zu verstehen, wie meine Mutter sich gefühlt haben muß."

Jarod zog sie enger an sich und küßte sie auf die Stirn. Seit der Geburt ihrer Tochter klang nur noch selten Traurigkeit in ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Mutter sprach. Aber Jarod wußte, daß sie die Tatsache bedauerte, daß Catherine ihre Enkelin niemals kennenlernen würde.

"Sie hat deine Augen, ist dir das schon aufgefallen?" fragte er. Sie sah ihn an und verzog dabei belustigt das Gesicht.

"Jarod, alle Babys haben blaue Augen."

"Aber nicht dieses besondere Blau", widersprach er. "Außerdem ist sie mittlerweile schon aus dem Alter raus, in dem die Augenfarbe sich noch ändert."

Marine sah nachdenklich in die Wiege, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Als sie ihn wieder ansah, funkelten ihre Augen.

"Weißt du, ich hätte nichts dagegen, in der näheren Zukunft einen Sohn zu haben...", ihr Lächeln vertiefte sich, "der dann deine Augen hat."

Ihre Worte erfüllten ihn mit einer Wärme, die untrennbar mit ihrer Nähe verbunden war.

"Das klingt wundervoll", murmelte er, während er tief in ihre Augen sah. Sie verschränkte die Hände in seinem Nacken und zog ihn ein wenig zu sich herunter, um ihn zärtlich zu küssen. Nach einer Weile löste sie sich von ihm, bevor er die Gelegenheit bekam, den Gefallen zu erwidern.

"Ich habe mit Ben gesprochen", erklärte Marine so plötzlich, daß Jarod fragend die Augenbrauen hob. "Hast du gewußt, daß er einen Zwillingsbruder hatte? Er starb, als Ben noch klein war. Wenn er also wirklich mein Vater sein sollte..."

Jarod wußte, worauf sie hinaus wollte. Die Chancen standen in dem Fall mehr als gut, daß sie ebenfalls Zwillinge bekamen. Er lächelte.

"Vielleicht sollte ich noch eine zweite Wiege bauen..."

"Klingt nach einer guten Idee. Und jetzt... kommst du mit ins Bett?"

Er beugte sich zu ihr, so daß seine Lippen fast ihr Ohr berührten.

"Natürlich", wisperte er.

Gemeinsam blieben sie noch einen Moment neben der Wiege stehen und betrachteten ihre schlafende Tochter, dann verließen sie das Kinderzimmer. Ganz automatisch schlug Jarod den Weg zum Schlafzimmer ein, aber Marine griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich.

"Ich dachte, du wolltest ins Bett?"

"Ich hab's mir anders überlegt. Es ist eine schöne Nacht."

Jarod lachte leise und folgte ihr. Sie führte ihn nach draußen, auf die Veranda. Er setzte sich auf einen der bequemen Stühle und zog sie dann auf seinen Schoß.

"Du denkst über morgen nach, stimmt's?" erkundigte er sich sanft.

Sie nickte fast unmerklich, den Blick unverwandt auf ihren Ehering gerichtet. "Ich freue mich sehr darauf, alle wiederzusehen. Sydney, Broots, Debbie, Ben, deine Eltern und deine Schwester... Sie sind meine - unsere - Familie. Aber wehe, du erzählst das Broots", sagte sie lachend.

"Niemals", versicherte Jarod ebenfalls lachend. "Aber ich fürchte, er weiß es schon."

"Ja", meinte sie mit einem gespielt resignierten Seufzer. Dann sah sie Jarod an, und das Funkeln war in ihre Augen zurückgekehrt. "Ich bin wirklich froh, daß Catherine so viele Menschen hat, die sie lieben und sich um sie kümmern. Sie wird nie etwas über das Centre erfahren."

"Und das verdanken wir dir." Jarod lächelte und küßte sie.

"Oh, ich würde eher sagen, daß Broots, Sergej und Tommy der Dank gebührt. Sie haben die Hauptarbeit getan. Wie auch immer, wir werden den morgigen Tag sicher sehr genießen."

"Wenn wir rechtzeitig aufwachen", gab Jarod zu bedenken, während er erfolglos versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.

"Catherine wird uns mit Sicherheit pünktlich wecken, mein Herz. Aber vielleicht sollten wir wirklich langsam schlafen gehen."

Statt einer Antwort schloß Jarod sie fest in seine Arme.

"Ich liebe dich, Marine", sagte er sanft.

"Und ich liebe dich, Jarod", lautete ihre Antwort, die ein wenig schläfrig klang. Sie blinzelte ein paarmal, dann sah sie ihn mit einem Blick an, der ihre tiefsten Gefühle widerspiegelte. "Ich bin unsagbar froh, daß du hier bist. Du und Catherine, ihr seid mir das Wichtigste im Leben. Ich liebe euch so sehr. Zum ersten Mal, seit meine Mutter tot ist, habe ich wieder eine richtige Familie."

"Marine", wisperte Jarod bewegt. "Ich werde immer für dich - für euch - da sein, das weißt du. Ohne euch könnte ich nicht mehr leben. Ihr seid alles für mich. Ich liebe dich", wiederholte er noch einmal mit Nachdruck, einfach, weil er das Gefühl hatte, daß sie das jetzt brauchte.

Sie küßte ihn, lang und leidenschaftlich, dann erhoben sie sich wortlos und kehrten ins Haus zurück. Ganz egal, was noch vor ihnen liegen mochte - niemand konnte ihnen je wieder nehmen, was sie endlich gefunden hatten. Gemeinsam gingen sie jetzt durch ein Leben in Freiheit, verbunden durch eine Liebe, die mit ihnen gewachsen war, seit sie Kinder gewesen waren - und die jeden Tag größer wurde, bis nichts sie mehr aufhalten konnte.


ENDE


Vielen Dank an alle, die mich unterstützt haben, besonders an Swik, Nicolette und Jan Olbrecht!


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