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Im grünen Gras

 

Lass los, welche du mit Unrecht gebunden hast;

lass ledig, welche du beschwerst;

gib frei, welche du drängst,

alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte.

 

Jesaja, 58,6

 

Kapitel 1: Wer ist Jarod?

 

Liebe Kinder,

hier in diesem Buch habe ich die Abenteuer von zwei Freunden aufgeschrieben. Es sind aber keine Abenteuer, wie ihr vielleicht meint, mit Piraten und einer Schatzinsel, einer Prinzessin, einem Drachen oder Zauberern. Nein, es sind nur Abenteuer von solcher Art, wie man sie erleben kann, wenn man nie rausgehen darf und so tief unter der Erde wohnt, dass es nicht mal ein Fenster gibt.

So erging es nämlich dem jungen Jarod.

Er war ein so intelligentes Kind, klüger als zehn oder zwanzig kluge Erwachsene zusammen. Daher beschloss eine geheime Organisation, als er vier Jahre alt wurde, er solle nicht bei seinen Eltern aufwachsen, sondern in ihrem wissenschaftlichen Zentrum. Kurzerhand entführten sie ihn.

Dann erklärten sie ihm, dass seine Eltern tot seien und sperrten Jarod in einem der vielen unterirdischen Stockwerke ein.

In diesem wissenschaftlichen Zentrum, welches in einem kleinen Ort Namens Blue Cove lag, musste Tag er für Tag Experimente durchführen, die den Erwachsenen – den Präsidenten, den Wissenschaftlern und Militärstrategen – dieser Welt bei der Lösung ihrer Probleme halfen. Und weil Wissenschaftler meistens keine besonders kreativen Menschen sind, nannten ihr Zentrum einfach „The Center“. Jetzt denkt ihr sicher: „Moment mal, das ist doch nicht richtig, so einen Jungen einzusperren, ganz allein ohne seine Eltern und ohne Freunde und ihn nie rauszulassen.“ Da habt ihr ganz Recht, aber ich habe ja auch nicht behauptet, dass Erwachsene immer alles richtig machen. Zuweilen gibt es Erwachsene, die richtig böse sind. Und mit solchen Leuten hatte es der junge Jarod nun zu tun. Aber nicht nur. Er hatte einige, wenn auch wenige, Freunde. Da war zum Beispiel Sydney. Er war ein Psychologe und die meiste Zeit redete er auch so, wie ein Seelenklempner eben so redet. Er war Jarods Lehrer und Erzieher. Er unterrichtete Jarod in allen Fächern. Er ermutigte Jarod, wenn dieser meinte, ein Problem nicht lösen zu können.

 

Jarod hatte eine weitere sehr außergewöhnliche und übernatürliche Gabe, an der Sydney mit ihm jeden Tag arbeitete. Er konnte sich in jeden anderen Menschen hineinversetzen und fühlen, was dieser fühlte, handeln wie dieser handeln würde und somit treffsichere Aussagen über die Zukunft für bestimmte Ereignisse erstellen. Er war also so etwas wie eine Mischung aus einem Hellseher und einem Gedankenleser, ohne aber tatsächlich hellsehen und gedankenlesen zu können. Sydney sagte oft, er sei ein menschliches Chamäleon. Ein Chamäleon ist ein Tier, das sich farblich an seine Umgebung anpassen kann. Seine Farbe konnte zwar Jarod nicht anpassen, aber in den Simulationen, die er täglich durchführte, passte er seine Persönlichkeit an. Er war ein Polizist oder ein Feuerwehrmann oder ein Soldat oder wer immer er sein wollte oder sein musste. Jarod war einer der wenigen Menschen auf der Welt mit dieser Gabe.

Und dann hatte Jarod noch einen Freund. Naja, eigentlich eine Freundin, denn sie war ein Mädchen. Aber damit ihr ja nicht glaubt, dass Miss Parker und Jarod ein Liebespaar wären, sage ich lieber nicht „er hatte ein Freundin“.

 „Miss Parker“ nannte Jarod sie ehrfurchtsvoll, obwohl er auch ihren Vornamen kannte, denn sie war die Tochter des obersten, obersten Chefs des Centers. Im Gegensatz zu Jarod wohnte Miss Parker nicht im Center. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem großen, schönen Haus und dort beginnt unser Abenteuerbericht.

 

Ein Samstag, Juni 1994, Delaware, Blue Cove, Haus der Parkers

„Ich muss jetzt los, meine Kleine.“ Catherine Parker küsste ihrer Tochter, der 11-jährigen Miss Parker, zum Abschied die Stirn. Im Spiegel überprüfte sie noch einmal ihr dezentes Make-Up und strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht.

 „Mami, musst du wirklich weg?“, nörgelte Miss Parker.

„Ja, mein Schatz, ich muss meinen Flieger kriegen“, antwortete sie ihrem eigenen Spiegelbild. Dann nahm sie Blickkontakt zu ihrer Tochter im Spiegel auf und ihr Blick wurde ganz freundlich. „Was hast du heute vor?“

„Ich geh später zu Papa ins Center.“

Catherine drehte sich um und nahm ihren Koffer: „Vergiss nicht, das Geschirr zu spülen. Hab dich lieb.“

„Hm“, antwortete Miss Parker lustlos und öffnete ihrer Mutter die Tür. Mrs. Parker strich ihrer Tochter noch einmal über den Kopf und ging. Miss Parker lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, die mit einem leisen Klick ins Schloss fiel. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Das Geschirrspülen verschob sie auf später. Und dann hatte Miss Parker eine Idee.

 

Am Nachmittag kam Miss Parker erschöpft aber glücklich zurück. Sie setzte sich auf den Boden und zog kräftig an ihren Reiterstiefeln, bis sie sich von ihren Füßen lösten. Dann fummelte sie den Verschluss ihres Reiterhelms auf und pfefferte ihn in die Ecke. Durstig lief sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank und trank die Milch direkt aus der Verpackung. Sie setzte den Trinkkarton ab und blickte sich in ihrer Küche um. In dem sonst so ordentlichen Parker-Haus standen überall leere Weingläser, halbleere Käseplatten, Teller an denen Soße, Krümel und Speisereste klebten. Außerdem viele Tassen mit Kaffeerändern und Gläser (die meisten davon hatte Miss Parker selbst benutzt) mit Saftresten. Der gestrige Empfang hatte eindeutig seine Spuren hinterlassen.

Miss Parker sah auf die Uhr. Sie würde es auf keinen Fall bis 16 Uhr ins Center schaffen, wollte aber dennoch pünktlich sein, damit ihr Vater nicht auf sie warten musste. Sie würden gemeinsam wiederkommen und es wäre nicht gut, wenn ihr Vater sehen würde, dass sie das Chaos nicht beseitigt hatte.

Da fiel Miss Parker ein, wie sie das Geschirr reinigen und trotzdem pünktlich bei ihrem Vater sein konnte. Sie schloss die Kühlschranktür und lief in den Garten. Im Geräteschuppen begann sie hektisch Sachen hin und her zu räumen, bis sie fand, was sie suchte.

Eine Schubkarre.

Mit der lief sie ins Haus zurück. Sie hievte sie die beiden Stufen hinauf, durch den Hintereingang, der direkt in die Küche führte. In aller Eile kippte sie die Reste aus den Tassen und Gläsern in den Ausguss. Essensreste verschwanden im Müll. Dann stapelte Miss Parker das dreckige Geschirr nach und nach im Schubkarren. Die Zwischenräume stopfte sie mit Geschirrtüchern aus. Dann zog Miss Parker ihre Reitkleidung aus und tauschte sie gegen einen hübschen Rock und eine Bluse.

 

Auf der Straße zum Center

Klapper, klirr, klapper, klirr waren die Geräusche, mit denen Miss Parker voran zog. Das Haus der Parkers lag nicht weit vom Ortsausgang von Blue Cove entfernt. Ebenfalls nicht weit hinter dem Ortsausgang lag das Center.

 

Da das Center direkt am Meer lag, war es auf einen großen Deich gebaut. Diesen Deich schob Miss Parker ihren Geschirrtransport nun hinauf und schnaufte vor Anstrengung. Sie lief zum Lieferanteneingang und schob die Karre in den Lastenaufzug. Dann lief sie zum Haupteingang. Selbstbewusst bewegte sich Miss Parker durch die Lobby und fuhr mit dem Aufzug in die Führungsetage. Ihre digitale Armbanduhr zeigte 16:03 Uhr. Um nicht noch später zu kommen, rannte Miss Parker den Flur entlang und schwang die Flügeltüren zum Büro ihres Vaters auf.

 

Zu ihrer Enttäuschung war es leer. Aus ihrer Enttäuschung wurde schnell ein schlechtes Gewissen. Miss Parker setzte sich auf den ledernen Drehsessel, auf dem sie winzig wirkte und betrachtete die Fotos auf dem Schreibtisch ihres Vaters. Auf dem Foto waren Miss Parkers Mutter und Miss Parker als Baby in ihrem Arm. Sie betrachtete das freundliche und anerkennende Lächeln ihrer Mutter und dachte dann an ihren Vater, der das meiste, was Miss Parker tat, missbilligte. Aus Langeweile begann Miss Parker die Büroklammern ihres Vaters zusammenzuknüpfen. Da öffnete sich die Tür. Mr. Parkers überraschtes Gesicht verriet, dass er das Treffen mit seiner Tochter vergessen hatte.

„Engelchen! Was machst du denn hier?“

„Papa!“, antwortete Miss Parker empört und stand auf.

„Ach ja, ja, mein Engelchen, es tut mir leid. Du musst noch etwas auf mich warten, ich habe noch eine wichtige Besprechung.“

Hinter ihm tauchte Mr. Raines auf. Miss Parker konnte ihn nicht leiden. Er blickte immer alle so an, als würden sie nach Erbrochenem riechen, fand Miss Parker. Mit genau diesem verachtenden Blick sah er erst Miss Parker, dann Mr. Parker an und schob fragend die Augenbrauen nach oben.

 

Mr. Parker schob Mr. Raines aus dem Zimmer. „Kommen Sie, wir sprechen im Konferenzraum“. Miss Parkers Vater drehte sich noch einmal um: „Engelchen, mach deine Hausaufgaben und warte hier auf mich, ja?“ Dann fiel die Tür hinter ihm zu. Miss Parker ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und verschränkte trotzig die Arme. Mit ihren Beinen stieß sie sich ab und drehte einige heftige Runden auf dem Bürostuhl.

„Typisch“, ärgerte sie sich. Ihr Vater lebte in seiner eigenen Centerwelt. Für ihn gab es keine Samstage und Sonntage. Für ihn waren alle Tage gleich. Er wusste nicht mal, dass Miss Parker heute gar keine Schule gehabt hatte. Sie stoppte das Drehen und grinste. Vielleicht kam ihr die Arbeitswut ihres Vaters heute doch ganz recht. Miss Parker stand entschlossen auf und verließ das Büro.

 

 










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